# taz.de -- Legende der Beat-Generation gestorben: Wer stahl Amerika? | |
> Sein Bookstore steht in jedem San-Francisco-Reiseführer. Lawrence | |
> Ferlinghetti verhalf der Beat Generation zum Durchbruch. Nun ist er | |
> gestorben. | |
Bild: Dichtung und Vermittler von Dichtung: Lawrence Ferlinghetti | |
Die Beat Generation war keine bloße New Yorker Veranstaltung, es gab auch | |
eine Westküsten-Abteilung, die San Francisco Renaissance. Jack Kerouac | |
pries sie als „eine Art alt-neuer Zen-Wahnsinnsdichtung“ und dachte dabei | |
an Michael McLure, Gregory Corso, Gary Snyder, Phil Lamantia, Philip Whalen | |
und nicht zuletzt an Lawrence Ferlinghetti, der mit seinem City Lights | |
Bookstore und dem gleichnamigen Verlag zum Geburtshelfer dieser | |
literarischen Bewegung werden sollte. | |
Während sich die etablierten Verlage in Zurückhaltung übten, | |
veröffentlichte er „Whitmans wilde Kinder“, teilweise zum ersten Mal, | |
darunter spätere Klassiker wie [1][Allen Ginsbergs „Howl“] und Frank | |
O’Haras „Lunch Poems“. Ferlinghettis Rolle als Zeremonienmeister der San | |
Franciscoer Literaturszene brachte ihm vermutlich mehr Ruhm ein als das | |
eigene Werk, auch wenn sein zweiter Gedichtband „A Coney Island of the | |
Mind“ längst zum Kanon gehört und das fünftes Gedicht dieses Zyklus in | |
vielen US-Anthologien steht. | |
Es geht darin um einen „Zimmermann / aus irgend so ner überholten Gegend | |
wie Galiläa“, der „voll den Durchblick“ zu haben glaubt und den man „z… | |
Abkühln“ an einen Baum hängt. „Und seitdem bastelt sich jeder / unentwegt | |
Modelle / von diesem Baum / mit Ihm oben dran / und schmalzen dauernd | |
Seinen Namen / und rufen Er soll doch mal runterkommen / und einsteigen / | |
in ihre Combo / als wär er der heiße Typ / der die Kanne blasen muss / ohne | |
den sie’s nicht richtig gebacken kriegen / Nur dass er nicht runterkommt / | |
von Seinem Baum / Hängt da bloß so rum / an Seinem Baum / und sieht ganz | |
schön alle aus / und echt cool / und außerdem / wie’s in den letzten | |
Schlagzeilen / der Spätnachrichten / aus wie üblich unverlässlichen Quellen | |
heißt / echt tot“. | |
Wie alle Beats machte Ferlinghetti den bigotten „Squares“ die Hölle heiß … | |
und nimmt sich den Jazz als Reaktionsbeschleuniger sowie ästhetisches | |
Vorbild. Legendär sind die Jazz-und-Lyrik-Sessions im Nachtclub The Cellar, | |
wo die Hausband ihm hilft, seine „oral messages“ unter die Leute zu | |
bringen. Die Live-Performance ist der eigentliche Aggregatzustand seiner | |
Dichtung. | |
„Die Druckerpresse“, glaubte Ferlinghetti, „hat die Poesie so stumm | |
gemacht, dass wir vergessen haben, welche Macht Dichtung als,mündliche | |
Botschaft' besitzt. Der Klang des Straßensängers wie des Predigers der | |
Heilsarmee sind nicht verächtlich.“ | |
## Sehnsuchtsort Amerika | |
Das richtet sich vor allem gegen die Dichtung der Eggheads, deren | |
Formensprache und gelehrte Geheimbündelei die unakademische Leserschaft mit | |
Absicht ausschließt. „Truth is not the secret of a few“, ruft er ihnen | |
bereits in seinem Debüt „Pictures of the Gone World“ zu und weiß sich dam… | |
in der Tradition des Ur-Demokraten Walt Whitman und seinem Enkel im Geiste | |
William Carlos Williams, deren freie Verse er für seine Dichtung fruchtbar | |
macht. | |
Das alte, archaische Amerika blieb für ihn ein Sehnsuchtsort, der als | |
Referenzgröße die kapitalistische Verelendung der zeitgenössischen USA umso | |
deutlicher zeigt. „Wer stahl Amerika?“, fragt er in „Starting from San | |
Francisco“, dem Titelgedicht seines fünften Lyrikbands. | |
Der Zweite Weltkrieg, der ihn als Marinekapitän nicht nur an die Küste der | |
[2][Normandie führt zum D-Day], sondern auch zu den „Landschaften der | |
Hölle“ von Nagasaki „sieben Wochen nach Abwurf der zweiten Bombe“, macht | |
ihn endgültig zum Pazifisten. Er ist auch bereit, sich dafür zu engagieren | |
und seine Dichtung in den Dienst zu nehmen. Wie bei vielen, allen voran | |
Allen Ginsburg, nicht immer zu ihrem Vorteil. | |
## Politisierte Gegenkultur | |
Er wird eines der Gesichter der sich politisierenden Gegenkultur, gehört zu | |
den Stars auf dem „Human Be-In“, dem ersten großen Hippie-Stammestreffen, | |
besucht Anti-Vietnam-Demos, Aufmärsche gegen Atomwaffen, und als er mit | |
anderen Friedensaktivisten eine Musterung neuer Rekruten behindert, steckt | |
man ihn ein paar Wochen ins Gefängnis. Beim FBI steht er da längst auf der | |
Liste der Staatsfeinde. Man hat ihn im Visier. | |
Es lag wohl an Ferlinghettis nie erlahmendem politischen Engagement und | |
seiner festen Verankerung im links verzeckten Milieu, dass ihn die | |
konservativen literarischen Institutionen viel zu lange ignoriert haben. Er | |
gehörte nie so richtig dazu. Erst im hohen Alter kamen die bedeutenden | |
Auszeichnungen. Mit 84, beschämend spät, wählte man ihn in die American | |
Academy of Arts and Letters. | |
## Poetisches Leben | |
Mittlerweile ist die Beat Generation Teil der Lehrpläne, sein City Lights | |
Bookstore, wo er sich bis ins hohe Alter regelmäßig sehen ließ, steht als | |
Sehenswürdigkeit in jedem San-Francisco-Reiseführer, sein Verlag publiziert | |
weiterhin Literatur, nicht nur in der Beat-Tradition, und er | |
veröffentlichte noch 2018 mit „Little Boy“ eine Art Autobiografie, die | |
konventionell beginnt und schließlich als reißender Wortstrom über die Ufer | |
tritt, eine poetische Meditation, im Wortsinn ohne Punkt und Komma, über | |
sein inneres und äußeres Leben, das selbst oft genug poetisch war. | |
Am Montag ist Lawrence Ferlinghetti kurz vor seinem 102. Geburtstag in New | |
York gestorben. | |
Dieser Text erschien am 23.3.2019 in der Printausgabe der taz als | |
Besprechung der Autobiografie „Little Boy“. Anlässlich des Todes von | |
Lawrence Ferlinghetti aktualisierten wir ihn und stellen ihn erstmals | |
online. | |
24 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
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