| # taz.de -- Essay der Lyrikerin Volha Hapeyeva: „Sprache ist nie neutral“ | |
| > Die belarussische Lyrikerin Volha Hapeyeva lebt im deutschen Exil. Und | |
| > fühlt sich dort schon fast ein wenig zu Hause. | |
| Bild: Die Lügen der Sprache sind wiederkehrende Sujets im Essay der belarusssi… | |
| Dies ist nicht die Zeit für Poesie.“ Es waren diese sieben Wörter, die | |
| [1][Volha Hapeyeva] ins Grübeln brachten. Schließlich widmet sie ihr Leben | |
| ganz der Poesie, der Lyrik, der Sprache. Mit diesem schmalen Satz lehnte | |
| der Redakteur eines angesehenen belarussischen Mediums im Sommer 2020, kurz | |
| vor den Präsidentschaftswahlen, ein Interview mit der Lyrikerin und | |
| Linguistin Hapeyeva ab, das eine Journalistin bereits mit ihr geführt | |
| hatte. | |
| Hapeyeva, die aus Belarus emigriert ist und derzeit in München lebt, hat | |
| die Aussage zur Reflexion genutzt und einen Essay über ihre Poetik daraus | |
| entwickelt. „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ heißt | |
| er. Sie hat ihn auf Deutsch geschrieben. Und er wird nun mit dem | |
| Wortmeldungen-Literaturpreis ausgezeichnet, erscheint zudem Anfang Juni als | |
| Buch. | |
| „Als [2][Dichterin und Linguistin] habe ich viele Fragen zur Sprache als | |
| Phänomen, denn sie ist nie neutral, nie objektiv, sie ist immer politisch“, | |
| schreibt sie an einer Stelle. Die Sprache der Propaganda, die Sprache | |
| kriegerischer Politik, verschleiernde Sprache – kurz: die Lügen der Sprache | |
| – sind wiederkehrende Sujets dieses Textes. | |
| „Sprache wird immer von Regierungen oder Institutionen reguliert, egal, um | |
| welchen Staat es sich handelt“, sagt sie im Gespräch. „Auch Sprachpuristen | |
| haben zum Beispiel ein Interesse daran, Sprache zu lenken. Dabei ist sie | |
| ein Organismus, der sich ständig verändert.“ | |
| ## Eine der bekanntesten Autor*innen aus Belarus | |
| Volha Hapeyeva wurde 1982 in Minsk geboren. Sie hat in ihrer Heimatstadt im | |
| Fach Linguistik promoviert, arbeitet heute als Schriftstellerin und | |
| Übersetzerin. In Belarus hat Hapeyeva acht Gedichtbände, einen | |
| Erzählungsband, zwei Romane und drei Kinderbücher veröffentlicht. Sie zählt | |
| zu den bekanntesten und meistübersetzten Autor*innen des Landes. Auf | |
| Deutsch liegen bislang der Roman „Camel Travel“ (Droschl Verlag, 2021) und | |
| der Gedichtband „Mutantengarten“ (Edition Thanhäuser, 2020) vor. | |
| Im Herbst 2020 kam Hapeyeva nach Deutschland zu einem Stipendium an die | |
| Villa Waldberta am Starnberger See. Aufgrund der Repression gegen | |
| Oppositionelle kehrte sie danach nicht nach Belarus zurück. Die gesamte | |
| belarussische Literaturszene hat zuletzt eine für das Land beispiellose | |
| Säuberungswelle durchleben müssen. | |
| Der 1933/34 gegründete Verband der belarussischen Schriftsteller*innen | |
| (UBW) wurde dabei genauso zwangsaufgelöst wie der nationale PEN-Verband, | |
| dessen Mitglied Hapeyeva ist. Zuletzt wurde der bekannte Verleger Andrej | |
| Januschkiewitsch verhaftet, der von ihm verlegte George-Orwell-Roman „1984“ | |
| verboten. Seit Mai 2021 ist Hapeyeva Stipendiatin des [3][„Writers in | |
| Exile“-Programms] des PEN Deutschland. | |
| Hapeyeva ist zum Gespräch in ein Café am Münchener Rotkreuzplatz gekommen. | |
| Sie hat eine pinke Sonnenbrille in die Haare gesteckt, trägt eine pinke Uhr | |
| und eine graue Bluse. Wir unterhalten uns auf Deutsch. Gelegentlich springt | |
| sie kurz ins Englische. Sie überlegt oft lange, bevor sie antwortet, | |
| spricht dann sehr bedacht, macht aber auch zwischendurch Witzchen. | |
| ## München ist nicht fremd | |
| In München und Deutschland fühle sie sich inzwischen einigermaßen heimisch, | |
| sagt sie: „Neulich hat mich ein belarussischer Reporter gefragt, wie ich | |
| mich denn im ‚Ausland‘ fühlen würde. Da merkte ich, ich konnte über mein | |
| Exilland nicht als fremdes Land denken. Das war eine interessante | |
