| # taz.de -- Literaturfest München: Wo ist der russische Brecht? | |
| > Das Literaturfest München stand unter dem Eindruck des Krieges in der | |
| > Ukraine. Autoren kommen direkt von der Front. | |
| Bild: Hat Schriftsteller:Innen aus der Ukraine ausgewählt: Tanja Maljartschuk | |
| Was zeichnet die ukrainische Seele im Vergleich zur russischen aus? Diese | |
| Frage beantwortet der Schriftsteller Andrej Kurkow auf dem Münchner | |
| Literaturfest recht eindeutig: „Wir Ukrainer sind keine Fatalisten, sondern | |
| verrückte Optimisten.“ Eine gesunde Portion jenes Optimismus muss [1][auch | |
| Tanja Maljartschuk, Kuratorin des diesjährigen „Forum Autoren“], besessen | |
| haben. | |
| Bis kurz vor Festivalbeginn stand nämlich nicht fest, ob es tatsächlich | |
| auch alle eingeladenen ukrainischen Schriftsteller:innen bis nach | |
| München schaffen würden. Unsicher war besonders das Kommen der ukrainischen | |
| Männer im wehrfähigen Alter. In dieser Hinsicht ging schließlich alles gut. | |
| Die Teilnehmer der geplanten Veranstaltungen kamen rechtzeitig in München | |
| an. | |
| Der derzeit bekannteste [2][ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow] | |
| begegnete bei der Veranstaltung mit dem Titel „Jede Diktatur stiehlt einem | |
| das Leben“ der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Ein Aufruf zur | |
| Beendigung des russischen Bombardements der syrischen Stadt Aleppo hatte | |
| die beiden schon im Jahr 2016 zusammengebracht. „Aleppo und Mariupol | |
| müssten heute eigentlich Partnerstädte sein“, bemerkt Kurkow nun. | |
| ## Krieg und Bücherschreiben geht kaum | |
| Der 61-jährige Schriftsteller plant so bald wie möglich wieder in die | |
| Ukraine zu reisen. Zurück nach Kiew, wo sich seine Frau im Moment aufhält. | |
| Zum Schreiben komme der noch im Leningrad der Sowjetunion Geborene, doch in | |
| der Ukraine Aufgewachsene im Moment kaum: „Kriegsalltag und Bücherschreiben | |
| passen nicht zusammen“. | |
| Bestimmendes Thema des Gesprächsabends sollten die Diktaturerfahrungen | |
| beider Gäste sein. [3][Herta Müller] berichtet von der Zeit ihrer Flucht | |
| aus dem Rumänien Ceaușescus. Auch von ihrem Überlebenswillen dort: „Je mehr | |
| man gegen etwas lebt, desto lieber lebt man.“ Kurkow vom „antisowjetischen | |
| Club“ in der Küche seines Elternhauses, von den Ausmaßen der | |
| Geheimdienstdiktatur sowie von der Gefangenschaft seines Bruders im | |
| Straflager. | |
| Der Autor, zuletzt erschien von ihm „Tagebuch einer Invasion“, nutzte die | |
| Gelegenheit auf der Bühne zum Appell: Deutschland müsse sich intensiver mit | |
| der ukrainischen Kultur auseinandersetzen. Die Bemerkungen des Moderators, | |
| dass dies doch längst geschehe, pariert Kurkow gelassen und teilt noch in | |
| Richtung der exilrussischen Intelligenz aus, von der im Moment kaum etwas | |
| zu hören sei, außer Schweigen. | |
| ## Warum schweigen sie? | |
| Entlang der Formulierungen eines anderen ukrainischen Autors, des | |
| Friedenspreisträgers Serhij Zhadan, der diese Woche auf dem Literaturfest | |
| erwartet wird, formulierte Kurkow die Frage: „Wo ist der russische Brecht?“ | |
| Die Reihe „Forum Autoren“ bringt unter dem Motto „frei sein – Mitteleur… | |
| neu erzählen“ Schriftsteller:innen aus verschiedenen Ländern, nicht nur | |
| aus der Ukraine, aufs Literaturfest. So auch den aus [4][Bulgarien | |
| stammenden Georgi Gospodinow]. In seinem dystopischen Roman „Zeitzuflucht“ | |
| setzt er sich mit den Verlockungen einer vergangenheitsverklärenden Politik | |
| auseinander. Im Roman endet alles mit einem grausamen Reenactment der | |
| Geschichte, einem erneuten großen Krieg. | |
| Auf die Frage, seit wann sich in der Wirklichkeit das politische Klima | |
| verändert habe, konstatiert der Bulgare, „wir leben seit 2016 nicht mehr in | |
| derselben Zeit“. Gospodinow warnt bei seinem Auftritt vor den Gefahren des | |
| Nationalismus, der seit Trumps Betreten der politischen Bühne besonders | |
| reüssiere. „Wir haben das Gefühl für die Zukunft verloren“, so Gospodino… | |
| Der Nationalismus ernähre sich vom Vergessen. In diesem Sinne sei auch | |
