# taz.de -- Buch „Why we matter“: Den Blickwinkel wechseln | |
> Die Aktivistin und Politikwissenschaftlerin Emilia Roig erzählt in „Why | |
> we matter“ entlang ihrer eigenen Biographie, wie Rassismus funktioniert. | |
Bild: Emilia Roig fodert mehr Empathie bezügliche marginalisierter Gruppen | |
Es ist nicht lange her, da las ich unter einem Onlinebeitrag über | |
strukturellen Rassismus den Kommentar einer weißen Deutschen, sie selbst | |
habe noch nie Rassismus erlebt. Was nach Realsatire klingt, illustriert auf | |
tragikomische Weise nicht nur mangelnde Empathie, sondern auch die | |
Unfähigkeit, sich eine andere Realität als die eigene vorzustellen. Um den | |
Wechsel des Blickwinkels, stärker noch, um die Dekonstruktion dessen, was | |
viele weiße Menschen als „Normalität“ annehmen, geht es [1][Emilia Roig] … | |
ihrem Buch „Why we matter“. | |
Roig ist Politologin, musste sich in einem weiß und häufig männlich | |
geprägten Wissenschaftssystem etablieren und behaupten. Geboren wurde sie | |
in Frankreich, als Tochter einer schwarzen, aus Martinique stammenden | |
Mutter und eines weißen, jüdisch-algerischen Vaters. Später absolvierte sie | |
ihr Studium in Deutschland. | |
Roig kennt beide Wissenschaftssysteme – das französische und das deutsche – | |
und hat in beiden Diskriminierungserfahrungen gemacht. Zugleich stieß sie | |
im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Ausbildung auf jene theoretischen | |
Ansätze, die ihren Blick für die systemischen Ungerechtigkeiten schärfte. | |
„Mein familiärer Background, meine Lebenserfahrungen und meine Arbeit haben | |
mich dazu gebracht, das engmaschige Gefüge des kapitalistischen, | |
patriarchalen, auf der weißen Vorherrschaft basierenden Systems zu | |
dekonstruieren; sie haben mir die Kapazität verschafft, ein anderes | |
Narrativ zu artikulieren, das meine Existenz und Sichtweise reflektiert …“ | |
## Ein Handlungsaufruf | |
Stark ist bereits der Titel des Buchs: „Why we matter“. Das kann heißen: | |
Warum wir wichtig sind / etwas zählen. Es kann aber auch so viel heißen | |
wie: Warum es auf uns ankommt. So ist der Titel mindestens zweierlei: | |
Anlehnung an den Slogan „Black Lives Matter“; er kann aber auch als | |
Handlungsaufruf gelesen werden. Wer, wenn nicht Schwarze und PoC könnten | |
die zirkulierenden Diskurse über „Rasse“, Klasse und Wissen um eine andere | |
Perspektive bereichern? | |
Am stärksten ist der Text, wo er die persönlichen Erfahrungen mit Theorien | |
und Diskursen überblendet. Erstens, weil es noch dem letzten Zweifelnden | |
klarmachen sollte, dass diskriminierende Erfahrungen weder Einbildung noch | |
„Überempfindlichkeit“ sind. Zweitens, weil diese Erfahrungen viel | |
anschaulicher sind als abstrakte Theorie. | |
Man liest beispielsweise mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen, | |
dass die weißen Großeltern väterlicherseits ihren Rassismus auch vor der | |
dunkelhäutigen Schwiegertochter und den Enkelkindern äußern – aber diese | |
Großeltern sind zugleich liebevoll und gutherzig. Es handelt sich wohl um | |
einen extremen Fall von kognitiver Dissonanz: Die vermeintlich negativen | |
Eigenschaften Schwarzer treffen „natürlich“ nicht auf die eigenen | |
Enkelkinder zu. | |
An manchen Stellen allerdings will der Text zu viel. Ausgehend von der | |
Einsicht, dass Diskriminierungsformen nicht unabhängig voneinander | |
existieren, dass es also interdependente Diskriminierungsmuster gibt, geht | |
Roig all diesen Verschränkungen nach; allerdings touchiert sie die | |
Phänomene bisweilen zu oberflächlich. | |
## Welches Wissen anerkannt wird | |
So wenn sie im Kapitel zu der Frage, wer festlegt, wessen Wissen anerkannt | |
wird, auf europäische Hexenverbrennungen eingeht und sie als Versuch, | |
weibliches Wissen in den Bereichen Medizin und Pflanzenkunde zu tilgen, | |
liest. Das entspricht einer überholten feministischen Theorie, die | |
komplexere soziale Zusammenhänge ausblendet und ignoriert, dass auch Männer | |
Opfer von Hexenverfolgung wurden. | |
Das ist ein harmloses Beispiel. Problematischer ist es, wenn Roig [2][mit | |
Blick auf deutsche Kolonialverbrechen und den Völkermord an Herero und Nama | |
beklagt, dass die Schoah als singuläres Ereignis der deutschen Geschichte | |
gedeutet wird.] Die völlig gerechtfertigte Klage über die mangelnde | |
Anerkennung deutscher Schuld im Falle der Herero und Nama konstruiert so | |
unnötig eine Opferkonkurrenz. | |
Es gibt gute Gründe, die Schoah mit ihrem industriemäßig durchgeführten | |
millionenfachen Morden – und die damit verbundene Schuld – als zentralen | |
Punkt jüngerer deutscher Geschichte zu betrachten. Außerdem sind es | |
ausgerechnet Rechte, die den singulären Status der Schoah negieren. | |
Worum es Roig verständlicherweise geht, ist der Umstand, dass Schwarze | |
Leben nicht im selben Maße betrauert werden wie weiße. Dass weder | |
Schuldeingeständnis noch Buße erfolgen. Das ist in der Tat unerhört. | |
## Vermeintlich Weißes und Nichtweißes | |
Aber bei ihrem Versuch, Wissenshierarchien zu dekonstruieren, tappt sie in | |
die Falle, neue Kategorien vermeintlich weißen oder nichtweißen Wissens zu | |
konstruieren. Nicht die arabischen oder afrikanischen Mathematiker, | |
Astronomen oder Mediziner, von der Antike bis heute, bringt sie gegen die | |
Annahme weißer Wissensüberlegenheit in Stellung; stattdessen betont sie die | |
Bedeutung von Voodoo, Astrologie und Parapsychologie als andere Form des | |
Wissens. Ist das nicht Fortschreibung von Stereotypisierung? | |
Und doch: Trotz dieser Schwächen ist „Why we matter“ lesenswert, vor allem | |
wegen seiner klaren, eindringlichen Sprache. | |
22 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.intersectionaljustice.org/who-we-are/ | |
[2] /Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/!5685526 | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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