| # taz.de -- Rundgang durch Hostomel: Eine Wunde unter vielen | |
| > „Das ist die Geschichte, auf der ich stehe“: Ein Spaziergang mit dem | |
| > ukrainischen Schriftsteller Oleksandr Mykhed durch die zerstörten Vororte | |
| > Kyjiws. | |
| Bild: Autowracks unweit des Antonow-Flughafens, in dem das ikonische zerstörte… | |
| Kyjiw taz | Falls Explosionen zu hören sind, ist das okay“, sagt Oleksandr | |
| Mykhed. „Hier wird das Territorium entmint – wir befinden uns im Begriff | |
| der Entrussifizierung.“ Mykhed, der an diesem Wintertag durch seine | |
| ehemalige Heimatstadt Hostomel führt, steht am Rande eines Spielplatzes: | |
| das Blech von Schaukel, Rutsche und Kinderwippe ist von Witterung | |
| gezeichnet, von Einschusslöchern und den Spuren scharfer Raketensplitter | |
| übersät. | |
| Bis zur umfassenden russischen Invasion kuratierte der Schriftsteller | |
| Ausstellungen und arbeitete als Literaturkritiker, jetzt steht er neben | |
| einem metergroßen Einschlagloch, das den gepflasterten Weg des | |
| Spielplatzes unterbricht. Dahinter: eine gespenstische Kulisse aus | |
| ausgebrannten Häuserresten mit aufgerissenen Fassaden und klaffenden | |
| Fensterhöhlen. Skelette, deren Inneres – Trümmer und Fragmente fremder | |
| Erinnerungen – gewaltsam nach außen gestülpt zu sein scheint. | |
| Kurz nach der Flucht ins westukrainische Tschernihiw meldete sich Mykhed | |
| freiwillig bei der lokalen Territorialverteidigung, aktuell ist er im Raum | |
| Kyjiw eingesetzt. Er trägt steingraue Funktionskleidung, Mütze und randlose | |
| Brille, unter der seine konzentrierten Augen manchmal blau hervorstechen – | |
| während er zu beschreiben versucht, was sprachlich eigentlich nicht fassbar | |
| erscheint. | |
| „Dieser Krieg lehrt uns, dass immer noch größerer Schmerz bevorsteht“, | |
| notiert er Anfang April in einem auf den Seiten des PEN-Clubs Ukraine | |
| veröffentlichten Kriegstagebuch. „Wie viel Trauer kann das menschliche Herz | |
| ertragen? – Der Schmerz von Butscha ist wie kein anderer. Er ist ein | |
| zerrissenes Stück Fleisch. Aber aus dem Herzen gerissen.“ | |
| Jetzt sagt er: „Ich fühle mich – trotz allem – immer noch fähig zu | |
| versuchen, angemessene Worte zu finden, um über jene Erfahrungen zu | |
| sprechen, die wir in diesen schrecklichen Monaten – und im Laufe des | |
| achtjährigen Krieges – in der Ukraine gemacht haben.“ | |
| ## Gewalt mit allen Mitteln dokumentieren | |
| Die Gräueltaten in Hostomel, Irpin und Butscha betrachtet Mykhed zwar aus | |
| persönlicher Perspektive und Betroffenheit – er versucht aber dennoch, | |
| wissenschaftliche Distanz zu wahren. In Essays, Vorträgen oder | |
| Kriegschroniken teilt er nicht nur seine eigene Verlustgeschichte, sondern | |
| dokumentiert auch die Geschichten anderer. Persönliche Geschichten seien | |
| für die Dokumentation der Gewalt durch die russischen Besatzer | |
| unerlässlich, sagt er. „Wir müssen sie mit allen uns zur Verfügung | |
| stehenden Instrumenten dokumentieren.“ | |
| Sein persönliches Schicksal sieht so aus: In einem modernen Teil von | |
| Hostomel – umgeben von den für diese Gegend typischen Kiefernwäldern – | |
| werden Oleksandr Mykhed und seine Frau Olena im Morgengrauen des 24. | |
