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# taz.de -- Russische Opposition nach Nawalnys Tod: Ist da noch jemand?
> Vor einem Jahr ist Alexei Nawalny gestorben. Die Opposition lebt heute im
> Exil oder im Untergrund – und ist total gespalten. Dem Kreml passt das
> gut.
Bild: Starb vor einem Jahr in russischer Haft: Der Oppositionelle Alexei Nawalny
Moskau taz | Jemand hat Süßes mitgebracht. Ein paar Bonbons, ein Gebäck in
Bärchenform mit Kondensmilch als Füllung. Eine Plastikflasche Apfelsaft
steht daneben und eine Grabkerze. „Wir denken an dich“, hat jemand auf eine
Gummiente zwischen all den Plastikblumen und den Rosen, Nelken, Astern
geschrieben. „Du fehlst.“
An diesem Sonntag jährt sich der Tod des russischen Oppositionspolitikers
Alexei Nawalny zum ersten Mal. Ein Tod, so plötzlich und doch nicht
erwartet, in einer Strafkolonie hinterm Polarkreis. Eine Erschütterung mehr
in Zeiten voller Erschütterungen, seit Russland seine zerstörerischen
Truppen in die Ukraine schickt. Ein vom Regime herbeigeführter Tod, durch
zahlreiche absurde Urteile, durch Einzelhaft, durch Bestrafung und
Erniedrigung, durch Fernhalten von Ärzt*innen. Durch den geballten
menschenverachtenden Zynismus, der dem System Putin eigen ist.
Es war ein Tod, der vielen Russ*innen die Hoffnung nahm. Eine Hoffnung auf
das „wunderbare Russland der Zukunft“, die ihnen ihr Idol Nawalny – auch
hinter Gittern – mit einem Lächeln auf den Lippen immer wieder zu spenden
vermochte. Selbst, wenn sie nicht hinter allem standen, was Nawalny an
Ideen für Veränderungen im Land einbrachte. Und doch bleibt diese Hoffnung
bis heute in ihren Tränen. In ihren Blumen. Im Bärchengebäck auf Nawalnys
Grab auf dem unscheinbaren Friedhof im Moskauer Stadtteil Borissowo im
Südosten der Stadt.
Baulärm aus der Ferne dringt in die Stille. Eine getigerte Katze streift
zwischen den Gräbern umher. Ein paar junge Männer stehen am Grab, auf dem
ein Kranz aus Plastikblumen in den Farben der russischen Trikolore liegt.
„Wir kommen zum Atmen“, sagt einer von ihnen. Manchmal seien sie zu zweit
hier, manchmal zu sechst wie an diesem Februardonnerstag. „Wir können wenig
bewirken in diesem Land, ohne unser eigenes Leben zu gefährden, aber noch
können wir frei denken, zusammen trauern, zusammen wütend sein, zusammen
von einer Zukunft träumen, von der wir seit drei Jahren gar nicht recht
wissen, wie sie aussehen soll“, sagt er.
## Kameras am Friedhof
Die anderen schauen zu Boden. Einer nickt. Sie sind still, viel sagen
wollen sie nicht. Sie wissen, dass am Friedhof und um den Friedhof herum
Kameras hängen. Sie wissen, was Menschen in Russland blüht, die das Regime
kritisieren, egal weshalb. Sie könnten schnell zu „Extremisten“ erklärt
werden, sie könnten auch an die Front geschickt werden.
Das ist das, was der Gesprächigste von ihnen als „Luft abschnüren“
bezeichnet. „Wir stehen einfach hier und fühlen uns für einen kurzen
Augenblick so, wie wir sind, jeder für sich“, sagt er leise. Schon gehen
sie wieder ihrer Wege, machen einer Frau Platz am großen Schwarz-Weiß-Foto
Nawalnys. „Ewiges Gedenken“, steht auf dem Holzkreuz.
Am Eingang zu diesem Trauerort auf einer Moskauer Anhöhe sitzt ein Wachmann
in seinem Auto, auf dessen Scheibe das schwarz-orange Z prangt, der
Buchstabe, der die Unterstützung des russischen Kriegs in der Ukraine
symbolisiert. Nawalny hatte den Krieg aus der Haft heraus angeprangert.
[1][„Nein zum Krieg“, hatten seine Anhänger*innen bei seiner Beerdigung
am 1. März 2024 gerufen], einen in Russland verbotenen Satz, der die
Trauerfeier zu einer Kundgebung machte, einem friedlichen, traurigen
Abschied von einem Aufrechten, der für viele eine Projektionsfläche – für
Mut und auch Hass – geblieben war.
## Für vogelfrei erklärt
Mit dem Tod des Politikers starb auch die Bedeutung des Worts Opposition in
Russland, der Sinn dieses Worts. Denn niemand im Land, außer den
staatlichen Akteur*innen, darf sich in Russland an legaler Politik
beteiligen. Schlimmer noch: Alle, die das auch nur zu wagen versuchen,
werden von staatlichen Organen für vogelfrei erklärt und strafrechtlich
verfolgt.
