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# taz.de -- Rassismus im Gesundheitssystem: Schutzlos im geschützten Raum
> Schlechte Beratung und Vorurteile – mit fehlenden Daten lässt sich über
> Rassismus in Arzträumen fast nur anhand von Erfahrungsberichten
> diskutieren.
Bild: „Wir haben ein Forschungsdefizit zu Rassismus in der Gesundheitsversorg…
Sie sagten mir am Telefon, dass sie keine Geflüchteten behandeln. Sonst
müssten sie danach alles in der Praxis desinfizieren. Das sei ihnen zu viel
Aufwand“, erzählt Esra Mutlu der taz. Diese diskriminierende Aussage sei
nur ein Beispiel von vielem, das Mutlu in ihrem Arbeitsalltag mit
Gynäkolog:innen und anderem medizinischem Personal begegnet ist. Die
31-Jährige arbeitete drei Jahre lang für einen kirchlichen Träger in der
Geflüchtetenhilfe, organisierte Termine bei Ärzt:innen für
[1][geflüchtete Frauen] und begleitete sie.
Orte der medizinischen Versorgung sind geschützte Bereiche, wenig dringt
aus diesem Räumen heraus. Das ist wichtig – alles andere wäre ein Eingriff
in die Privatsphäre der Patient:innen. Gleichzeitig stellt dieser
Schutzraum ein Problem dar. Denn genau wie in anderen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens werden hier Fehler gemacht, gibt es Rassismus,
Sexismus und andere Formen der Diskriminierung. Sichtbar wird das nur, wenn
Menschen sich trauen, ihre Erfahrungen mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Mutlu erzählt, [2][dass Frauen oft nicht richtig beraten wurden]. Eine
35-jährige Geflüchtete aus Sierra Leone sei zum Beispiel schwanger
geworden, obwohl sie zuvor die Pille verschrieben bekommen hatte. Es
stellte sich heraus, dass die Gynäkologin der Frau nicht erklärt hatte, wie
sie die Pille einnehmen musste. Also nahm sie die Pille immer direkt vor
dem Geschlechtsverkehr und nicht täglich, wie es vorgesehen ist. Mutlu
kontaktierte die Ärztin. Ihre Reaktion: „Wir sind hier in Deutschland. Ich
kann einer erwachsenen Frau doch nicht wie einer 14-Jährigen erklären, wie
sie die Pille einnehmen soll.“
Fehler passieren, das ist klar, doch steckt dahinter ein System? Ob es im
Gesundheitswesen Diskriminierung aufgrund der Herkunft oder eines
Migrationshintergrundes gibt, darauf kann Theda Borde keine eindeutige
Antwort geben. Borde beschäftigt sich als Professorin für Sozialmedizin und
Public Health an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin mit der Problematik
der diversitätsgerechten Gesundheitsversorgung. Sie forscht zwar in diesem
Bereich – aber generelle Aussagen lassen sich noch nicht machen. „Wir haben
in Deutschland ein Forschungsdefizit zu Rassismus in der
Gesundheitsversorgung“, sagt Borde. Das Thema sei lange ignoriert worden.
Im Frauengesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts von 2020 heißt es
dann auch, dass „nur wenige Datenquellen“ vorliegen, die „differenzierte
Auswertungen für spezifische (Herkunfts-)Gruppen erlauben.“
## Uns fehlen die Daten
Anders gesagt: Es werden in Deutschland nicht genügend Daten erhoben, um
der Frage nachzugehen, ob Frauen mit Migrationshintergrund im
Gesundheitssystem diskriminiert werden – und ob das Auswirkungen auf ihre
Gesundheitsversorgung hat. Anders sieht es in den USA aus: Dort gibt es
umfassende Studien. Aus diesen geht beispielsweise hervor, dass die
Müttersterblichkeit Schwarzer Frauen zwei- bis dreimal so hoch ist wie die
weißer Frauen. Auch Schwarze Säuglinge versterben in den USA mehr als zwei
Mal häufiger als weiße Babys. Ob wir in Deutschland eine ähnliche oder eine
ganz andere Situation haben? Wir wissen es nicht, uns fehlen die Daten.
Aufgrund fehlender Daten lässt sich über Rassismus in der Medizin bislang
fast nur anhand von Erfahrungsberichten sprechen. Und die gibt es: Sie
reichen von schlechter Beratung über abwertende Kommentare bis hin zu
Vorurteilen. Ein gängiges Vorurteil in der Geburtshilfe sei, dass
„arabische Frauen immer laut schreien“, erzählt Wiebke Peters, die als
Hebamme in einer Berliner Klinik arbeitet. „Eine klassische Situation ist,
wenn wir bei der Übergabe zusammensitzen und eine Frau laut schreien hören.
Dann kommt fast jedes Mal der Spruch, dass das bestimmt wieder eine
arabische Frau ist, die so laut schreit, aber gar nichts hat und nur
Schmerzmittel will.“
Für das Vorurteil, dass „südländische“ Frauen „sich anstellen“, obwo…
keinen medizinischen Grund gebe, gibt es einen Fachbegriff: Morbus
Mediterraneus. Im DocCheck Flexikon, einem weit verbreiteten medizinischen
Online-Lexikon, findet sich diese Bezeichnung als Alternativbegriff für das
„Mittelmeersyndrom“ oder auch „Mamma-Mia-Syndrom“.