| Selbstbeobachtung. Ich fühle diese Fremdheit nicht.“ | |
| Ob sie sich in Belarus manchmal fremd im eigenen Land gefühlt habe? „Es ist | |
| ein schizophrenes Gefühl in Ländern, die so unfrei sind wie Belarus oder | |
| Russland“, sagt sie. „Für mich fühlte es sich so an, als lebte ich in zwei | |
| Welten. Auf der einen Seite gab es das offizielle Leben und den offiziellen | |
| Diskurs, der mir sehr fremd war. Auf der anderen Seite gab es auch Nischen, | |
| in denen man sich – auch geistig – bewegen konnte.“ | |
| In ihrem Essay schreibt sie, das Verhältnis von Bevölkerung und Regime in | |
| totalitären Staaten gleiche dem „Muster von Missbrauchsbeziehungen“. In | |
| solchen Staaten greife das Prinzip der „erlernten Hilflosigkeit“: Die | |
| Bürgerinnen und Bürger gewöhnten sich an die vorgegebenen Normen, welche | |
| Gewalt, Unterdrückung und Unmündigkeit implizierten. Es sind diese | |
| Seitwärtsbewegungen und die überraschenden Gedankenwendungen, die den Text | |
| so lesenswert machen. Viele Menschen in Belarus hätten fast ihr gesamtes | |
| Leben in einer Diktatur verbracht, sagt sie. | |
| „Kritisches Denken muss man aber erst lernen, es muss sich entwickeln. | |
| Meine Generation hat drei historische Perioden durchlebt: die Sowjetunion, | |
| eine kurze Epoche der Renaissance der belarussischen Kultur und | |
| Staatlichkeit – und dann die Regierung von heute, die seit 1994 herrscht. | |
| Manche von uns waren nach der [4][Tschernobyl-Katastrophe] als Kinder im | |
| Ausland, zum Beispiel in Deutschland oder Italien. Und haben gesehen, dass | |
| es auch anders sein kann.“ Dies unterscheide sie von der älteren | |
| Generation. | |
| ## Das „nomadische Denken“ | |
| In ihrem Essay beruft sich Hapeyeva auf den Begriff des „nomadischen | |
| Denkens“. Eigentlich fühle sie sich nirgendwo zu Hause, doch „einmal fand | |
| ich eine rettende Formulierung in Bezug auf die Frage, was oder wo mein | |
| Heimatland ist. Ich dachte, meine Heimat ist meine Sprache“, schreibt sie. | |
| Im Gespräch führt sie aus: „Nomadentum funktioniert ohne die Anerkennung | |
| von Staaten und Grenzen, das macht diesen Begriff für mich attraktiv. | |
| Spricht man von ‚Exilanten‘ oder ‚Flüchtlingen‘, so nimmt man das Konz… | |
| der Staaten an und akzeptiert, dass ein Mensch irgendwo zu Hause ist und | |
| woanders nicht hingehört.“ „sprache ist gefängnis und freiheit“, heißt… | |
| in einem ihrer Gedichte. | |
| Dass der Sprache nicht immer zu trauen ist, dazu kehrt Hapeyeva häufig | |
| zurück. „Sprache kann in vielerlei Hinsicht ein Gefängnis sein“, erklärt | |
| sie. „Amtssprache hat oft etwas Beengendes und Einschnürendes. Und wenn du | |
| etwas sehr Tiefes erlebst, fehlen dir oft die Worte dafür. Und wenn du von | |
| einer Sprache in die andere wechselst, ist es oft so, als würdest du einen | |
| anderen Raum betreten, in dem Stühle und Tische an anderen Orten stehen, | |
| völlig anders aussehen.“ | |
| Lyrik ist bei Hapeyeva oft auch politische Sprachanalyse. In dem Gedicht | |
| „phlox“ (2018) zählt sie etwa russische Waffen auf, die nach Pflanzen | |
| benannt sind und geht den Begriffen etymologisch nach („hyazinthen nelken | |
| und phlox / lodern auf dem nachbargrundstück“). | |
| ## Politische Sprachanalyse | |
| Von da aus kommt man als Leser schnell zu den Tiernamen deutscher | |
| Waffengattungen („Gepard“, „Leopard“) und wie sich diese Termini | |
| unhinterfragt in die Sprache einschleichen. Hapeyeva hat sich schon länger | |
| mit dem Ukraine-Konflikt beschäftigt, sie begann 2017 für die OSZE, | |
| Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in Minsk zu | |
| arbeiten. Dabei übersetzte sie Briefe von Gefangenen und deren Verwandten | |
| beider Konfliktparteien. | |
| Volha Hapeyeva geht auf den eingangs zitierten Satz des Essays nochmals | |
| ein. „Wenn gebildete Menschen, Menschen von Kultur, sagen, es sei nicht die | |
