# taz.de -- Die AfD und ihr Normalitätsbegriff: Deutschland brutal | |
> Die AfD-Wahlkampfkampagne bezieht sich auf den Begriff der „Normalität“. | |
> Dieser ist aber alles andere als harmlos. | |
Anfang dieser Woche gab die AfD ihre Spitzenkandidatur für die anstehende | |
Bundestagswahl bekannt. Das eindeutige Mitgliedervotum für die | |
Fraktionschefin [1][Alice Weidel] und den Parteivorsitzenden Tino Chrupalla | |
stärkt den völkisch-nationalistischen Flügel innerhalb der Partei. | |
Angesichts dessen wirkt der Slogan, mit dem die Partei in den | |
Bundestagswahlkampf zieht, geradezu höhnisch: „Deutschland. Aber normal“. | |
Der Normalitätsdiskurs ist dieser Tage allgegenwärtig, im politischen | |
Diskurs wird die „Rückkehr in die Normalität“ mithilfe von Impfungen und | |
Testungen geradezu beschworen. Konnte die [2][AfD-Wahlkampagne] bis vor | |
Kurzem noch als Versuch gesehen werden, eine vermeintlich verunsicherte, | |
pandemiegenervte „normale“ Mitte der Gesellschaft als Wähler_innenschaft zu | |
mobilisieren, ist spätestens jetzt klar: Sie ist der Versuch, | |
völkisch-nationalistische Positionen nicht nur innerhalb der Partei, | |
sondern auch in der Gesellschaft zu normalisieren. Die AfD-Wahlkampagne | |
reiht sich ein in eine Rhetorik der Angst, des Hasses und der Hetze | |
gegenüber Andersdenkenden und gesellschaftlichen Minderheiten – nicht | |
trotz, sondern gerade auch mit und im Rückgriff auf den Begriff der | |
Normalität. | |
Einer der AfD-Kampagnenfilme beginnt mit einer Stimme aus dem Off: „Normal | |
– Was ist das eigentlich heute?“ Dazu sehen wir, wie „normal“ in eine | |
Online-Suchmaschine eingegeben wird. Es folgen Szenen familiären | |
Zusammenseins, die ästhetisch und im Stil eines Super-8-Amateurfilms | |
gehalten auf die 1960er oder 70er Jahre verweisen. „Früher hieß es ja | |
immer, normal wär’ irgendwie langweilig. Stinknormal und spießig.“ | |
Visueller Wechsel in die Gegenwart, wir sehen Bilder von Hinweisschildern | |
mit Corona-Hygienemaßnahmen im öffentlichen Raum, von geschlossener | |
Außengastronomie. „Aber heute? Ist nicht heute ‚normal‘ auf einmal das, … | |
uns fehlt? Das, was wir eigentlich wollen.“ Die unterlegte Musik wird | |
dramatischer, es folgen Bilder einer maskenhaft geschminkten jungen Frau | |
mit Megafon, einer Antifa-Flagge im Wind vor dem Brandenburger Tor, einem | |
Front-Transpi der G20-Proteste, brennende Barrikaden: „Denn die Welt um uns | |
herum ist so verrückt geworden“. Erneuter Wechsel zu emotional aufgeladenen | |
Familienszenen – „Und wir merken auf einmal, dass ‚normal‘ etwas ganz | |
Besonderes ist. … Normal ist eine Heimat“ – Eine Frau streicht mit ihrer | |
Tochter den Gartenzaun – „… sind sichere Grenzen…“ – Einem Mann wer… | |
hinten Handschellen angelegt – „… sind saubere Straßen.“ Der Blick auf… | |
Dorfkirche in idyllischer Wald- und Wiesenlandschaft. – „Normal ist einfach | |
schön“ – und schließlich Berlin im Abendrot – „Deutschland. Aber norm… | |
Das Medienecho auf die bereits zum Dresdner Parteitag Mitte April | |
vorgestellte AfD-Wahlkampagne fiel auch bei kritischer Distanz zur Partei | |
zunächst erstaunlich milde aus. So schrieb Reinhard Mohr in der Neuen | |
Zürcher Zeitung, die AfD gehe mit einem „gefühlvollen Heimatfilm“ in die | |
Bundestagswahl, „ein bisschen nostalgisch, aber ohne Hass“. Die Tagesschau | |
merkte an, der Slogan sei „in einer Zeit, in der aufgrund der | |
Coronapandemie das öffentliche Leben tatsächlich alles andere als normal | |
ist, kein unpassender Spruch“. Die Journalistin und Buchautorin Maria | |
Fiedler bezeichnete die AfD-Wahlkampagne in einem Gespräch mit dem | |
