| # taz.de -- Kriegsfotografie aus der Ukraine: Im Leiden anderer erstarren | |
| > Die Wanderausstellung „Russian War Crimes“ gibt Einblick in ein | |
| > kriegsgebeuteltes Land. Zu sehen ist sie derzeit in der Berliner | |
| > Humboldt-Universität. | |
| Bild: Den Krieg betrachten, wie geht das? | |
| Es war der Krimkrieg, der zum ersten Mal Bilder von der Front bis in die | |
| heimischen Wohnzimmer transportierte. 1855, das Russische Reich kämpfte | |
| gegen Frankreich, Großbritannien, das Osmanische Reich und | |
| Sardinien-Piemont auf der Halbinsel im Schwarzen Meer, gilt als das | |
| Geburtsjahr der Kriegsfotografie. Auf den Bildern des britischen Fotografen | |
| Roger Fenton ist gemäß dem damaligen Stand der Technik kaum Bewegung zu | |
| sehen: Seine Porträts von Soldaten und Abbilder zerstörter Landschaften | |
| sind bis heute überliefert. Die Fotoausrüstung war so schwer, dass sie auf | |
| einem eigenen Wagen transportiert werden musste. | |
| 170 Jahre später herrscht wieder Krieg auf der Krim. Fotoapparate passen | |
| heute in jede Handfläche und der Ukrainekrieg ist der am besten | |
| dokumentierte Krieg überhaupt. Aus jeder Stadt, aus jeder Gemeinde | |
| erreichen uns Bilder von zerstörten Straßen, von getöteten Menschen, die | |
| russischen Angriffen zum Opfer fielen. | |
| [1][Für uns seien diese Bilder nur Bilder], sagt Julia von Blumenthal, „für | |
| die Ukrainer:innen ist es Alltag“. Die Präsidentin der | |
| Humboldt-Universität eröffnete am Montagabend die im Universitätsfoyer zu | |
| sehende Ausstellung „Russian War Crimes“. Es sind Bilder großer Zerstörun… | |
| die die durch Europa wandernde Ausstellung zeigt. Krankenhäuser, Kirchen, | |
| Landmarken und Wohnhäuser kehren, von Raketen getroffen, ihr Innerstes nach | |
| außen, wie auf dem Foto von Jewgeni Maloletka. Darauf verschwinden die | |
| behelmten Rettungskräfte in einer Wolke aus Schutt und Staub. Die Frage, | |
| was Material ist und was Mensch, lässt sich nur mit Mühe beantworten. | |
| Es sind auch verstörende Bilder unter den ausgestellten. Die Grenze zur | |
| Pietätlosigkeit wird dabei jedoch meist nicht überschritten; das Foto eines | |
| in einem schwarzen Sack verpackten Körpers, aus dem eine unaussprechlich | |
| weiße Hand ragt, verlangt nicht noch nach Blutflecken. | |
| Was nicht gezeigt wird | |
| Es ist schwer, sich mit Kriegsfotografie zu befassen, ohne nicht zumindest | |
| kurz an [2][Susan Sontag] zu denken. Als sie 2003 in „Das Leiden anderer | |
| betrachten“ über die Macht der Bilder schrieb, thematisierte sie das | |
| abstumpfende Moment, das Kriegsfotografien in Konfrontation mit dem hilflos | |
| passiv verbleibenden Betrachter entwickeln könnten. Es sind jedoch | |
| vielleicht gerade die Bilder, die nicht gezeigt werden, die einem | |
| Abstumpfen entgegenwirken. Getötete Kinder sind in der Ausstellung in | |
| Berlin nicht zu sehen. | |
| Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Katrin Göring-Eckardt | |
| (Grüne), war während des Kriegs in der Ukraine unterwegs. Sie erzählt bei | |
| der Ausstellungseröffnung auch [3][von Butscha], das Symbol für die | |
| Brutalität Russlands und doch „nur ein Ort unter vielen“ sei. | |
| Von der Unmittelbarkeit, mit der der Tod über eine Ortschaft kommt, zeugt | |
| ein Foto Maxim Dondjuks. In Tschernihiw mussten die Toten wegen andauernden | |
| Beschusses in Eile begraben werden. In langen Gräben angeordnet weisen | |
| kleine Holzschilder den darunterliegenden Körpern ihre Namen zu. Es | |
| erinnert mehr an Gemüseschilder als an einen tatsächlichen Friedhof, auf | |
| dem getrauert werden kann. | |
| Die Zahlen, die eingangs der Ausstellung stehen und täglich angepasst | |
| werden müssten, kann man sich kaum bewusst machen. Beinahe 11.000 getötete | |
| Zivilisten werden dort vermeldet, über 16.000 verletzte. Es gilt weiterhin, | |
| was der Philosoph Günter Anders einmal angesichts unvorstellbarer | |
| Opferzahlen sagte: „Zehn Tote konnte man noch vor sich sehen als Bild, aber | |
| dem konnte man emotional schon nicht mehr nachkommen. Hundert Tote sind | |
| schon beinahe eine Ziffer. Tausend Tote ist eine Zeitungsnachricht, über | |
| die man hinwegliest.“ | |
| Frage der Verantwortung | |
| Perspektivisch, auch das macht die Ausstellung in der Humboldt-Universität | |
| deutlich, hat sich über die Jahrzehnte in der Kriegsfotografie etwas | |
| verändert. Man kennt die Namen und Bilder von Fotogrößen wie Robert Capa | |
| oder [4][Lee Miller]. Bilder, die nachträglich die Frage der Verantwortung | |
| für die Abgebildeten aufwarfen, denen in ihrem Leid durch das Drücken des | |
| Auslösers nicht geholfen wurde. Die Frage stellt sich in der Ausstellung | |
| nicht. Die Fotograf:innen sind Ukrainer:innen, die die Zerstörung ihrer | |
| Heimat dokumentieren, ohnehin zeigen ihre Bilder stets ein Nachher; nach | |
| dem Einschlag, nach dem Massaker, nach der Katastrophe. | |
| Der Vorwurf, dem sich Capa, Miller und Co. jedoch ausgesetzt sahen, wonach | |
| zumindest einige ihrer symbolträchtigen Fotos – wie der fallende Soldat im | |
| Spanischen Bürgerkrieg – gestellt seien, kommt perfide verdreht auch zu den | |
| ukrainischen Fotograf:innen zurück. Man erinnere sich nur an die | |
| russische Propagandaerzählung von Schauspielern in Butscha, die angeblich | |
| ein nie verübtes Massaker simulierten. | |
| Der Einsatz von künstlicher Intelligenz, die sich auch die Gegenseite zur | |
| Produktion narrativtreuen Bildmaterials zunutze machen kann, ist dabei noch | |
| gar nicht berücksichtigt. Auf die Kriegsfotografie, das ist zu befürchten, | |
| kommen auch in Zukunft neue Herausforderungen zu. | |
| 6 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julia Hubernagel | |
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