# taz.de -- Anthologie russischer Exilautoren: Nein zum Krieg und zur Zombie-Sp… | |
> Sergej Lebedew hat eine Anthologie neuer russischer Literatur | |
> herausgebracht. Sie zeigt, dass die versprengte Exilintelligenzija viel | |
> zu sagen hat. | |
Bild: Blumen nach der Beerdigung von Alexij Navalny: Wo sind die russischen Sti… | |
Heute ist die russische Sprache voll von toten Worten, von Mörder-Worten, | |
von Worten, die Hass und Feindschaft säen, von Lügen-Worten, von Worten der | |
Schande. Von Zombie-Worten.“ So schreibt der Autor [1][Sergej Lebedew] im | |
Vorwort des von ihm herausgegebenen Bandes „Nein!“, dessen Titel [2][gegen | |
den Krieg] anschreit, sich aber gleichzeitig auch als grundsätzlicher | |
Widerstand gegen die Kaperung der russischen Sprache durch eine | |
diktatorische, imperialistisch agierende Staatsmacht verstehen lässt. | |
Die Anthologie versammelt Texte, die sämtlich nach dem vollumfänglichen | |
Einmarsch Putins in die Ukraine im Jahr 2022 entstanden sind – die meisten | |
wurden im Exil verfasst. Ihre AutorInnen leben jetzt in Deutschland, | |
Georgien, Portugal, Tschechien, England, Israel, der Schweiz, den USA, der | |
Türkei, Schweden, Finnland … Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. | |
In diesem Sammelband wird schmerzhaft sichtbar, dass der größte Teil der | |
kritischen literarischen Öffentlichkeit Russland verlassen hat; häufig | |
unter großen persönlichen Opfern. In deutschsprachigen Medien hört man | |
allgemein recht wenig von diesen russischen Exilschicksalen, vor allem wenn | |
die Betroffenen im Westen bisher noch nicht sehr bekannt waren. Auf die | |
Mehrheit der AutorInnen dieser Anthologie trifft das zu. Drei Beiträge | |
werden unter Pseudonym veröffentlicht, denn offenbar harren ihre | |
UrheberInnen in Russland aus. | |
Bei der Lektüre wird auch deutlich, wie wenig wir eigentlich mitbekommen | |
von den gesellschaftlichen und privaten Verwerfungen, die der Krieg gegen | |
die Ukraine in Russland selbst anrichtet. Wer im Land lebt, kann sich nicht | |
gefahrlos kritisch äußern, und wer es ins Ausland geschafft hat, dessen | |
Stimme verliert sich in der Ferne. | |
## Große Bandbreite an Formen | |
Die literarische Bandbreite der in „Nein!“ versammelten Texte ist groß. | |
Nicht alles sind Prosastücke, auch Lyrik ist dabei und sogar Dramatik, zum | |
Beispiel der grandiose Einakter „Wanja lebt“ der Autorin Natalia Lizorkina, | |
der schon vorher in verschiedene Sprachen übersetzt worden ist und bereits | |
ein eigenes Leben auf westeuropäischen Theaterbühnen führt. | |
Unter den Prosatexten wiederum gibt es sowohl fiktionale Texte als auch | |
solche von autobiografischem (beziehungsweise autofiktionalem) Charakter. | |
Jana Kutschina erzählt in „Die Verliebten werden mich verstehen“ am eigenen | |
Beispiel vom prekären Leben gesellschaftlicher Minderheiten in Russland, | |
Rita Loginowa schreibt über ehrenamtliches Engagement in der Aidshilfe in | |
Sibirien, Lera Babizkaja vom Exildasein in Portugal und enger familiärer | |
Bindung nach Russland trotz entgegengesetzter politischer Ansichten. | |
In sehr vielen Texten, fiktional oder nicht, taucht dieses Motiv auf – die | |
Schwierigkeit, miteinander zu sprechen, die Unmöglichkeit, sich gegenseitig | |
zu verstehen, oft der Abbruch jeglicher Kommunikation. | |
Die wenigen im Land verbliebenen, unter Pseudonym schreibenden AutorInnen | |
verarbeiten das Leben in Russland nach Kriegsbeginn sehr eindrucksvoll. In | |
Boris Klads Erzählung „Ein Mittel gegen Alzheimer“ erleben wir eine absurde | |
Begebenheit aus dem heutigen Moskauer Alltag: Weil man allzu schnell | |
verhaftet werden kann, wenn man symbolisch Blumen an Denkmälern für | |
Ukrainer ablegt, fährt das Erzähler-Ich mit seiner alten Mutter auf einen | |
Friedhof, um anhand einer von Exilanten entwickelten App „ukrainische“ | |
