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# taz.de -- Dissident Lukaschewski über Russland: „Die Kriegsmüdigkeit nimm…
> Am 17. März will Putin sich im Amt bestätigen lassen. Dissident Sergei
> Lukaschewski über Alexei Nawalnys Tod und kleine Akte des Widerstands.
Bild: Ein Selfie vor den Trauernden: Bei Alexei Nawalnys Beerdigung am 1. März…
wochentaz: Herr Lukaschewski, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die
Bilder von der [1][Beerdigung Alexei Nawalnys] gesehen haben?
Sergei Lukaschewski: Ich denke an den tragischen Weg, den Russland und
seine Gesellschaft in den letzten 35 Jahren genommen hat. 1989 wurde der
Dissident und Friedensnobelpreisträger [2][Andrei Sacharow] begraben. Eine
riesige Menschenmenge folgte damals seinem Sarg durch die Straßen Moskaus.
Auf Sacharows Sarg folgte die Freiheit. Am vergangenen Wochenende haben wir
ebenfalls Tausende von Menschen gesehen. Sie sind gekommen, um Alexei
Nawalny zu verabschieden – einen Mann, der nicht nur ein politischer
Führer, sondern auch eine moralische Autorität war. Die Behörden haben es
nicht gewagt, diese Menschen aufzuhalten. Aber dieser Geist einer
Unvermeidlichkeit des Wandels ist nicht vorhanden. Nawalnys Tod ist die
einzige Gelegenheit für Putins Gegner, öffentlich zusammenzukommen und zu
zeigen, dass sie existieren. Das gibt uns Hoffnung. Ein gigantischer
Unterschied zur Hoffnung 1989 ist es trotzdem. Obwohl das totalitäre Regime
mit allen seinen Strukturen damals formal noch existierte.
Das zu sehen, schmerzt …
Ja, das tut weh – ein Land, eine Heimat, die sich in einen Polizeistaat
verwandelt hat, in dem es kaum möglich ist, sich von einer Persönlichkeit
des öffentlichen Lebens, die Orientierung gegeben hat, zu verabschieden.
Das ist ein trauriges Bild, das Niedergeschlagenheit hervorruft. Aber
gleichzeitig liegt darin auch etwas Tröstliches: Alexei ist gestorben, aber
er wird bleiben. Er wird nun von einem aktiven Politiker zu einem Symbol
des Widerstands. In Russland hat es nie eine echte Demokratie gegeben, aber
eine 100-jährige Tradition des Widerstands gegen den Autoritarismus. Dieser
Widerstand hat immer Helden hervorgebracht, die ihr Leben geopfert haben,
um ihre Ideale zu verteidigen.
Wie ist es zur jüngeren autoritären Entwicklung gekommen?
Wie in allen Ländern im postkommunistischen Übergang kam es auch hier zum
Zusammenbruch der Wirtschaft und des Sozialsystems. Die Menschen waren
enttäuscht, dass die demokratischen Veränderungen unter Boris Jelzin für
sie nicht zu echten Verbesserungen ihres Lebens führten. Dabei waren die
positiven Veränderungen in den 2000er Jahren eine Folge der
Wirtschaftsreformen in den 90er Jahren. Für die Menschen fiel diese Zeit
jedoch mit dem Amtsantritt Wladimir Putins zusammen. Und so war ihre Logik:
Unter Jelzin herrschte Chaos, jetzt ist ein starker Führer gekommen. Damals
lagen meine Hoffnungen noch darauf, dass Russland Teil der internationalen
Gemeinschaft werden würde. Es gibt ja internationale Institutionen und
Vereinbarungen, wie zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention.
In Russland schien trotz allem noch der Wunsch zu bestehen, vielleicht
nicht zur westlichen Welt dazuzugehören, aber zumindest eine beständige
Beziehung zu ihr aufzubauen. Aber es stellte sich heraus, dass diese
internationalen Institutionen sehr schwach sind.
Aus Umfragen geht hervor, dass die überwiegende Mehrheit der Russ*innen
immer noch das Regime unterstützt. Wie erklären Sie das?
Da muss man differenzieren. Wenn die Leute jetzt gefragt würden: Würden Sie
Putin wählen, wenn es einen anderen Kandidaten gäbe? Selbst unter den
Bedingungen der heutigen Propaganda würden sich 45 Prozent für einen
alternativen Kandidaten entscheiden. Deshalb hatten die Behörden ja auch
solche Angst vor Nawalny. Nicht, weil er eine akute Bedrohung für sie
darstellte, sondern weil er möglicherweise der Alternativkandidat war, dem
eine Mehrheit gefolgt wäre. Die Menschen haben Putin satt, sie sind
unglücklich. Gleichzeitig sind sie von Ängsten vor einer Revolution
getrieben, wie dem Maidan in der Ukraine. Und: Viele haben nichts außer dem
Bewusstsein, dass ihr Staat wieder groß und stark ist.
Aber dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mehrheitlich Zustimmung
bekommt, ist doch unstrittig, oder?
Es gibt in Russland wirklich radikal militaristisch gesinnte Menschen, aber
das sind höchstens 30 Prozent. Die meisten von ihnen gehören zur älteren
Generation, die durch den Zusammenbruch der 90er Jahre traumatisiert wurde
und nun das Gefühl hat, dass sie etwas zurückgewinnt. Das ist die Rache
einer Generation, die in ihrem Leben viele Brüche erlebt hat. Wenn man sich
jedoch Umfragen unter den 18- bis 30-Jährigen anschaut, dann würde jemand
wie der Politiker [3][Boris Nadeschdin, der sich gegen den Krieg ausspricht
und nicht für die Präsidentenwahl im März zugelassen wird], eine Mehrheit
von mehr als 50 Prozent bekommen. Das heißt, junge Menschen wollen keinen
Krieg. Bei denjenigen, die sich nicht aktiv gegen den Krieg positionieren,
kann das verschiedene Gründe haben: Angst, patriotische Vorstellungen, der
Glaube, seinem Land gegenüber gerade jetzt besonders loyal sein zu müssen.