Deutschlandfunk als „ziemlich klug“, aber in ihrer „Selbstverharmlosung“ | |
auch „gefährlich“. Die AfD-Rhetorik von der Normalität sehe sie als | |
Versprechen einer „Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit, in der | |
Migration, Klimawandel und Corona keine Rolle spielten“. | |
## Normalität ist nicht so harmlos, wie es scheint | |
Was all diese Einschätzungen jedoch verkennen, ist, dass der Begriff der | |
Normalität und das mit ihm einhergehende Konzept des Normalen bei Weitem | |
nicht so harmlos und frei von Hass und Gewalt ist, wie es scheint. Vielmehr | |
ist die Geschichte der Normalität immer schon eine Geschichte der | |
Ausgrenzung und des körperlichen Leidens – was den Begriff im Slogan einer | |
vom Verfassungsschutz beobachteten und zumindest in Teilen rechtsextremen | |
Partei als durchaus passend erscheinen lässt. Die Unschuld, mit der der | |
Begriff im medialen Diskurs daherkommen kann, verblüfft auch deshalb, weil | |
„Normalität“ immer wieder ein Schlüsselbegriff des politischen Diskurses … | |
Deutschland war. | |
Die deutsche Sehnsucht nach Normalität hat eine Geschichte: Jürgen Link, | |
emeritierter Literaturwissenschaftler und Diskurstheoretiker, beschreibt in | |
seinem großangelegten, 1997 erschienenen „Versuch über den Normalismus“ | |
„Normalität“ im medienpolitischen Diskurs des wiedervereinigten | |
Deutschlands als eine „diskurstragende Kategorie“, ohne die dieser | |
zusammenbräche „wie ein Kartenhaus“. Ob in Bezug auf eine | |
De-facto-Normalisierung des Naziregimes in der frühen BRD, die konservative | |
Sicht auf die Teilung Deutschlands nach 1945 als „anormal“ oder die | |
Proklamierung einer Rückkehr zur Normalität nach 1989 – der deutsche | |
Normalitätsdiskurs, so Link, sei stets überdeterminiert, widersprüchlich | |
und konzeptionell unausgereift gewesen. Eine Vorstellung, die davon | |
ausging, das Wetter lasse sich mithilfe der Manipulation des Thermometers – | |
also eines Diskurses darüber, was „normal“ und was „abnormal“ sei – … | |
## Das Normale ist ein Konstrukt | |
An dieser Stelle soll es aber nicht so sehr ums Wetter, sprich: um die | |
Veränderungen gehen, die etwa den Normalitätsdiskurs der AfD produziert | |
haben oder die dieser Diskurs nach sich ziehen könnte, als vielmehr um den | |
Begriff der Normalität selbst. Denn das Normale ist ein Konstrukt, das | |
überhaupt erst im Verhältnis zu seinem Gegenüber bestehen kann: das | |
Pathologische der Psychiatrie, die Abweichung der Statistik. Bereits 1995 | |
arbeitete der amerikanische Kulturwissenschaftler Lennard Davis in | |
„Enforcing Normalcy“ heraus, dass die Begrifflichkeiten Normalität und | |
Behinderung „Teil desselben Systems“ seien, die wechselseitig aufeinander | |
angewiesen sind. Erst das Konzept der „Behinderung“ lasse Körper „normal… | |
werden, insbesondere in Bezug auf Funktionalität und Aussehen. Dabei ist | |
das Normale – ebenso wie die Norm, der Durchschnitt und die Abnormalität – | |
eine historisch recht junge Idee, die erst um die Mitte des 19. | |
Jahrhunderts herum Eingang in den Wortschatz gefunden hat. | |
Die erste Theorie des Normalen ist die Statistik, ihr prominentester Kopf | |
der französische Mathematiker Aldolphe Quetelet (1796–1874). Beruhend auf | |
den Vermessungen französischer Rekruten entwickelte Quetelet das Konzept | |
des Durchschnittsbürgers oder mittleren Menschen (l’homme moyen), dessen | |
(bio-)politischer Hintergrund eine möglichst „rationale“, das heißt eine | |
knappe Versorgung von Soldaten mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft war. | |
Quetelets mittlerer Mensch verkörperte aber von Anfang an nicht nur einen | |