## Sprachliche Hürden?
„Von Morbus Mediterraneus zu sprechen, ist unter Ärzt*innen Standard“,
sagt auch Franziska Amissah, die als Oberärztin für Gynäkologie arbeitet.
Sie kennt diese „Mikroaggressionen“, wie sie sie nennt, nicht nur aus der
Perspektive der Ärztin, sondern auch als Patientin. „Ich bin Schwarz und
werde als Schwarze gesehen, natürlich habe ich Entsprechendes erlebt“, sagt
Amissah.
Bei der Entbindung ihres eigenen Kindes habe sie etwas erlebt, das auch die
Hebamme Peters aus ihrer Arbeit kennt: Sie erhielt keine
Periduralanästhesie, obwohl sie mehrmals darum bat. Der Grund: Die
sogenannte PDA zur Schmerzreduktion bei der Geburt wird in den Rücken
gespritzt und bedarf einer ärztlichen Aufklärung. Obwohl sie
Muttersprachlerin ist, bestand bei Amissah Skepsis, dass sie die Aufklärung
richtig verstanden hatte.
„Das Problem haben wir sowohl bei PDAs als auch bei Kaiserschnitten“, sagt
Borde. Mit ihrem Team hat sie 2012 eine Studie durchgeführt, in der sie die
Rate von PDA bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund mit Frauen
ohne Migrationshintergrund verglichen hat. Sie fand unter anderem heraus,
dass bei Frauen mit geringen Deutschkenntnissen signifikant weniger PDAs
durchgeführt wurden. Es bestehe oft „Unsicherheit, ob die Aufklärung
verstanden wurde“, erklärt Borde. „Durch die unzureichende Sprachmittlung
haben wir so etwas wie strukturellen Rassismus im Gesundheitswesen.“
## Strukturen genauer betrachten
Der Ausdruck „[3][struktureller Rassismus]“ führt bei vielen schnell zu
Abwehrreaktionen. Denn jene vielen Ärzt*innen, Pflegende, Hebammen und
andere, die im medizinischen Bereich arbeiten, die Menschen nach bestem
Wissen und Gewissen behandeln, fühlen sich dadurch an den Pranger gestellt.
Dabei wird vergessen, dass ein System rassistisch sein kann, ohne dass eine
einzige Person in diesem System rassistische Einstellungen hat.
Das Problem der Sprache verdeutlicht dieses Paradox. Bei der Entbindung
einer russischsprachigen Frau, erzählt die Berliner Hebamme Peters, wurden
die Herztöne des Kindes plötzlich schlecht, ein Not-Kaiserschnitt wurde
angeordnet. Die Schwangere sollte sich auf den Operationstisch umlegen,
aber verstand die Anweisung nicht. „Plötzlich war ganz viel Wut im Raum“,
sagt Peters. „Alle schrien auf die Frau ein, dass sie sich schnell umlegen
sollte. Aber sie verstand nichts und hatte nur Angst.“ Das Problem, davon
ist auszugehen, war nicht eine rassistische Haltung der Ärztin, sondern die
Kommunikation in einer Krisensituation.
„Es gibt Mittel, die sprachliche Verständigung zu ermöglichen“, sagt Bord…
Es gebe auch für die Gesundheitsversorgung qualifizierten
Dolmetscherservice. Einzelne Ärzt:innen, Hebammen und Pflegekräfte mit
rassistischen Einstellungen sind das eine. Doch drängender ist es, die
Strukturen im Gesundheitssystem abzubauen, die Rassismus und
Diskriminierung ermöglichen oder begünstigen.
## Kampf gegen Windmühlen
Dies können neben Dolmetscherservice zum Beispiel Antirassismus- oder
Integrationsbeauftragte an Kliniken sein. Das UKE Hamburg hat als eine von
wenigen Kliniken in Deutschland seit vergangenem Jahr eine solche
Beauftragte, an die sich sowohl Patient*innen als auch Personal mit
Beschwerden oder Fragen wenden können.
Ein erster wichtiger Schritt. Doch um angemessene Maßnahmen im Umgang mit
Rassismus zu schaffen, braucht es Daten. Außerdem müssen Menschen, die
Diskriminierung erfahren oder beobachten, eine Struktur haben, an die sie
sich wenden können. Personal muss sich trauen können, Vorfälle zu melden.
Und das ist meistens noch nicht der Fall. Keine der Frauen, die in diesem
Text zitiert werden, möchte ihren Namen öffentlich nennen, aus Angst vor
negativen Folgen für ihre berufliche Stellung.
„Manchmal fühlt es sich an, als würde man gegen Windmühlen kämpfen“, sa…
die Ärztin Amissah. „Aber letztendlich geht es doch darum, unsere
Patient*innen zu respektieren. Alle unsere Patient*innen.“
8 Mar 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Gilda Sahebi
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