| Februars von Explosionsgeräuschen geweckt; um 8 Uhr ziehen, ganz in der | |
| Nähe ihres Hauses, mehrere Wellen an Hubschraubern über den Himmel. | |
| „Wir hörten das Dröhnen der Hubschrauber, rochen den Rauch der | |
| Explosionen“, erinnert sich Mykhed. Sie entscheiden sich zu fliehen – doch | |
| seine Eltern, die im nur zehn Minuten entfernten Butscha wohnen, kann er | |
| nicht überzeugen: „Ich habe nicht die richtigen Worte gefunden.“ Vom | |
| Fenster aus sehen sie, wie die russischen Truppen Butscha einnehmen: Drei | |
| Wochen stehen sie die russische Besatzung durch. | |
| „Butscha ist eine offene Wunde. Eine unter vielen anderen – Mariupol, | |
| Isjum, Cherson – aber jene, die am besten dokumentiert und untersucht | |
| wurde“, so Mykhed. Deshalb sei es so wichtig, weiter über sie zu sprechen – | |
| um ein Verständnis für das Ausmaß der russischen Gräueltaten, ihre | |
| Systematik zu bekommen, die in den besetzten Gebieten fortgeführt wird. | |
| „Auf persönlicher Ebene wird Butscha immer jener Schatten bleiben, der sich | |
| auf meine Familie gelegt hat.“ | |
| ## Hostomel liegt in Trümmern | |
| Jetzt steht Mykhed vor den Überresten seines Hauses – und versucht zu | |
| erklären, warum die russischen Truppen gerade in dieser Gegend zu wüten | |
| begannen: „Sie erwarteten, arme Dörfer zu sehen, aber das sind teils reiche | |
| Ortschaften und Häuser. Was sie nicht mitnehmen konnten, zerstörten sie.“ | |
| Nicht viel mehr als ein verrußter Krater ist von dem Penthouse übrig, in | |
| dem er vier Jahre lang mit Frau und Hund ein friedliches Leben führte. | |
| „Alles ist in Blut – alles ist Erinnerung“, sagt der Mann, der sich nicht | |
| nur als Autor oder Soldat, sondern ebenso als ehemaliger Anwohner durch | |
| jene Topografien russischer Verbrechen bewegt. Wie die Nachbarstadt Irpin | |
| wurde auch Hostomel aus der Luft angegriffen und liegt – nach der Befreiung | |
| durch die ukrainische Armee Anfang April – zur Hälfte in Trümmern. | |
| Mykhed treibt die Brutalität um, [1][mit der Russland einen Krieg nicht nur | |
| gegen das ukrainische Volk], sondern genauso gegen kulturelle Symbole | |
| führt. „Die ukrainische Sprache reagierte sofort: Sie erinnert sich an die | |
| Ereignisse, beschreibt sie – und schafft so eine neue Grundlage für die | |
| Erinnerung“, sagt er. | |
| In der neuen ukrainischen Realität beschäftigt den Autor die Frage, wie der | |
| Krieg die Sprache beeinflusst – und immer neue bedeutungsschwere, | |
| kämpferische oder subversive Zeichen und Bilder hervorbringt. | |
| „Es ist eine neue Realität mit vielen neuen Symbolen“, hebt er in seiner | |
| Online-Vorlesung über „Die Sprache des Krieges“ im Rahmen seiner kürzlich | |
| angetretenen virtuellen Residenz an der Fakultät für Sprachen des | |
| Mittelalters und der Moderne an der Oxford-University hervor. Diese | |
| Veränderungen seien nötig, „um darüber sprechen zu können, was den | |
| ukrainischen Menschen tatsächlich passiert – was Russland uns tatsächlich | |
| antut“. | |
| ## Maria als Meme-Ikone | |
| Deutlich hervor tritt die militärische Seite des neuen ukrainischen | |
| Alltagsdiskurses: So wurde etwa die Waffe Bayraktar als vereinendes Symbol | |
| aktiviert. Genauso St. Javelin: Maria als Beschützerin der Ukraine, | |