statistischen Standard, sondern funktionierte auch normativ: „Er“ war nicht | |
nur der mittlere Wert menschlicher Diversität, sondern ein Vorbild, wie | |
„man“ zu sein hatte: Perfekt, schön und gut. | |
Im Gegensatz zum antiken Konzept des Ideals, einer letztlich unerreichbaren | |
Vorstellung, ist das Normale nicht nur körperlich messbar und | |
quantifizierbar, sondern es wirkt immer schon konformierend – indem es | |
aufzeigt, in welche Richtung etwa ein Körper umgestaltet werden muss, um | |
als normal zu gelten. Dies wird deutlich anhand des Body Mass Index (BMI), | |
der ebenfalls auf Quetelet zurückgeht und trotz erheblicher Kritik nach wie | |
vor Definitionen von Kleinwüchsigkeit, Normal- oder Übergewicht zugrunde | |
liegt, darunter auch denen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). | |
Soziale Institutionen wie Krankenhäuser, Schulen, Gefängnisse und Kasernen, | |
so zeigte der französische Philosoph Michel Foucault in seinem | |
umfangreichen Werk, wurden Teil einer umfassenden Normierung in der | |
Moderne. Diese funktionierte nicht mehr beziehungsweise nicht nur durch die | |
Anwendung roher Gewalt, sondern mithilfe der disziplinierenden Macht der | |
Norm und der sozialen Kontrolle, die im Konzept des Normalen immer schon | |
angelegt sind. Aber auch die eugenische Bewegung, insbesondere der | |
britische Naturforscher und oft als Vater der Eugenik bezeichnete Sir | |
Francis Galton (1822–1911), war wegweisend für die praktische Anwendung | |
dieser Konzepte auf ganze Bevölkerungen. Eine Bewegung, die in Genoziden in | |
den europäischen Kolonien und im systematischen Massenmord der Nazis unter | |
Berufung auf die sogenannte „Rassenhygiene“ mündete. | |
## Was sind Normalmaße? | |
Die Vorstellung des Normalen und die darauf basierenden | |
bevölkerungsstatistischen Maße wie etwa die Normalverteilung sind auch in | |
unserer Gegenwart noch viel wirkmächtiger, als es auf den ersten Blick | |
vielleicht erscheinen mag. [3][Körperliche Normalmaße] bestimmen nicht nur, | |
ob wir als „zu klein geratene“ Heranwachsende einer Hormontherapie | |
unterzogen oder als „fettleibig“ pathologisiert werden, sondern sie liegen | |
auch den normierten Maßen von Flugzeugsitzen oder Bahnhofsbänken, von Tür- | |
und Waschbeckenhöhen, Schuh- und Kleidergrößen zugrunde. Wer da nicht rein | |
passt, sich unwohl oder eingezwängt fühlt, bekommt im Alltag schnell das | |
Gefühl, mit dem eigenen Körper stimme etwas nicht. Die Disability Studies | |
haben hierfür den Begriff einer „behindernden Gesellschaft“ geprägt. | |
Das Bedürfnis, als „normal“ wahrgenommen zu werden, scheint insbesondere in | |
solchen sozialen Zusammenhängen verankert, die von Kontrolle, | |
Konformitätsdruck und Angst geprägt sind. Der Vorwurf, die | |
gesellschaftliche Normalität zu stören, ist eine Form der strukturellen | |
Gewalt. Insbesondere wenn es um menschliche Körper geht, ist Normalität | |
eine Vorstellung, von der wir uns in einer solidarischen und gegenseitig | |
wertschätzenden Gesellschaft befreien sollten. Selbst und gerade in | |
Coronazeiten bleibt der Bezug auf „Normalität“ problematisch: Wer | |
definiert, was „normal“ ist? Normalität für wen? | |
„Deutschland. Aber normal“ schließlich ist der Versuch, | |
völkisch-nationalistische Positionen in der Mitte der Gesellschaft zu | |
platzieren und damit Ausgrenzung, strukturelle Gewalt und Ressentiments | |
gegenüber Andersdenkenden und gesellschaftlichen Minderheiten zu | |
normalisieren. | |
30 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Liebelt | |
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