| Putins Angriff auf die Ukraine ein Krieg der Vergangenheitssehnsucht. | |
| ## Autoren in der Armee | |
| Seit Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar ist für die beiden | |
| ukrainischen Schriftsteller Artem Tschech und Artem Chapeye nichts mehr wie | |
| zuvor. Beide dienen im Moment in der ukrainischen Armee, beide sind im | |
| Kampfeinsatz. Tschech hatte bereits im Buch „Unter Null“ von der Frontlinie | |
| im Osten der durch Separatisten besetzten Gebiete berichtet. Der Band ist | |
| soeben auf Deutsch erschienen. Chapeyes Kurzgeschichte „The Ukraine“ wurde | |
| jüngst im New Yorker publiziert. | |
| Auf der Bühne in der übervollen Bibliothek des Münchner Literaturhauses | |
| sitzen beide nebeneinander, Chapaye in Uniform. Gerade noch rechtzeitig hat | |
| er die Ausreisegenehmigung der Behörden erhalten – das kuratorische Kalkül | |
| von Tanja Maljartschuk ging also auf. Während der Lesung der Texte ist es | |
| still im Publikum. Der Sound dieser beiden Vertreter einer neuen | |
| ukrainischen Schriftstellergeneration zielt hart und direkt ins Zentrum der | |
| Emotion. | |
| Von ihrem Einsatz an der Front berichten sie differenziert und kritisch – | |
| undenkbar, dass russische Soldaten das im Ausland dürften. Als Chapeye | |
| mitteilt, „ich hatte Angst, dass der Krieg mich brutal machen würde, er hat | |
| mich aber noch sensibler gemacht“, halten einige im Publikum inne. Die | |
| Befindlichkeiten so mancher deutscher Intellektueller bleiben an diesem Tag | |
| draußen vor der Tür. Drinnen wird einfach nur zugehört. Was für ein | |
| stiller, sensationeller Abend, an dem die Ereignisse in der Ukraine ganz | |
| nah scheinen, und doch kein bisschen begreiflich. | |
| 20 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Roman-Blauwal-der-Erinnerung/!5576417 | |
| [2] /Autor-Andrej-Kurkow-im-Gespraech/!5882776 | |
| [3] /Lesen-fuer-die-Ukraine/!5835005 | |
| [4] /Archiv-Suche/!1297574&s=Gospodinow&SuchRahmen=Print/ | |
| ## AUTOREN | |
| Chris Schinke | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Literatur | |
| München | |
| Religion | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Ukraine | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Interview | |
| Buch | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ausstellung in München: Das Wort ist die schärfste Waffe | |
| Warum gibt es Zensur? Diese Frage stellt eine Ausstellung im Münchner | |
| Literaturhaus. Antworten findet man zwischen Moral, Politik und Religion. | |
| Literatur in Krisenzeiten: Die Freiheit liegt in Trampelpfaden | |
| Die richtigen Worte zu finden fällt oft schwer, bei Krisen scheint es | |
| unmöglich. Autoren aus Georgien, Ukraine und Estland diskutierten in | |
| Berlin. | |
| Rundgang durch Hostomel: Eine Wunde unter vielen | |
| „Das ist die Geschichte, auf der ich stehe“: Ein Spaziergang mit dem | |
| ukrainischen Schriftsteller Oleksandr Mykhed durch die zerstörten Vororte | |
| Kyjiws. | |
| Roman „Das Zeitalter der roten Ameisen“: Dieser entsetzliche Hunger | |
| Mit dem Holodomor wollte Stalin die Ukraine aushungern. Die Buchautorin | |
| Tanya Pyankova hat beim Schreiben zeitweise selbst auf Nahrung verzichtet. | |
| Butscha und die Erinnerung: Auf den Spuren der Mörder | |
| Ein Redakteur arbeitet in Butscha als Bestatter. Ein Architekt hilft bei | |
| Reparaturen, ein Künstler will dort sein Atelier einrichten. Sie wollen, | |
| dass man sich an den Ort erinnert. | |
| Tanja Maljartschuk über Traumata: „Das Verdrängte ans Licht holen“ | |
| Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk lebt in Österreich. Ein | |
| Gespräch über nur schlecht vergrabene Traumata. | |
| Frankfurter Buchmesse und die Ukraine: Hoffen auf den Sturz Putins | |
| Wie geht Literatur in Zeiten des Krieges? Russische Dissidenten und | |
| ukrainische Schriftsteller sprechen auf der Frankfurter Buchmesse. | |
| Friedenspreisträger Serhij Zhadan: Der Preis der Freiheit | |
| Der Ukrainer Serhij Zhadan ist nicht nur Schriftsteller. Er ist auch | |
| Musiker, unterstützt die Armee, trommelt für Spenden und träumt vom Ende | |
| des Kriegs. |