| ausgestattet mit dem Panzerabwehrsystem Javelin, ist zur Meme-Ikone | |
| avanciert. „Eine Waffe, die der Ukraine sehr geholfen hat“, sagt Mykhed. | |
| Die Spendeninitiative unter gleichem Namen habe viel Geld aktivieren | |
| können. „Unser Verteidigungsminister trägt sie auf seinem T-Shirt, sie | |
| ziert urbane Wandgemälde.“ Auch für die von den russischen Streitkräften | |
| aktiv verwendete iranische Luftdrohne Geran 2 (Geranium 2) hat das | |
| Ukrainische eigene Namen gefunden: „Scooter“ oder „fliegende Balalaika“ | |
| wird sie genannt. | |
| Zu den Überlebensstrategien, die in der ukrainischen Kriegsrealität bereits | |
| hervorgetreten sind, gehört auch die Errichtung ikonischer Pyramiden aus | |
| aufgehäuften Sandsäcken und Zellophan: Seit Beginn des umfassenden Krieges | |
| prägen sie anstelle von Statuen den Stadtplätzen sonderbare, universelle | |
| Zeichen auf. Eingepackt wird, was akut bedroht, geehrt wird, was – für | |
| immer oder zeitweise – verloren ist. | |
| Sein Schreiben sieht Mykhed im Kontext einer umfassenden Dokumentations- | |
| und Erinnerungsarbeit, die auch (aber nicht nur) von Ukrainer:innen | |
| geleistet werden sollte. Schließlich müssen sowohl persönliche als auch | |
| kollektive Traumata verarbeitet – und die russischen Verbrechen vor ein | |
| Tribunal gebracht werden. | |
| „Essays geben mir die Möglichkeit, in einer Kunstform zu sprechen: Das ist | |
| wie ein Dokumentarfilm, den man im Kopf eines Lesers zeigen könnte. | |
| Andererseits gibt mir das Nonfiction-Genre die Freiheit, nicht nur über | |
| Fakten, sondern auch über Gefühle zu sprechen.“ | |
| ## Worte stoßen an Grenzen | |
| Doch oft stelle bereits die Frage „Wie geht es?“ (Jak ty?) eine | |
| unüberbrückbare Barriere dar. Mykhed beschreibt, was viele | |
| Ukrainer:innen im westeuropäischen Exil derzeit empfinden: „Wenn wir uns | |
| im Rahmen sogenannter intellektueller Diskurse befinden, ist es manchmal | |
| unmöglich, sich ausdrücken.“ Es liege viel Unausgesprochenes zwischen den | |
| Zeilen: unsagbarer Schmerz, Wut, Rachegefühle. Manchmal stießen Worte eben | |
| doch an Grenzen. | |
| Tagebücher, Chroniken, Essays, Sachbücher: Das alles seien Instrumente, um | |
| die Basis für ein kollektives Gedächtnis zu legen. „Je mehr Beweise wir | |
| sammeln, desto größer ist die Hoffnung, dass der Russismus niemals siegen – | |
| und das russisch-sowjetische Imperium endgültig auseinanderbrechen wird.“ | |
| Es sei ihre tägliche Pflicht, ihr Schicksal, Zeugenschaft abzulegen: „Klar, | |
| dass das Jahrzehnte dauern wird.“ Andererseits seien Ukrainer viel | |
| interessanter, als nur „Zeugen“ zu sein: [2][„Wir haben eine reiche | |
| Geschichte und Kultur, einen großartigen Humor] – und verdienen es, auch | |
| außerhalb des russisch-ukrainischen Krieges und seines Diskurses im | |
| Rampenlicht zu stehen.“ | |
| Oleksandr Mykheds letztes Buch, das auf Deutsch den Titel „Dein Blut wird | |
| die Kohle tränken“ trägt (ibidem Verlag) und den Krieg in der Ostukraine | |
| beschreibt, stand 2020 auf der BBC-Longlist für das Buch des Jahres und | |
| wurde mit dem Yurii-Shevelov-Preis ausgezeichnet. | |
| 25 Dec 2022 | |
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