# taz.de -- Essay über Ukraine und EU: Europa und die koloniale Mentalität | |
> Der Widerstand der Ukrainer gegen Russland spricht gegen das Prinzip | |
> sogenannter „Einflusssphären“. Die EU muss ihr koloniales Denken | |
> überdenken. | |
Bild: Friedhof mit im Kampf gegen Russland gefallenen Ukrainer:innen in der Nä… | |
Nach anderthalb Jahren des Widerstands gegen die russische Invasion zeigt | |
die Ukraine keine Absicht, mit dem Aggressor zu verhandeln. Die | |
Entschlossenheit der ukrainischen Streitkräfte bei der Verteidigung der | |
Souveränität und territorialen Integrität des Landes ist ungebrochen. | |
Dabei profitieren sie von der [1][einmütigen Unterstützung der | |
Gesellschaft] und der Rückendeckung durch eine weitgehend geschlossene | |
politische Elite. Alle Kräfte des Landes, von der Zivilgesellschaft über | |
die Wirtschaft bis zu Schule und Universität, sind darauf ausgerichtet, | |
sich Russlands Eroberungsplänen zu widersetzen. | |
Sicherlich hat der globale Westen dabei eine Rolle gespielt. Aber in diesem | |
Krieg ist es die Ukraine, welche die Ziele festgelegt hat; der Westen hat | |
lediglich reagiert. Die Ukraine hat ihre Handlungsfähigkeit behauptet; | |
Europa und seine Verbündeten haben beschlossen, das überfallene Land zu | |
unterstützen. Dies beinhaltet finanzielle, politische und militärische | |
Hilfe. Eine andere Entscheidung hätte Europas Selbstbeschädigung in seinen | |
Beziehungen zu Russland nur weiter verschlimmert. | |
Die Gründe für Europas Entscheidung gingen über die Notwendigkeit hinaus, | |
seine Ostflanke zu sichern. Nach der anfänglichen Verwirrung haben Europa | |
und die Ukraine ihre politischen Interessen aufeinander abgestimmt: Weder | |
darf Russland seine imperialistische Agenda verwirklichen noch einen | |
Präzedenzfall für andere autoritäre Regime schaffen. Die Ukraine hat die | |
Ost-West-Spaltung bis an seine Grenze zu Russland verschoben. | |
## Eine obsolete Haltung | |
Die Zeit der Pufferzone zwischen der Nato und Russland ist vorbei. In | |
dieser Utopie des politischen Realismus galten „Puffer“-Länder oder „kle… | |
Staaten“ als zu verworren in ihrer Identität, um klare Bestrebungen zu | |
haben, die das „Gleichgewicht der Großmächte“ herausfordern würden. Die | |
Haltung der Ukraine in diesem Krieg hat dieses Szenario obsolet gemacht. In | |
der Folge bekamen das postkoloniale Europa und die Vereinigten Staaten die | |
Macht kleinerer Länder zu spüren. | |
Indem Europa den Kampf der Ukraine um Souveränität und Unabhängigkeit nicht | |
länger ignoriert, hat es seine Bereitschaft gezeigt, das Prinzip der | |
„Einflusssphären“ aufzugeben, das es dazu gebracht hatte, vor den | |
„Sicherheitsbedenken“ Russlands zu kapitulieren. Westeuropa hält | |
„Großmachtansprüche“ nicht mehr für legitim – eine Ansicht, welche die | |
Länder Mittel- und Osteuropas nie geteilt haben. Die Ukraine hat Europa | |
nicht nur gezwungen, sich den heutigen Sicherheitsanforderungen anzupassen, | |
sondern auch, seine Dekolonisierungsagenda zu beschleunigen. | |
Die Diskussion ist nun ein paar Schritte weiter als im Jahr 2003, als | |
[2][Jürgen Habermas] und [3][Jacques Derrida] eine Überwindung der | |
kolonialen Machttendenzen Europas forderten. Doch von einer vollständigen | |
Transformation ist es noch weit entfernt. Europa existiert, aber eine klare | |
transnationale europäische Identität ist noch nicht entstanden. | |
Darüber hinaus erfordert die Anpassung der EU nicht nur, den Krieg, sondern | |
auch den Frieden zu gewinnen, das heißt, die langfristigen Investitionen | |
der EU und der USA in den demokratischen Wiederaufbau der Ukraine nach dem | |
Krieg zu sichern. Um den politischen Raum für eine engere Zusammenarbeit | |
mit der Ukraine zu schaffen, muss die EU noch mutigere Schritte in Richtung | |
einer Abkehr von Eurozentrismus und Machthierarchien in der Außenpolitik | |
unternehmen. | |
## Anpassung und Selbstreflexion | |
Anpassung bedeutet auch, den EU-Erweiterungsprozess zu überarbeiten, um die | |
Ukraine, die Republik Moldau, Georgien und die Länder des westlichen | |
Balkans von Anfang an in die Entscheidungsfindung der EU einzubeziehen. Und | |
sie muss mit Selbstreflexion einhergehen, um zu verstehen, warum der | |
Globale Süden und der Globale Osten dem Kampf der Ukraine um Souveränität | |
