# taz.de -- Buch über Russland nach Putin: Postsowjetische Dämonen | |
> In „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“ erzählt Sergei Lebedew | |
> von einem Russland nach Putin. Er setzt auf Vergangenheitsbewältigung. | |
Bild: In seinem neuen Buch erzählt Sergei Lebedew von den Wurzeln des russisch… | |
Von Geistern oder „Gespenstern“ ist bereits im Titel seines neuen Buchs die | |
Rede, und von postsowjetischen Dämonen erzählt auch [1][der Autor Sergei | |
Lebedew] sehr schnell, wenn man mit ihm ins Gespräch kommt. | |
Der 42-Jährige sitzt im Wollpullover am Stand seines Verlags während der | |
Frankfurter Buchmesse, es ist Ende Oktober, er redet ohne Punkt und Komma | |
über die Sowjetgeschichte, als wolle er selbst die | |
Vergangenheitsbewältigung gleich hier erledigen: „Über die Geister des | |
Tschekistenstaats und über die [2][verbrecherische Vergangenheit der | |
Sowjetunion] zu sprechen, wäre der erste Schritt, um eine Gegenwart und | |
eine Zukunft überhaupt möglich zu machen“, sagt Lebedew, „erst wenn die | |
Geister entzaubert sind, können sich die Dinge beruhigen, und es kann eine | |
neue Periode in Russland anbrechen.“ | |
Dafür aber, das weiß Lebedew selbst am besten, müsste erst einmal das | |
System Putin zusammenbrechen und davon ist man derzeit weit entfernt. Das | |
ist auch ein Grund, warum der Schriftsteller heute in Potsdam lebt. Seit | |
fünf Jahren ist er im Brandenburgischen zu Hause, er kam als Besucher, mit | |
den Jahren wurde er Exilant. Lebedew hat mehrere Romane verfasst, die | |
Russlands Kippen ins Totalitäre beschreiben, darunter „Menschen im August“ | |
(2015) [3][und „Das perfekte Gift“ (2021)]. | |
## Putin-Gegner | |
In seiner Heimat gilt Lebedew als prominenter Putin-Gegner. Kürzlich | |
erschien sein neuer Erzählungsband „Titan oder die Gespenster der | |
Vergangenheit“, elf Parabeln über die Geister Russlands und Belarus’. | |
Lebedew gräbt in diesen Geschichten aus, was das derzeitige Regime am | |
liebsten für immer verschüttet sähe. Im Vorwort schreibt der Autor, die | |
Archiv- und Ermittlungsakten des NKWD und KGB seien „vielleicht das | |
wichtigste und schrecklichste russische Werk des 20. Jahrhunderts“. Wie | |
diese (juristisch) unaufgearbeiteten Kapitel, wie das Verschweigen, diese | |
Art fortdauernde „Unfähigkeit zu trauern“ ([4][Alexander] und [5][Margarete | |
Mitscherlich]) sich auf die russische Gegenwart auswirken, dem spürt | |
Lebedew in seinen Erzählungen nach. | |
„Es ist eine Kette der Straflosigkeit, die bis ins Heute reicht“, erklärt | |
der Autor. „Sowjetische Verbrechen wurden nicht bestraft. Die Verbrechen | |
der frühen 90er Jahre wurden nicht bestraft. Und [6][während der Ära Putin] | |
wurde die Frage der Verantwortung für die Tschetschenienkriege nie | |
richtig angesprochen.“ | |
## Fehlende Erinnerungskultur | |
Die erste Erzählung „Abend eines Richters“ spielt die fehlende | |
Erinnerungskultur am Beispiel des Massakers von Katyń von 1940 durch. Dort | |
ereignete sich ein Massenmord durch das sowjetische Volkskommissariat für | |
innere Angelegenheiten (NKDW), mehr als 4.000 Gefangene wurden nahe der | |
Stadt Katyń erschossen und im Wald begraben, weitere an anderen Orten | |
ermordet. Richter Scheludkow, Protagonist in Lebedews Geschichte, bekommt | |
diesen Fall auf den Tisch. | |
Nachfahren der Toten fordern Entschädigungen, seine Aufgabe ist es zu | |
verschleiern, was geschah. „Er fällte ein absichtlich kompliziertes und | |
verwirrendes Urteil, bei dem unterm Strich herauskam, dass nur die | |
Geschädigten selbst einen Antrag auf Rehabilitierung hätten stellen | |
können“, heißt es in der Erzählung. Die Perfidie und den Zynismus, mit dem | |
die russische Justiz zuweilen vorgeht, treibt Lebedew hier auf die Spitze. | |
Er zeichnet zudem ein Psychogramm des Apparatschiks Scheludkow, erzählt | |
eine Anekdote aus dessen Kindheit nach. Sie zeigt, dass Verantwortung als | |
