# taz.de -- Roman „Samota“ aus Belarus: Nachdenken über das Gewicht der We… | |
> Die belarussische Schriftstellerin Volha Hapeyeva will Kriegen vorbeugen. | |
> Ihre Lösung steckt in ihrem neuen Roman: ein Empathieserum. | |
Bild: Die Autorin schreibt auch über den Umgang mit Tieren | |
Dieser Roman beginnt mit einer existenziellen Krise. Die Protagonistin | |
Maja, eine Vulkanologin, ist im Zuge eines wissenschaftlichen Kongresses in | |
einem anonymen Hotelzimmer gestrandet, das „in solchem Maße standardisiert“ | |
war, „dass man sich in jedem beliebigen Land der Welt hätte wähnen können�… | |
Sie fühlt sich dort orientierungs- und heimatlos, einsam. Deshalb auch der | |
Titel des Romans, „Samota“: Das Wort bedeutet „Einsamkeit“ auf | |
Belarussisch, der Muttersprache der Autorin [1][Volha Hapeyeva.] | |
Doch das zentrale Thema soll in der Folge gar nicht die Einsamkeit sein, | |
vielmehr beginnt von hier aus ein Nachdenken über die Welt und das Gewicht | |
der Welt, über Empathiefähigkeit und menschliche Sensibilität, das | |
Verhältnis von Mensch und Tier, Anthropozentrismus, zivilisatorische | |
Zwänge. | |
Maja freundet sich mit der weitaus extrovertierteren und anpackenderen | |
Tiertherapeutin Helga-Maria an, die Dialoge zwischen den beiden handeln oft | |
davon, was Menschen Tieren antun, was Menschen einander antun. In einer | |
zweiten Zeitebene taucht eine anachronistische Figur namens Sebastian auf. | |
Er schreibt Liebesbriefe an Helga-Maria, scheint dem Fin de Siècle | |
entsprungen zu sein und tritt darüber hinaus in philosophischen Gesprächen | |
mit seinen männlichen Freunden in Erscheinung. | |
Es kann einen schon überraschen, mit welchen Themen sich Volha Hapeyeva in | |
diesem Roman befasst. Die Schriftstellerin und Linguistin gehört in Belarus | |
zu den bekannteren Intellektuellen, sie [2][floh nach der gescheiterten | |
Revolution] in ihrem Heimatland 2020 nach Deutschland. Hapeyeva hat sich | |
zuletzt mit den politischen Zuständen in Belarus befasst, sie schrieb den | |
Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“, für den sie | |
2022 den Wortmeldungen-Preis für kritische Kurztexte erhielt. | |
## Eine feministische Coming-of-Age-Geschichte | |
In [3][„Camel Travel“ (2021)] erzählt sie eine feministische | |
Coming-of-Age-Geschichte in der BSSR/Belarus zur Perestroika-Zeit und in | |
den frühen 1990ern. Auf Belarussisch erschien ihr Werk „Samota. Die | |
Einsamkeit im Zimmer gegenüber“ bereits 2021. Der Roman wurde dort im | |
unabhängigen Verlag Halijafy veröffentlicht, der 2022 von Diktator | |
Lukaschenko zwangsliquidiert wurde. | |
„Samota“ scheint nun wenige direkte politische Bezüge aufzuweisen. Die | |
Einsamkeit der Protagonistin kann man in Beziehung setzen zu der | |
Exilsituation der Autorin (die auch noch mit den Zeiten der Isolation | |
während der Coronapandemie zusammenkam), muss man aber nicht. Protagonistin | |
Maja begleitet man bei einer Art innerer Erkundung, einer Suche nach dem | |
Ausweg aus der Einsamkeit: „Wieder diese endlosen inneren Dialoge, ich | |
frage mich, was wohl in der Welt geschieht, während ich mit ihnen | |
beschäftigt bin?“, fragt sie sich einmal. | |
Man folgt den Gedankenströmen Majas dabei gern, weil Hapeyeva sprachlich so | |
präzise ist und seltsam schräge Metaphern kreiert, die hängenbleiben: „Es | |
gibt Menschen, die verwahren ihre Kränkungen in speziellen Schränkchen | |
unter der fünften und sechsten Rippe. Sie brauchen Garantien, Belege, | |
Beweise, die ihnen die Liebe der anderen bestätigen. Aber kein Beleg der | |
Welt kann die Angewohnheit betäuben, alles zu kontrollieren und niemandem | |
zu vertrauen.“ | |
## Der menschliche Umgang mit Tieren | |
Über die Figur Helga-Maria wird dagegen das Mensch-Tier-Verhältnis | |
verhandelt. Sie hält im Lauf der Handlung einen Vortrag über den | |
menschlichen Umgang mit Tieren, geht dabei zurück auf Philosophisches von | |
Montaigne, Descartes und Nicolas Malebranche. Helga-Maria vergleicht | |
schließlich Speziesismus mit Rassismus, Sexismus und Homophobie und schlägt | |
die „Entwicklung eines Empathieserums“ vor, um Konflikten und Kriegen | |
vorzubeugen. | |
Von dem von ihr geforderten Einfühlungsvermögen, das stellt sich heraus, | |
hat ihre Freundin Maja zu viel abbekommen: Sie ist hypersensibel, hat ein | |
hohes Schmerzempfinden, empfindet Mitleid mit allem Lebenden und flüchtet | |
sich vielleicht sogar deshalb in das Greif- und Messbare der | |
Naturwissenschaften. | |
Insgesamt kreist die Handlung um zu viele verschiedene Themen, die nur | |
angerissen und nicht immer zufriedenstellend behandelt werden; ein klarerer | |
Fokus hätte dem Roman gut getan. Doch Hapeyeva beschreibt dicht, tief, | |
poetisch, in beeindruckender Sprache – und thematisiert dabei zeitlose, | |
große Menschheitsthemen. Man kann es demnach auch so sehen: Als | |
anthropologischer Romanessay ist „Samota“ brillant. | |
14 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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