und Unabhängigkeit nicht wohlwollend gegenüberstehen. | |
Großstrategien, die von Pufferzonen und Einflusssphären ausgehen und die | |
Handlungsmacht kleiner Länder den nationalen Interessen der Großmächte | |
unterordnen, sind Teil des imperialistischen oder kolonialen Erbes. Diese | |
Art von Diskurs verwendet und versteht Russland. Als die Ukraine, Moldau, | |
Georgien und zuletzt Belarus zunehmend Interesse an einer demokratischen, | |
europäischen und von der Nato geschützten Zukunft zeigten, zeigte Russland | |
„Sicherheitsbedenken“. | |
Diese Bedenken waren unbegründet. Der Globale Westen war keine Bedrohung | |
für Russland. Im Gegenteil, europäische Mächte wie Deutschland und das | |
Vereinigte Königreich waren seine Geschäftspartner. Während der gesamten | |
1990er Jahre war Russland auch ein Partner der Nato. Doch das Lauterwerden | |
der demokratischen Forderungen in den Nachbarländern schuf einen | |
Präzedenzfall, der Wladimir Putin und sein autoritäres Regime bedrohte. | |
Die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs trugen den Bedenken | |
Russlands Rechnung und hielten die östliche Nachbarschaft auf Distanz. | |
Gelegentlich deuteten die EU und die Nato eine Politik der offenen Tür | |
gegenüber diesen Ländern an und feierten rhetorisch die Bemühungen um | |
Handlungsfähigkeit und Demokratisierung, ließen aber nie Taten folgen. Erst | |
jetzt, mit ihrer Entschlossenheit, Russland zu bekämpfen, hat die Ukraine | |
ihren Status als Stützpfeiler des Pufferzonensystems endgültig beendet. | |
## Entscheidung für Europa | |
Die ukrainische Gesellschaft befindet sich heute auf einem Weg der | |
schnellen Transformation. Die Ukrainer*innen entscheiden sich für die | |
europäische Identität, die Habermas und Derrida gefordert hatten. Jetzt | |
ist es an der Zeit, dass Europa sich mit den Ukrainer*innen | |
identifiziert und auf den Ruf der Ukraine nach einem Beitritt antwortet. | |
Diese Entscheidung mag dem pazifistischen Argument von Habermas und Derrida | |
im Zusammenhang mit der Irak-Invasion widersprechen. Aber es steht im | |
Einklang mit ihrer übergreifenden Botschaft. Sollte Europa beschließen, | |
dass eine freie und intakte Ukraine nicht mehr in seinem Interesse liegt, | |
und aufhören, sich an der Schaffung eines Umfelds zu beteiligen, in dem die | |
Ukraine ihre Ziele erreichen kann, wird das Land den Krieg verlieren. | |
Das Ergebnis wird nicht eine fügsame Bevölkerung sein, die bereit ist, ihre | |
Souveränität im Tausch gegen ihre persönliche Sicherheit aufzugeben. | |
Vielmehr wird ein schwer bewaffnetes und kriegsgestähltes Land im sozialen | |
und politischen Chaos versinken. In diesem Szenario gewinnt Russland, und | |
Europa verliert. | |
Aber den Krieg zu gewinnen ist nicht genug. Um den Frieden zu gewinnen, | |
muss Europa seine außenpolitische Agenda der Dekolonisierung verstärken und | |
die Existenz einer internationalen Hackordnung ablehnen. Es muss seinen | |
Fehler eingestehen, die Theorie der „Einflusssphären“ akzeptiert zu haben, | |
und seine geopolitische Rolle neu definieren. | |
## Revision der Erweiterungspolitik | |
Eine Revision der Erweiterungspolitik ist für diese Agenda von | |
grundlegender Bedeutung. Die jahrelange (unzureichende) Hilfe für die | |
Republik Moldau, die Ukraine und die westlichen Balkanländer hat gezeigt, | |
dass finanzielle Unterstützung kein Katalysator für Veränderungen ist. Die | |
Beitrittskandidaten müssen als gleichberechtigte Partner behandelt und von | |
Beginn der Beitrittsverhandlungen an in die Entscheidungsfindung und die | |
Gesetzgebung der EU einbezogen werden. | |
Die neutrale oder antiwestliche Haltung der Länder des Globalen Südens im | |
Russland-Ukraine-Krieg ist ein weiterer Aufruf an die Europäer, ihr | |
kolonialistisches Weltbild zu überdenken, ihre Fehler einzugestehen und | |
ihre Absichten besser zu erklären. | |
Auch wenn der Begriff „Globaler Süden“ die Vielfalt der unter ihm | |
subsumierten Länder nicht erfasst, teilen die meisten von ihnen eine | |
distanzierte Position zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Sie | |
weigern sich, Partei zu ergreifen, und werfen dem Westen sogar vor, sich | |
wieder einmal zu weit vorgewagt zu haben. | |
Laut Umfragen sind über 60 Prozent der Weltbevölkerung entweder neutral | |
oder Russland zugeneigt. Diese Meinungen sind vor allem in den Ländern | |