Gräber aufzusuchen und dort Blumen zu verteilen – ein Erlebnis, das die | |
demente Mutter in überraschender Weise belebt. | |
## Kritischer Rückblick auf Russifizierung | |
Und in der surrealistisch-satirischen Erzählung eineR AutorIn mit dem | |
märchenhaften Namen Moroska Morosowa wird die russische [3][Märchenfigur | |
Baba Jaga] vor Gericht gestellt und in einen jener Glas-Schaukästen | |
gesteckt – wir kennen sie aus den Fernsehnachrichten –, in denen man aus | |
politischen Gründen Angeklagte während ihrer Prozesse ausstellt. | |
Es spricht sehr für den Herausgeber, dass er den Band mit zwei Texten | |
abschließen lässt, in denen die Sprach(en)frage sozusagen von der anderen | |
Seite betrachtet wird. Die in Udmurtien geborene Lena Beljajewa, die seit | |
dem Ukrainekrieg begonnen hat, „ihre Muttersprache Udmurtisch zu lernen“, | |
wie es in der biografischen Notiz heißt, führt in ihrem Dramenfragment | |
„Russisch als Fremdsprache“ leere Sprachhülsen ad absurdum. | |
Und die tartarische Autorin Dinara Rasuleva unterzieht in einem | |
autobiografischen Text die eigene Russifizierung einem kritischen Rückblick | |
und erzählt, wie sie erst als Erwachsene begann, ihre Muttersprache auch | |
als Schriftsprache zu entdecken, zu schätzen und in sich zu entwickeln. | |
Es ist eine wunderbare Paradoxie, dass dieses neuentdeckte Interesse für | |
die unterdrückten Sprachen des Vielvölkerstaats Russland von Putins | |
Einmarsch in die Ukraine so befeuert wird. Das könnte, falls die Tendenz | |
bestehen bleibt, immerhin bedeuten, dass dieser großangelegte Versuch, den | |
alten russischen Imperialismus gewaltsam wiederzubeleben, gleichzeitig für | |
den Abbau des kulturimperialistischen Denkens sorgt – zumindest bei einem | |
Teil der Bevölkerung. | |
Auch für die russische Sprache wäre es ja viel schöner, irgendwann in | |
Zukunft nicht mehr als Sprache ungeliebter Kolonisatoren wahrgenommen zu | |
werden. | |
3 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Autor-Sergej-Lebedew-ueber-Giftmorde/!5787843 | |
[2] /Gastbeitrag-zu-Putins-Kulturzerstoerung/!6072103 | |
[3] /Montags-Interview-mit-Nina-Korn-und-Katja-Popow/!5105018 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## TAGS | |
Literatur | |
Russland | |
Sprache | |
Exil | |
Wladimir Putin | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Literatur | |
Literaturbetrieb | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Russland | |
wochentaz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autor Lebedew über russische Opposition: „Russland muss dekolonisiert werden… | |
Der russische Autor Sergej Lebedew lebt im Exil in Deutschland. Im Gespräch | |
erklärt er, warum die russische Opposition ein schlechtes Bild abgibt. | |
Russischsprachige Buchmesse in Berlin: Im Netz der Sprache | |
Bei „Berlin Bebelplatz“ diskutiert die russischsprachige Literaturszene. | |
Das Event will dem Verbot von Büchern im heutigen Russland etwas | |
entgegensetzen. | |
Schriftstellerdasein: Wie Lotto spielen | |
In Leipzig diskutierten Schriftsteller*innen auf einer | |
„Betriebsversammlung“ die Lebensumstände von Schreibenden. | |
Regisseurin über „My Undesirable Friend“: „Es wird immer Menschen geben,… | |
Julia Loktev begleitete für eine Dokumentation unabhängige Journalistinnen | |
in Russland. Nach dem Angriff auf die Ukraine mussten ihre Protagonistinnen | |
das Land verlassen. | |
Russische Opposition nach Nawalnys Tod: Ist da noch jemand? | |
Vor einem Jahr ist Alexei Nawalny gestorben. Die Opposition lebt heute im | |
Exil oder im Untergrund – und ist total gespalten. Dem Kreml passt das gut. | |
Buch über Russland nach Putin: Postsowjetische Dämonen | |
In „Titan oder die Gespenster der Vergangenheit“ erzählt Sergei Lebedew von | |
einem Russland nach Putin. Er setzt auf Vergangenheitsbewältigung. |