# taz.de -- Ukraine-Krieg und Belarus: Die dunkle belarussische Seele | |
> Er sei „Orwellianer“, sagt der belarussische Künstler Sergey Shabohin | |
> über sich. Seine vom Ukraine-Krieg geprägten Werke zeigt er nun in | |
> Berlin. | |
Bild: Sergey Shabohin bei der Ausstellung im Kunstverein Kvost in Berlin. Sie l… | |
Berlin taz Sergey Shabohin zeigt auf zwei Regale. Doch darin stehen keine | |
gewöhnlichen Bücher. Die zehn Bände belarussischer Literatur sind aus Holz, | |
grau lackiert und schwarz beschriftet – eine neue Arbeit des belarussischen | |
Künstlers namens „Čornaja žoŭć“ (dt. Melancholie). Die Serie, [1][die … | |
der Ausstellung „All the Dots Connected Form an Open Space Within“ im | |
Kunstverein KVOST zu sehen sind], trägt den Titel „Atlas tektonischer | |
Landschaften“. | |
„Der Beginn der russischen Invasion in der Ukraine 2022 war ein großer | |
Schock. Für mich war es der vierte, wenn man die Annexion der Krim, die | |
Pandemie und [2][die Proteste in Belarus 2020] mitzählt. Damals habe ich | |
mit einem neuen Arbeitszyklus begonnen. Es geht darum, die Neuaufteilung | |
der Welt am Beispiel unserer Region neu zu denken“, sagt Shabohin. 2020 | |
waren in Belarus Zehntausende monatelang auf die Straßen gegangen, um gegen | |
die gefälschte Präsidentenwahl am 9. August zu protestieren. | |
Historisch gesehen ist die gesamte belarussische Literatur auf Traurigkeit, | |
Tragödie und Schmerz aufgebaut. Entsprechend lauten die Namen der Bände: | |
„Trauer zerstört“, „Der Nebel ist stickig“, „Leiden unterdrückt“,… | |
Sorge nagt“, „Übelkeit packt“…, erzählt Shabohin. Die Belarussen wür… | |
sehr subtil die Schattierungen der dunklen Seite der Seele unterscheiden. | |
Schattierungen von Schmerz. Dies werde „schwarze Galle“ genannt und sei | |
eine Übersetzung aus dem Griechischen. | |
## Politische Utopie, Dystopie und gesellschaftliche Prozesse | |
Der 1984 geborene Künstler wurde 1984 geboren und bezeichnet dieses Jahr | |
als „orwellianisch“. Die Themen politische Utopie, Dystopie und | |
gesellschaftliche Prozesse nehmen in seinen Werken einen zentralen Platz | |
ein. | |
Zu Shabohins Arbeiten gehören auch Collagen. Sie bestehen aus | |
Zeitungsausschnitten und Postkarten. Ein Pressefoto [3][der zerstörten | |
südukrainischen Stadt Mariupol] ist mit einer Postkarte kombiniert, die | |
eine Landschaft mit einem Sonnenuntergang zeigt. Das Motiv stammt von | |
Archip Kuindschi (1841–1910). Er wurde in Mariupol geboren und vor allem | |
durch seine Landschaftsmalereien bekannt. Besonders bei den Romantikern sei | |
jede Landschaft politisch, erläutert Shabohin. Kuindschi habe die | |
ukrainische Landschaft Mariupols gemalt, weil er dort gelebt habe. | |
## Künstler im Exil seit 2016 | |
„[4][Die Annexion der Krim 2014] war ein Schock. Eine Freundschaft zwischen | |
Russland, der Ukraine und Belarus auf Augenhöhe, das ist eine Illusion“, | |
sagt Shabohin und erzählt von einem Hügel an der Kreuzung der drei Grenzen | |
dieser drei Länder. Das Monument wird „Hügel der Freundschaft“ oder auch | |
„Drei Schwestern“ genannt. Zu diesem Ort gibt es ein Video von Shabohin, | |
das er in einem Wandbild verarbeitet hat. | |
„Ich habe diesen Hügel als Kuchen dargestellt, der dritte Teil wurde | |
abgeschnitten und beiseite geschoben“, erklärt der Künstler. Welches Land | |
hier als abgeschnittener Teil dargestellt werde, sei nicht festgelegt. Dies | |
sei Abbild der Tatsache, dass diese Schwesternschaft nicht existiere, nicht | |
mehr existieren könne. | |
2016 ging der Künstler nach Polen. Die schmerzhafte Entscheidung, sein Land | |
zu verlassen, treibt ihn um. Ihr ist eine ganze Reihe von Arbeiten | |
gewidmet. Seit 2020 ist Sergey Shabohin nicht mehr nach Belarus gereist. | |
Mittlerweile hat er ein großes Archiv angelegt, der Titel lautet „sozialer | |
Marmor“. | |
Als belarussische Sicherheitskräfte die Demonstranten auf den zentralen | |
Straßen von Minsk auseinander getrieben hatten, habe es so ausgesehen, als | |
hätten die Menschen resigniert. Dies sei aber nicht der Fall gewesen. | |
## Archiv des belarussischen Widerstands | |
„In diesem Moment habe ich beschlossen, diese Stimmen und Hoffnungen zu | |
bewahren. 20 Tage lang saß ich vor einer Wand, die aus Sperrholz bestand | |
und mit einer Folie mit einem Marmorbild bedeckt war. Dabei handelte es | |
sich um eine Art Folie (meistens in China hergestellt), mit dem die | |
belarussischen Behörden unauslöschliche Graffiti auf sowjetischem Marmor in | |
der Minsker U-Bahn angebracht hatten. Für mich ist dies ein Symbol der | |
belarussischen Regierung, die auf einem Fundament aus sowjetischem Marmor, | |
Zensur und dem Einsatz von Fälschungen basiert“, sagt Shabohin. | |
Dann passierte Folgendes: Shabohin saß 20 Tage lang an einem Tisch im Haus | |
der Statistik, im Zentrum von Berlin. Hinter ihm befand sich eine | |
Wandinstallation, die er selbst gemacht hatte und die mit derselben | |
chinesischen Folie bedeckt war. Jeden Tag sprach er mit Menschen aus | |
Belarus und über Belarus. Er zeichnete diese Interviews auf, druckte | |
Fragmente davon auf Papier und klebte die Dokumente an die Wand. „Nach und | |
nach ist die Wand zu einem Gesamtarchiv des belarussischen Widerstands | |
geworden. Ich möchte diese Informationen als Katalog veröffentlichen“, sagt | |
Shabohin. | |
Georgien und die Ukraine, die bei dieser Ausstellung vertreten sind, waren | |
physischen Angriffen Russlands ausgesetzt. In Belarus gab es keine direkte | |
Invasion, aber tatsächlich sind wir seit langer Zeit stillschweigend vom | |
russischen Imperialismus besetzt. Deshalb stelle ich in der Ausstellung die | |
belarussische Seite anhand der Geschichte der zerstörten Mythenbildung der | |
Schwesternschaft und des Aspekts der Depression und Melancholie – dieser | |
„schwarzen Galle“, die unser Land erlebt – vor. | |
Ist Shabohin traurig? „Natürlich, sehr sogar. Seit drei Jahren habe ich | |
meine Eltern nicht mehr umarmt. Die engsten Verwandten und Freunde nicht | |
sehen zu können, das übersteigt meine moralischen und geistigen | |
Möglichkeiten.“ | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
30 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Ihar Dzemiankou | |
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