Es gibt keine politische Opposition in Russland, es gibt lediglich einen
politischen Untergrund innerhalb Russlands oder politische
Emigrant*innen außerhalb Russlands. Dazu noch wenige, vor allem
ehemalige Lokalpolitiker*innen, die sich zivilgesellschaftlich
engagieren. Die meisten von ihnen gehen vor allem zu Gerichtsverhandlungen,
um den politisch Verfolgten das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein. Im
Kopf haben sie stets, dass es auch sie treffen könnte, dass auch sie sich
im Gerichtskäfig wiederfinden könnten.
Partisan*innen wählen andere Wege. Es sind auf der einen Seite solche,
die [2][Gleise, auf denen russische Militärtechnik unterwegs ist,
manipulieren], auf der anderen solche, die mit kurzen Sätzen à la „Warten
Sie auf den Frieden“ an den Ampeln und mit ähnlichen eher symbolischen
Aktionen auf die Lage im Land aufmerksam machen.
Und es sind politische Aktivist*innen, die überall auf der Welt nach
Möglichkeiten suchen, ein Russland nach Putin zu gestalten. Damit versuchen
sie auch, die Menschen quer durch Russland zu erreichen, auch wenn ihr
eigenes Land für viele von ihnen mittlerweile unerreichbar geworden ist,
weil hier ein Strafverfahren auf sie wartet. Die Gefängniszelle, der Tod.
## Gegenseitiger Hass
In der Diaspora haben sie zunächst damit zu kämpfen, selbst Fuß zu fassen.
Sich zu finden, ihre Rolle auszugestalten. In der Diaspora aber werden auch
die Meinungsverschiedenheiten über das, was ihre verlorene Heimat denn
falsch gemacht habe, was sie selbst falsch gemacht haben und wie all das
wiedergutzumachen sei, offensichtlich noch größer. Die Fehde wird vor allem
digital ausgetragen mittels Recherchen über die jeweils andere Gruppe. Wie
auch die russische Bevölkerung ist die ehemals russische Opposition
atomisiert – und findet sich in gegenseitigem Hass wieder.
Da ist die Gruppe rund um Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK, für die
ganz klar bereits der frühere Präsident Boris Jelzin und seine Oligarchen
für das Putin’sche Übel verantwortlich sind. Sie drehen Filme, die sie
„Verräter“ nennen, und treten selbst denen auf die Füße, die Nawalny und
seine Mitstreiter*innen grundsätzlich schätzen.
Da ist auch die Gruppe um den Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, der zehn
Jahre in russischen Strafkolonien verbrachte, bevor Putin ihn 2013 kurz vor
den Olympischen Spielen in Sotschi begnadigte und ins Ausland entließ. Aus
London operiert der einstige Ölmagnat mittels seines Medienunternehmens
und ist im Westen gut vernetzt.
Mit seinem Antikriegskomitee aus älteren Vertreter*innen der russischen
Opposition lädt er zu Konferenzen ein, die die „Nawalny-Gruppe“ jedes Mal
meidet. Chodorkowski ist in ihren Augen ein Verräter. Zudem soll sein
einstiger Partner, Leonid Newslin, für den Überfall auf den Ex-FBK-Chef
[3][Leonid Wolkow] verantwortlich sein. Wolkow war in seinem litauischen
Exil im März 2023 mit einem Hammer überfallen worden. Chodorkowski
verurteilte die Tat, distanzierte sich aber nicht von Newslin.
## Gegenseitiger Shitstorm
Im Clinch liegen die Nawalny-Leute auch mit dem ebenfalls ausgewanderten
Aktivisten Maxim Kaz. Wie so viele informiert dieser über seinen
erfolgreichen Youtube-Kanal über die Geschehnisse in Russland und der Welt.
Nun wollen die FBKler nachgewiesen haben, dass Kaz’ Ehefrau Gelder aus
russischen Staatsunternehmen annimmt. Finanziert sich Kaz also aus
schmutzigem Regimegeld? Der gegenseitige Shitstorm gewinnt in solchen
Situationen die Oberhand. Und gerade Regimekritiker*innen, die in
Russland geblieben sind, fragen sich, ob die Diaspora nichts Besseres zu
tun habe.
[4][Die beim Gefangenenaustausch im vergangenen August] freigekommenen
Oppositionspolitiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa versuchen sich
als einigende Kraft. Zusammen mit Nawalnys Ehefrau Julia betonen sie den
gemeinsamen Feind: Wladimir Putin. Eine Antikriegsdemo, die die
Andersdenkenden aus Russland vereinen sollte, hatten sie vor einigen
Monaten in Berlin bereits organisiert. Eine zweite soll am 1. März folgen.
Doch auch ihnen schlägt teils scharfe Kritik entgegen.
Einmal können sich die Gruppierungen nicht darüber einigen, ob denn die
russische Flagge bei solch einer Demonstration angebracht sei, einmal gar
nicht ausmachen, wer denn da alles mitlaufen solle. Zudem sind Forderungen
nach Waffenlieferungen und militärischer Unterstützung für die Ukraine
nicht Jaschins und Nawalnajas Sache.
So bleiben heftige Diskussionen über die Moral und über kollektive
Schuld, es bleiben Anschuldigungen und Kränkungen. Derweil baut der Kreml
weiter an der Imitation politischen Lebens in Russland.
15 Feb 2025
## LINKS
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[4] /Portraets-vier-Befreiter/!6024900
## AUTOREN
Inna Hartwich
## TAGS
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