Wert gelernt werden muss. Und sie verweist darauf, dass das Wort | |
„Verantwortung“ bis heute ein Fremdwort für die russische Gesellschaft ist. | |
Die Erzählungen referieren oft auf reale Geschehnisse und Orte. In der | |
Titelerzählung „Titan“ geht es um die Verfolgung eines Künstlers, die | |
vielleicht zentrale Geschichte ist aber „Hell war die Nacht“, in der | |
Lebedew anhand dreier Orte – dem Kreml, der Lubjanka, der Datscha Stalins | |
in Kunzewo – den Spuk der Sowjetvergangenheit nachzeichnet – auf groteske | |
bis mystische Art und Weise. | |
Im Kreml trägt ein Geheimdienstler ausgerechnet einen Skarabäus spazieren, | |
einen Käfer, der im Ägyptischen als Glücksbringer, als Symbol für | |
Auferstehung und Leben steht. Im ehemaligen Hauptquartier des KGB und | |
heutigen Sitz des FSB, der Lubjanka, platzt ein Abwasserrohr, es ist aber | |
kein Geld da, um es zu reparieren („Na, da haben Sie uns ja eine Scheiße | |
untergejubelt, Genosse Schewkunow! Wegräumen! Abwaschen!“). | |
## Die Anwesenheit Stalins spüren | |
In Stalins einstiger Datscha übernachten verschiedene | |
(KGB-)Persönlichkeiten und spüren die Anwesenheit des toten „Hausherrn“. | |
Ein klug gewählter Ort für eine solche Erzählung: Schon kurz nach seinem | |
Amtsantritt soll Wladimir Putin einige Oligarchen wie etwa Sergei | |
Pugatschow ausgerechnet dort zu einem Treffen eingeladen haben – um Macht | |
zu demonstrieren. | |
Auch in die jüngere Gegenwart reichen einige Erzählungen. So spielt „19D“ | |
auf den Ryanair-Flug 4978 am 23. Mai 2021 an, auf dem [7][der | |
belarussische Blogger Roman Protassewitsch] durch eine erzwungene | |
Zwischenlandung in Minsk festgenommen wurde (ehe er später mutmaßlich | |
gefoltert wurde). | |
Lebedew wählt die Perspektive des fiktiven Co-Piloten, den der Lesende | |
zunächst beim Wandern im Troodos-Gebirge auf Zypern kennenlernt. Wie in | |
„19D“ gelingt es Lebedew oft, große Geschehnisse zu personalisieren, in | |
diesem Fall philosophiert der Protagonist über das In-der-Luft-Sein, es | |
wird fast eine kleine Abhandlung über das Fliegen daraus. Bis der Co-Pilot | |
in der weltpolitischen Realität hart landet: Sein Flug wird mit einer | |
erfundenen Bombendrohung zum Landen gezwungen. Die Sitznummer „19D“ steht | |
hier für den Passagier, dem dieses politische Manöver gilt. | |
## Keine Hochburg des Antifaschismus | |
Eines der großen Themen des Buchs ist es, „wie Russland, das immer | |
behauptet hat, die Hochburg des Antifaschismus zu sein, sich in etwas | |
verwandelt hat, das dem faschistischen Staat der Nazis sehr ähnlich ist“, | |
wie Lebedew sagt. Die Antwort: Ermöglicht wurde dies durch das Verdrängen | |
und Verschleiern des Gewesenen. | |
Nicht nur die Opfer der Russen, auch die Opfer auf der eigenen Seite | |
erhielten fortdauernd kein adäquates Gedenken, so Lebedew – zum Beispiel | |
die vielen tausend Toten, die durch die Gegenschläge der Tschetschenen nach | |
1994 starben. Heute dagegen verdränge man etwa, [8][dass Ukrainer:innen | |
noch vor Kurzem] ganz selbstverständlicher Teil des Moskowiter Alltags | |
waren. In der Gegenwart übt Lebedew Kritik an Intellektuellen und an der | |
Opposition. | |
Die wenigsten hätten verstanden, dass das ganze Denken von einer großen | |
russischen Kultur überwunden werden müsse. „In intellektuellen Kreisen wird | |
so getan, als sei alles nur Putins Schuld. Als hätte es jenseits von Putin | |
kein imperiales Russland, kein kolonialistisches Russland gegeben“, sagt | |
er. Dabei würden die Minderheiten, ob Tataren, Jakuten oder Burjaten, auch | |
von der Opposition an den Rand gedrängt, „anstatt einzuladen, anstatt ihnen | |
Platz und Stimme zu geben. Die russischen Intellektuellen versagen da in | |
ihrer Rolle als Intellektuelle.“ | |
Wenn man es so sieht, versteht man, was er meint, wenn er sagt, die | |
großrussischen Geister von gestern kämen nicht zur Ruhe. | |
25 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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