| Zeit für Poesie, bin ich sehr pessimistisch, was unsere Zukunft angeht.“ | |
| Lyrik sei immer Auseinandersetzung mit Sprache und Metasprache. Genau diese | |
| braucht es in Zeiten, in der sie mehr als in anderen Zeiten als | |
| Herrschaftsinstrument eingesetzt wird. | |
| Nicht zuletzt gebe Poesie Halt, schreibt Hapeyeva: „Vor ein paar Jahren | |
| wurde ein Freund von mir verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, nur weil er | |
| Bücher verkaufte. Er war kein Poesieliebhaber, aber in seinem ersten Brief | |
| aus dem Gefängnis bat er mich, dass ich ihm meine Gedichte schicke, das | |
| half ihm dort zu überleben. Für mich war das ein starkes Argument, | |
| weiterzumachen und nie wieder an der Bedeutung der Poesie und des | |
| poetischen Wortes zu zweifeln.“ | |
| Gerade in Kriegs- und Krisenzeiten kann der assoziative, oft fragmentierte | |
| Stil der Lyrik ein guter Weg sein, sich wie Volha Hapeyeva einer | |
| Wirklichkeit zu nähern, die sich dem linearen Erzählen zunächst entzieht. | |
| 28 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Buch-ueber-Freiheitsbewegung-in-Belarus/!5793518 | |
| [2] /Debuetroman-Camel-Travel/!5743971 | |
| [3] /Repression-gegen-tuerkische-Autorin/!5637737 | |
| [4] /Jahrestag-der-Atomkatastrophe/!5850450 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
| ## TAGS | |
| Belarus | |
| Literatur | |
| Poesie | |
| Exil | |
| Essay | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Roman | |
| Krieg | |
| Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
| Russland | |
| Lesestück Interview | |
| Russische Literatur | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Belarus | |
| Buch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Gedichte von Marianna Kijanowska: Schmerz ist ein Ort im Morgen | |
| Gedichtband „Babyn Jar. Stimmen“: Die ukrainische Lyrikerin Marianna | |
| Kijanowska widmet den Opfern des Massakers von Babyn Jar ein wortgewaltiges | |
| Denkmal. | |
| Roman über Jugend in Moskau: Letzte Generation Sowjetunion | |
| Trotz Unfreiheit wollten sie das Leben genießen. Die Autorin Kristina | |
| Gorcheva-Newberry erzählt von einer Jugend in den Achtzigern in Moskau. | |
| Roman über Kriegsreporter: Das Gefühl der Vergeblichkeit | |
| Ruhelos ist Sprache, mit der Gabriele Riedle in dem Roman „In Dschungeln. | |
| In Wüsten. Im Krieg.“ von einem Leben unterwegs in Krisenregionen erzählt. | |
| Alternative Belarussische Botschaft: Eine Botschaft erhalten als Kunst | |
| Ein Symbol für den Kampf von Belaruss:innen ist die Alternative | |
| Botschaft in Berlin-Treptow. Aktivist:innen bemühen sich um ihr | |
| Fortbestehen. | |
| Belarussische Exilpolitikerin: Die einzig wahre Präsidentin | |
| Oppositionsführerin Sviatlana Tsikhanouskaya sprach in Berlin über die | |
| Zukunft Belarus’. Ihr Land stehe hinter der Ukraine, nicht Russland. | |
| Berliner Lyriker im Interview: „Wenn kein Wort mehr stört“ | |
| „Tiefsee wie ein Krake der rückwärts auseinander stäubt“, heißt Michael | |
| Thieles erster Gedichtband. Über die Rolle von Zeit und Musik für seine | |
| Lyrik. | |
| Gedichte von Maria Stepanova: Die Skrupellose | |
| Maria Stepanova gehört zu den herausragenden russischen Dichterinnen der | |
| Gegenwart. Ihre Lyrik fängt den postsowjetischen Alltag ein. | |
| Schriftsteller:innen zum Ukrainekrieg: Kultur ist Putin egal | |
| Der PEN lud in Leipzig zu einem Podium über den Krieg. Nicht leicht, eine | |
| ukrainische Autorin zu finden, die noch mit Russen reden möchte. | |
| Buch über Freiheitsbewegung in Belarus: Tagebuch des Widerstands | |
| Der Band „Stimmen der Hoffnung“ erzählt von der belarussischen | |
| Zivilgesellschaft in ihrem Kampf gegen das Lukaschenko-Regime. | |
| Debütroman „Camel Travel“: Komplexe statt Reisetasche | |
| Kein Vater, strenge Mutter, dazu Buchweizengrütze und Leninverehrung: Volha | |
| Hapeyeva erzählt vom Aufwachsen im belarussischen Spätsozialismus. |