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# taz.de -- Zeitschrift: Die Hölle der Banalität
> Der "Merkur" kämpft in seinem diesjährigen Sonderheft ermattet für unsere
> Dekadenz.
Bild: Eine von diversen Imbisssituationen.
Einmal mit Karl Heinz Bohrer in der Schlange bei McDonalds stehen,
gemeinsam die Frage "Hamburger Royal TS" oder "BigMac" entscheiden und dann
beim Ausspritzen des Ketchups für die mittlere Portion Pommes auf das mit
Ronald-Mc-Donald-Werbepapier belegte Tablett die Baudelaire-Rezeption beim
späten Ernst Jünger erörtern: Es gibt lang gehegte Kolumnistenträume. Sie
kommen einem bei der Lektüre des diesjährigen Merkur-Sonderhefts zum Thema
"Dekadenz" wieder in den Sinn: Zielgerichtet steuert Mitherausgeber Bohrer
im Eröffnungsbeitrag wieder einmal "diverse Imbisssituationen" der zu
"Kaufhöhlen" mutierten deutschen Bahnhöfe an, "wo Wurst, Kuchen, Fisch oder
Bierangebote der Bewegung der wirklich Reisenden im Wege stehen". Die
"Hölle der Banalität" (Bohrer) herrsche überall, ob in Gestalt junger
Frauen "von walrossartiger Dimension" oder dem die Straße hinabschlurfenden
Schlafanzugträger in Ostdeutschland, der mit seiner Schamlosigkeit
signalisiere: "Auch ihr seid Schlafanzüge."
Niedergangsszenarien sind bekanntlich eine heikle Angelegenheit, nicht nur
weil man das "Früher war alles besser" umstandslos auf sich selbst,
intellektuelle Zeitschriften oder taz-Kolumnen übertragen kann: Denn man
muss dabei stets von glorioseren Vergangenheiten ausgehen. Und wer sich
dann in diesen vorgeblich schöneren Welten umschaut, wird feststellen, dass
die zeitgenössische Kulturkritik in der jeweiligen Gegenwart immer schon
Furchtbarkeiten entdeckt hat. Egal: Wer juchzt nicht gerne auf der
Abwärtsspirale, anstatt ernsthaft ächzend Gipfel zu erklimmen? Vielleicht
liegt es an den als Paradoxie getarnten entgegengesetzten Argumenten
("Dekadenz ist toll, weil dadurch der locker-tolerante Westen triumphiert"
versus "Dekadenz ist doof, weil sie den Westen schwächt"), dass dieses Heft
etwas ermattet daherkommt. Aber einigermaßen niveauvoll sollten Talfahrten
bitte schön sein. Das kann man von Uwe Simons Gefasel über Oswald Spengler
nicht behaupten. Der Autor begeistert sich an den "schlagenden Prognosen"
dieses in der Weimarer Republik wirkmächtigen Verfassers von "Der Untergang
des Abendlandes". Doch anstatt Simon mit Spengler den Niedergang jeder
Kultur, auch der unsrigen, akzeptiert (was ohnehin eine ziemlich
fragwürdige Perspektive wäre), will er urplötzlich hoffen, dass Spengler
"sich auch einmal irrt", und ergeht sich in reaktionären Tiraden über den
verweichlichten Westen. Gilt Spengler nun oder nicht?!, möchte man den
desorientierten Autor fragen.
Stärkstes Indiz zeitgenössischer Dekadenz in unseren Sozialwissenschaften
ist der Aufstieg des Bremer Professors für Sozialpädagogik Gunnar Heinsohn,
Jahrgang 1943, zum häufig zitierten Experten für Geburtenraten. Gerne
möchte man einmal lesen, was er Mitte der Siebzigerjahre veröffentlicht
hat. Mit seiner wilden Monokausalität würde er keine soziologische
Zwischenprüfung überstehen. Unter der bedrohlichen Überschrift
"Schrumpfender Westen, aufsteigender Islam" lässt er sich einmal mehr über
den angeblichen Zusammenhang zwischen Geburtenraten und Gewalt aus: Viele
junge Männer machten Gesellschaften aggressiv, daher sei der
geburtenschwache Westen gerade dabei, im Irak, Afghanistan, eigentlich
weltweit zu verlieren. Der biologistische Atavismus, dem Heinsohn am Ende
frönt (die fröhlich abkassierende Sozialhilfemutter kriege leider viel mehr
Kinder als die Karrierefrau), dürfte irgendwann beim Plädoyer für
Zwangssterilisation landen. Und Ulf Poschardts bei Bohrer schon mal klüger
gelesene Klagen über die Stillosigkeit unserer Gegenwart kann man nur noch
psychologisch deuten: als Flucht vor seinem Leiden am Chefposten bei Vanity
Fair, jener hochglänzenden Inkarnation heutigen Stilmangels.
Wo bleibt das Positive? Neben solch krudem Pamphletismus finden sich viele
kluge Essays. Kathrin Passig, Bachmann-Preisträgerin und zentrale Agentin
der "Zentralen Intelligenz Agentur", unterwandert jetzt auch den Merkur mit
einem schönen Text über die historische Dekadenzfurcht des Militärs, das
noch jede technische Neuerung, vom Maschinengewehr bis zur elektronisch
gesteuerten Bombe, als unheroisch abgelehnt hat. Und Gerhard Henschel
schildert anhand herrlicher Beispiele von Dekadenzvorwürfen die
Großstadtphobie, die unsere Moderne seit zweihundert Jahren prägt. Den
eigentlichen Leitartikel schreibt der Soziologe Rainer Paris über das
Potenzial der Frechheit. Bei solcher Lektüre kann man lustvoll in den
Burger beißen; genügend Geschmacksrichtungen hält das Sonderheft bereit.
5 Sep 2007
## AUTOREN
Alexander Cammann
## TAGS
Nachruf
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