# taz.de -- Der Mythos von Wembley: Kam Netzer aus der Tiefe des Raumes? | |
> Das größtes Spiel der deutschen Fußballgeschichte fand 1972 in Wembley | |
> statt – sagt man. Der unvergessene Held: Günter Netzer. Die | |
> Dekonstruktion eines Mythos. | |
Bild: Ein Fußballplatz hat Länge und Breite – aber Tiefe? Woher kam dieser … | |
Das 3:1 der deutschen Nationalmannschaft in Wembley gegen England vor genau | |
40 Jahren gilt als größtes Spiel der deutschen Fußballgeschichte. Und | |
Günter Netzer, so geht die Fußballsage, war der Held dieses Spiels. | |
Der damalige FAZ-Literaturchef Karl Heinz Bohrer hat den Wembley-Mythos mit | |
einem Satz manifestiert: „Netzer kam aus der Tiefe des Raumes“. Der Satz | |
ist in den deutschen Zitatenschatz eingegangen und steht in der | |
Fußballgeschichte direkt neben „Aus dem Hintergrund müsste Rahn | |
schießen...“ des 54er-Reporters Herbert Zimmermann. | |
Wembley und seine Mythisierung hat Netzer trotz gerade mal 37 Länderspielen | |
zu einem zentralen Helden der deutschen Fußballgeschichte gemacht. Aber kam | |
er wirklich aus der Tiefe des Raumes? Und wie sah das aus? Ein normales | |
Fußballfeld hat zwar Länge und Breite, aber in der Regel keine Tiefe. | |
Am 29. April jährt sich das Spiel zum vierzigsten Mal: Zeit für eine | |
ordentliche Mythos-Inspektion. | |
Wenn man die Leute fragt, die all die Jahre den langjährigen | |
Merkur-Herausgeber Bohrer zitiert haben, stellt sich etwas Seltsames | |
heraus: Den Originaltext hat keiner von ihnen gelesen. Es ist ein Essay, | |
der am 27. Oktober 1973 in der FAZ erschien. Eineinhalb Jahre nach dem | |
Spiel! Er handelt davon, wie Bohrer im Herbst 1973 nach Wembley rausfährt, | |
weil England gegen Polen um die WM-Qualifikation spielt – und scheitert. | |
Aber wann kommt Netzer aus der Tiefe des Raumes? Den Satz gibt es gar | |
nicht. Es heißt: „Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer | |
hatte ,thrill‘.“ | |
Der Text handelt überhaupt nicht von Günter Netzer. Es geht eigentlich um | |
Wembley. | |
## Thrill. Erbeben. Schauer | |
Das ist für Bohrer der Ort, der dem Fußball etwas hinzufügt, was nicht | |
allein auf dem Rasen entstehen kann. Thrill. Erbeben. Schauer. Bohrer war | |
1972 gar nicht in Wembley. Er sah das Spiel im Fernsehen. Er habe später | |
diesen Text geschrieben. „Und dabei fiel mir dieser ominöse Satz ein. Und | |
die Redaktion hat ihn so gedruckt.“ Das war's. Bohrer sah in Netzers Spiel | |
seine hohen ästhetischen Ansprüche eingelöst. „Weiter gibt es da nichts zu | |
sagen.“ | |
Wenn man sich dieses Viertelfinal-Hinspiel der EM 1972 dann in voller Länge | |
ansieht, stellt sich heraus: Netzer agiert nicht wie eine Nummer 10 von | |
damals, sondern wie ein heutiger sogenannter Sechser vor der Abwehr - nur | |
dass er keine Bälle erobert. Aber dadurch hat auch er - wie Libero Franz | |
Beckenbauer - das Spiel vor sich. Und manchmal eröffnete er es nicht mit | |
einem Pass, sondern mit einem Sprint durch das gesamte Mittelfeld. Damit | |
ist offenbar die "Tiefe des Raumes" gemeint, aus der er kommt. Zählbares | |
entsteht daraus allerdings nicht. | |
Nach 85 Minuten kommt der Moment, der Günter Netzer zu dem gemacht hat, was | |
er ist: Der historische Strafstoß zum 2:1. Der größte Spieler der Welt | |
bleibt in der entscheidenden Sekunde im Hexenkessel von Wembley eiskalt und | |
haut das Ding rein. So war es doch? | |
Nein, wenn man die Sache genau betrachtet, muss man sagen: So war es nicht. | |
Netzers Elfer ist ein schwach und ängstlich geschossener Ball mit der | |
Innenseite. Banks hat beide Hände hinter dem Ball - und lässt ihn trotzdem | |
rein. | |
Nach genauer Analyse des Wembley-Spiels bleibt eine erstaunliche und neue | |
Erkenntnis: Ein deutscher Spieler hat alle drei Tore vorbereitet. Er legt | |
Hoeneß' Tor zum 1:0 auf, er bereitet Netzers 2:1 vor, er leistet den | |
entscheidenden Ballgewinn vor Müllers 3:1. Dieser Spieler ist eindeutig der | |
Matchwinner. Seltsamerweise kommt er aber im Mythos Wembley überhaupt nicht | |
vor. Bohrer hat ihn ignoriert. Alle haben ihn ignoriert. Die meisten wissen | |
vermutlich nicht mal, dass dieser Mann überhaupt mitgespielt hat. | |
Der Mann heißt Sigi Held. | |
Wie der wahre Held die Sache heute sieht, wie sich seine Erinnerung von der | |
von Netzer und Beckenbauer unterscheidet und was Karl Heinz-Bohrer zu Held | |
einfällt, das lesen Sie in der Ganzen Geschichte in der [1][sonntaz vom | |
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20 Apr 2012 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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