Aber das sind keine Menschen mit glänzenden Augen, die alle Ukrainer
töten wollen. Dennoch sind sie zu Komplizen geworden in diesem Krieg –
gezwungenermaßen.
Jetzt nach dem Tod Nawalnys stellt sich die Frage: Wo steht die politische
Opposition heute?
Im Großen und Ganzen gibt es in Russland derzeit keine politische
Opposition. Denn jeder, der Putin direkt politisch herausfordert, muss
seine Stimme erheben. Zum Beispiel, worin er mit Putin nicht übereinstimmt.
Das ist der direkte Weg ins Gefängnis. Politisches Handeln ist in Russland
möglich, öffentlicher politischer Widerstand jedoch nicht. Das Gleiche gilt
auch für die Zivilgesellschaft. Alle sichtbaren Strukturen werden nach und
nach zerstört. Was bleibt, sind Verbindungen und Netzwerke, halb im
Untergrund. All das existiert und funktioniert und das wird auch weiterhin
funktionieren. Es bleibt auch die moralische Opposition – Leute, die in
Haft sind, wie Nawalny es war. [4][Ilja Jaschin] etwa, Oppositionspolitiker
der Bewegung Solidarnost, oder [5][Oleg Orlow], Menschenrechtsaktivist und
Leiter des Rechtszentrums der Menschenrechtsorganisation Memorial.
Wie kann diese moralische Opposition Einfluss nehmen?
Durch ihr eigenes Beispiel, aber das ist nicht wortwörtlich zu verstehen.
Die Stärke ihres Einflusses bemisst sich nicht an der Zahl der Menschen,
die wie Nawalny oder Orlow ins Gefängnis kommen. Widerstand zeigt sich auf
vielen anderen Ebenen. Die Mutigsten gehen auf die Straße, protestieren und
landen höchstwahrscheinlich im Gefängnis. Aber es gibt auch Menschen, die
im Verborgenen ukrainischen Flüchtlingen und politischen Gefangenen helfen.
Das alles erfordert Mut. Die Logik dabei ist: Alexei ist ins Gefängnis
gegangen – ich bin nicht bereit dazu. Aber etwas muss ich tun. In diesem
Sinne ist ihr Einfluss nicht zu unterschätzen.
Welche Strategie sollte die Opposition verfolgen?
Wir müssen langfristig denken. Und dabei besteht die Aufgabe der
Opposition, aller humanitären, zivilgesellschaftlichen und politischen
Organisationen darin, dieses Regime auf alle möglichen Arten zu
delegitimieren.
Können Sie Beispiele nennen?
Nawalny hat das getan, indem er [6][Filme über die Paläste und Jachten der
Eliten öffentlich gemacht hat]. Es geht darum, den Mythos der Staatsmacht
zu entzaubern. Der basiert darauf, dass sie ja so viel für die Menschen in
Russland tut. Manchmal sind es auch ganz kleine Geschichten. Zum Beispiel
ein Mädchen, das wegen seiner Regenbogen-Ohrringe festgenommen wird, weil
es damit die Symbole der sogenannten extremistischen LGBTQ-Bewegung
verbreitet. Es gibt einen Ort in Russland, wo Symphoniekonzerte organisiert
werden, aber dann die Musik ukrainischer Komponisten gespielt wird. Das
alles sind Formen des Widerstands.
Sie leben im Exil. Was können Sie aus der Entfernung für Russland tun?
Ich sehe meine Mission darin, für die Menschen in Russland zu arbeiten. Ich
möchte, dass die Tradition des russischen Freidenkertums, des Widerstands
gegen Totalitarismus, Autoritarismus und Diktatur, nicht abreißt. Damit
junge Menschen trotz staatlicher Propaganda wissen, was Menschenrechte
sind, dass es in Russland eine sehr lange Tradition gibt, Menschen zu
verteidigen, und dass auch im heutigen Russland viel für den Schutz dieser
Werte getan werden kann. Mein Eindruck ist: Stimmen wie meine werden in
Russland gelesen und gehört.
Wie lange wird der Krieg gegen die Ukraine Ihrer Meinung nach noch dauern?
Wohl noch einige Jahre. Die Situation ist an einem Punkt angelangt, an dem
beide Seiten glauben, die Ressourcen zu haben, um ihn fortzusetzen. Sie
sind nicht bereit, Zugeständnisse zu machen. Ich würde mir wünschen, dass
Putin seine Meinung ändert, oder dass in Russland etwas passiert. Dafür
sehe ich leider keine Anzeichen. Es geht hier nicht nur um eine
Konfrontation zwischen Geld und der Anzahl von Geschossen, sondern auch um
eine Konfrontation moralischer Ressourcen, der Fähigkeit der Gesellschaft,
mit dieser Situation zu leben. In Russland nimmt die Kriegsmüdigkeit zu.
Daher ist es von grundlegender Bedeutung, ob die Ukraine über genügend
Ressourcen verfügt, um zu bestehen. Das heißt, dass sie entsprechende
Unterstützung erhalten muss, die das gewährleistet.
Werden die Repressionen nach der Präsidentenwahl im März schlimmer werden?
Unabhängig von den Wahlen werden sich die Repressionen mit Sicherheit
verschärfen. Auch die Grausamkeit der Unterdrückung wird zunehmen. Diese
Grausamkeit wird mit den Methoden unter Stalin vergleichbar sein.
7 Mar 2024
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## AUTOREN
Barbara Oertel
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