| # taz.de -- Debütroman „Camel Travel“: Komplexe statt Reisetasche | |
| > Kein Vater, strenge Mutter, dazu Buchweizengrütze und Leninverehrung: | |
| > Volha Hapeyeva erzählt vom Aufwachsen im belarussischen Spätsozialismus. | |
| Bild: Die Autorin Volha Hapeyeva war von 2019 bis 2020 Stadtschreiberin von Graz | |
| Heiterer Ernst oder ernste Komik? Man kann sich nicht recht entscheiden, | |
| wie man „Camel Travel“, den Debütroman der Autorin Volha Hapeyeva, | |
| kategorisieren soll. In jedem Fall haben wir es mit einer | |
| [1][Coming-of-Age-Story] zu tun, die aus einem Land erzählt, das zuletzt | |
| für revolutionäre Schlagzeilen sorgte: Belarus. Heiter und melancholisch | |
| zugleich wirken die erzählten Episoden. Skizzenhaft schildert Hapeyeva das | |
| Aufwachsen ihrer Heldin Volha im Spätsozialismus zwischen Buchweizengrütze | |
| und Leninverehrung. | |
| Die Autorin, 1982 geboren, ist promovierte Linguistin. In homöopathischen | |
| Dosen schmuggelt sie Versatzstücke eines Nachdenkens über das Wesen der | |
| Sprache ein, darüber, wie man von Sprache durchdrungen wird, und dass die | |
| jeweilige Realität schon dadurch eine andere sein kann, dass man russisch- | |
| oder belarussischsprachig aufwächst. | |
| Nicht weniger subtil eingeflochten ist ein Nachdenken über Feminismus, | |
| darüber beispielsweise, wie weiblichen Körpern ein Bewusstsein für das | |
| richtige Erscheinungsbild eingeimpft wird. Der Titel „Camel Travel“ | |
| verweist auf eine kurze Episode im Text, als die Sechsjährige auf einem | |
| Kamel am Strand reitet und fotografiert werden soll. | |
| Der Kamelführer bedeutet ihr, den Bauch einzuziehen. Wie sieht das denn | |
| aus, ein Mädchen mit Bauch? „Das Abenteuer Leben fing gerade erst an“, | |
| kommentiert die Erzählerin die Episode. Anstelle einer Reisetasche schleppt | |
| das Mädchen von nun an Komplexe mit sich herum. | |
| ## Mehr erzählte Vignetten als Roman | |
| Was bewegt ein Grundschulkind noch? Die Scheidung der Eltern etwa, die von | |
| den anderen Kindern neidisch beäugt wird, „denn kaum jemand fand das | |
| eheliche Verhältnis der Eltern zufriedenstellend“. Besonders in den | |
| potenziell schmerzlichen Momenten geht die Erzählerin Hapeyeva auf | |
| ironische Distanz zum Geschehen. | |
| Die Gattungsbezeichnung Roman ist eigentlich ein Etikettenschwindel. | |
| Natürlich darf der Roman vieles, auch die Grenzen der Gattung sprengen, | |
| aber er sollte doch wenigstens einen rudimentären Plot haben; „Camel | |
| Travel“ bietet dem Leser eher humorvoll erzählte Vignetten, verbunden | |
| werden sie allenfalls durch ihre Hauptfigur, Volha Hapeyeva. | |
| „Roman“ mag da tatsächlich die literarische Überformung oder ein Spiel mit | |
| Autofiktion andeuten; aber Letzteres ist auch in Geschichten denkbar. | |
| Vielleicht führt uns der Romanbegriff aber auch zur tieferen Ebene des | |
| Textes, zu einer Schicht unter den skurrilen Erinnerungen der Protagonistin | |
| Volha. Dort trifft man dann auf das, was Sigmund Freud den Familienroman | |
| des Kindes nannte, fantastische Überformungen der realen Bezugspersonen, | |
| die idealisiert oder abgewertet werden. | |
| Im Text ist der [2][Vater als seltsame Leerstelle] angelegt, er hat eine | |
| Affäre und verlässt die Familie. Er ist der „pater semper incertus“, der … | |
| ziemlich abwesende Vater, der in einem eigentlich lapidaren Nebensatz das | |
| Leben verliert – beinahe wie in einem Traum. | |
| ## Die Kunst der Auslassung | |
| Die gestrenge Mutter bringt der Tochter bei, nicht weibisch zu sein: nicht | |
| heulsusig und nach Mitleid heischend. Kochen ist Weibersache, weswegen es | |
| in der Familie vernachlässigt wird. | |
| Die Großmutter ist die Personifikation des Klischees der | |
| „Kühlschrankmutter“, hat das Unglücklichsein mit ihrem Leben kultiviert u… | |
| ist der liebevollen Zuwendung zu Kindern und Enkelkind unfähig. Das ist | |
| eine alles in allem traurige Grundkonstellation, die von den eher witzigen | |
| Begebenheiten in der Schule überdeckt wird. | |
| Wie die Leerstelle Vater bleiben auch andere Momente in den Episoden auf | |
| interessante Art lückenhaft. Scheinbar wohnen die Großeltern in einem | |
| verstrahlten Gebiet (Belarus bekam einen Großteil des radioaktiven | |
| Niederschlags von [3][Tschernobyl] ab). Daraus wird nun aber gerade keine | |
| Tragödie konstruiert; die Geschichte ist die Auslassung. So ist der Kern | |
| das beiläufig Umrissene, das subtil Angedeutete. Auch die radikale | |
| Auslassung ist eine Kunst für sich. | |
| Wäre all das subtil Angedeutete in diesem Buch tatsächlich auserzählt, dann | |
| hätten wir es vermutlich mit einem recht klassischen Roman zu tun. Hier | |
| aber ist die Verkürzung nicht nur Methode, sondern überaus reizvoll. | |
| 1 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marlen Hobrack | |
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