Lateinamerikas, Afrikas und Asiens zu finden. Kein Land aus Afrika oder | |
Lateinamerika hat Sanktionen gegen Russland verhängt. Der Westen wird | |
zunehmend isoliert. | |
## Eine Reihe von Fehlinformationen | |
Dies ist jedoch nicht nur das Ergebnis eines historischen Misstrauens | |
gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Es ist auch auf | |
europäische und amerikanische Fehlinformationen und proimperialistische | |
Apologetik zurückzuführen. | |
Das Narrativ, die EU und die Nato hätten sich zu weit in die russische | |
„Einflusssphäre“ ausgedehnt, wurde von Persönlichkeiten des öffentlichen | |
Lebens und Entscheidungsträgern im Westen verbreitet, die an der kolonialen | |
Weltsicht festhalten, wonach die Rechte und nationalen Interessen der | |
„Großmächte“ über denen der „kleinen Staaten“ stehen. | |
Um dem Einfluss solcher Narrative entgegenzuwirken, sollte Europa | |
umfassende wirtschaftliche und diplomatische Ressourcen in die Information | |
und Einbeziehung der führenden Politiker*innen und der Öffentlichkeit | |
des Globalen Südens in seine Entscheidungsfindung investieren. Auf diese | |
Weise würde Europa zeigen, dass es die Handlungsfähigkeit von Staaten, die | |
es zuvor als subalterne „kleine Nation“ behandelt hatte, nicht länger | |
ignoriert. | |
## Der Globale Süden | |
Anstatt sich in einer Position der Kontrolle zu wähnen, sollte der Westen | |
vor einem globalen Publikum anerkennen, dass die Ukrainer*innen seit | |
Jahrzehnten allein für ihre Unabhängigkeit von der russischen Einmischung | |
kämpfen, ohne Unterstützung durch die EU oder die Nato. | |
Der Westen sollte auch akzeptieren, dass die Länder des Globalen Südens so | |
lange berechtigte Bedenken haben, sich einer vom Westen geführten globalen | |
Ordnung anzuschließen, wie diese nicht die Sicherheits- und | |
Wirtschaftsbelange der Entwicklungsländer einbezieht. Eine erfolgreiche | |
europäische Außenpolitik würde den Globalen Süden ermutigen, den Westen für | |
seine mangelnde Offenheit gegenüber den Bitten der Ukraine um Unterstützung | |
und Inklusion vor der Invasion 2022 zur Rechenschaft zu ziehen. | |
Es sollte allen Entscheidungsträger*innen klar sein, dass sich die | |
Ukrainer*innen darauf vorbereiten, den Krieg zu gewinnen. Um diesen Sieg | |
zu erringen, werden sie tun, was sie für richtig halten, solange sie | |
können, nach bestem militärischen und politischen Vermögen. | |
Dies bedeutet eine entschlossene Ablehnung jeglicher Verhandlungen. Jede | |
Sichtweise, die die Forderung der Ukraine nicht als gerecht anerkennt und | |
nicht versteht, welche Schuld der Westen gegenüber den Nationen auf sich | |
geladen hat, die er seit Langem als klein und entbehrlich ansieht, bleibt | |
der kolonialen Agenda verhaftet. | |
## Postkoloniales Europa | |
Die postkoloniale Zukunft Europas wird davon abhängen, wie es sich verhält | |
und wie es selbst aus dem Kampf um die Ukraine hervorgeht. Der Ausgang | |
dieses Kampfs wird sich nicht nur an der Ostfront entscheiden. Es wird auch | |
ein Kampf um den Frieden in der Ukraine sein. | |
Europa hat keine Wahl: Es muss auf die Forderung der Ukraine, ihren | |
demokratischen Wiederaufbau nach dem Krieg zu unterstützen, antworten. | |
Enttäuscht Europa die Ukraine, würde dies bedeuten, dass es seinen | |
aufkeimenden Widerstand gegen die eigenen und fremden imperialistischen | |
Tendenzen aufgegeben hat. Die Unabhängigkeit, die Souveränität, die | |
Demokratie und die Nachkriegsstabilität der Ukraine liegen in den Händen | |
Europas. | |
[4][Dieser Essay ist eine gekürzte Fassung des Originalessays.] | |
Europäische Intellektuelle fragen in der Serie [5][„Lehren des Krieges“,] | |
initiiert von den Eurozine-Mitbegründern Carl Henrik Fredriksson und Klaus | |
Nellen, was Russlands Invasion der Ukraine für die Zukunft Europas | |
bedeutet. Die taz druckt ausgewählte Beiträge ab. | |
© Eurozine und Voxeurop | |
5 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Historiker-ueber-Geschichte-der-Ukraine/!5881389 | |
[2] /Beim-Deutsch-Franzoesischen-Medienpreis/!5519317 | |
[3] /Zum-Geburtstag-von-Jacques-Derrida/!5063287 | |
[4] https://www.eurozine.com/the-power-of-smaller-countries/ | |
[5] https://www.eurozine.com/lessons-of-war/ | |
## AUTOREN | |
Veronica Anghel | |
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