# taz.de -- Berliner Pogrom am 5. November 1923: Das vergessene Pogrom | |
> Vor 100 Jahren überfiel ein antisemitischer Mob plündernd die im Berliner | |
> Scheunenviertel lebenden Jüdinnen und Juden. Eine Spurensuche. | |
Bild: Berlin, Scheunenviertel, Grenadierstraße im Jahre 1928 | |
„Ich bin seit 35 Jahren in Deutschland und habe meine Wohnung seit 1904 in | |
Berlin. Ich betreibe in dem Haus Grenadierstraße 14 eine Gastwirtschaft. Am | |
Montag, dem 5. 11. 23 gegen ½ 12 Uhr vormittags kam ein Haufen Plünderer | |
auf meine Gastwirtschaft zu, drückte mit Gewalt die Türen ein und nahm | |
sämtliche in der Gastwirtschaft befindlichen Waren fort. Bei der Plünderung | |
sind mir auch 2 Billionen Mark, die die Tageseinnahmen darstellten, | |
gestohlen. Polizeibeamte waren zugegen, haben die Plünderer aber nicht | |
verhindert.“ | |
Protokoll des Gastwirts Chaim Kronguth | |
Das Haus Grenadierstraße 14 steht heute nicht mehr. Die Straße, 300 Meter | |
lang, ist herausgeputzt mit den sanierten Fassaden der Häuser. Einige | |
renovierte Plattenbauten aus DDR-Zeiten ergänzen den Bestand. Von der | |
Münzstraße aus betrachtet reihen sich auf der linken Seite ein Restaurant, | |
Schuhgeschäft, Bekleidungsladen und noch ein Restaurant aneinander. An | |
einem warmen Herbstmittag sind die Stühle auf dem Bürgersteig der | |
Speiselokale gut besetzt. Es gibt hier, nicht weit vom Alexanderplatz | |
gelegen, keine besonderen Auffälligkeiten. Nur heißt die Straße schon lange | |
nicht mehr nach den Grenadieren, sondern erinnert an den 1944 | |
hingerichteten kommunistischen Widerstandskämpfer [1][Bernhard Almstadt]. | |
Vor 40 Jahren, als ich zum ersten Mail diese Straße entlanglief, sah es | |
hier noch etwas anders aus. Frisch aus Westdeutschland nach Westberlin | |
zugezogen, hatte ich ein Buch entdeckt, in dem von einem jüdischen Viertel | |
die Rede war, ja, nicht nur das, in diesem Viertel, so stand da | |
geschrieben, hätten sogenannte Ostjuden gelebt, in einer Art Armutsghetto. | |
Ich besorgte mir ein Tagesvisum für Ostberlin. Arm ging es in der | |
Almstadtstraße immer noch zu, mit Kohlebergen auf dem Bürgersteig, | |
verrotteten Hinterhöfen, abgeplatzten Fassadenstücken, mutmaßlich Außenklos | |
auf dem Treppenabsatz. | |
Nur Juden gab es keine mehr. Aber doch letzte Zeichen: verwaschene | |
hebräische Buchstaben an einer Wand. Ein großer Davidstern hing an einer | |
Brandmauer, der wohl einmal das Innere eines Bethauses geschmückt hat. | |
Ansonsten: Verfall. | |
## Vor exakt 100 Jahren | |
Die Erinnerung verläuft in Schichten. Manche sind dick und leicht | |
zugänglich, jeder kennt sie, andere zeigen sich hauchdünn und verschüttet. | |
Diese hier ist gründlich verschüttet. | |
Vor exakt 100 Jahren, am 5. November 1923, kam es in der Grenadierstraße zu | |
einem Pogrom gegen die dort ansässigen Jüdinnen und Juden. Es war der | |
reichsweit schlimmste Ausfall gegen Juden in der Weimarer Republik. Eine | |
Menschenmenge strömte vom Arbeitsamt an der Alexanderstraße, die damals | |
noch bis zur Münzstraße reichte, in das Scheunenviertel, wie die Gegend | |
genannt wurde. Sie brachen in die Geschäfte ein und plünderten Wohnungen | |
aus. | |
Rufe wie „Schlagt die Juden tot!“ und „Zieht die Juden aus!“ ertönten. | |
Juden wurden gejagt, verprügelt und verletzt. Die Polizei erschien mit | |
reichlicher Verspätung. Sie nahm eine große Zahl der verfolgten Juden fest, | |
die die Beamten selbstverständlich für die Schuldigen hielten. | |
„Ich bin österreichischer Staatsbürger und seit etwa 5 Jahren in Berlin. | |
Ich betreibe in der Mulackstraße 4 einen Lumpen- und Zigarettenhandel. Am | |
Montag, dem 5. 11. 23, kam ein großer Haufen Menschen die Mulackstraße | |
herunter. Ich verrammelte meine Wohnung. Die Plünderer drangen aber doch | |
gewaltsam in meine Wohnung ein, indem sie die Tür erbrachen und an der | |
Fassade hochkletterten, die Fenster einschlugen und in meine Wohnung | |
stiegen. Die Plünderer raubten und zerstörten alles, was sich in meiner | |
Wohnung befand. Als ich aus dem Fenster nach der Polizei rief, haben die | |
Leute mir immer entgegen geschrien: Wir sind bezahlte Leute, uns tut keiner | |
etwas.“ | |
Protokoll des Händlers Chaim Federbusch | |
Aber warum lebten überhaupt aus Osteuropa stammende Juden in der | |
Grenadierstraße? Freiwillig taten sie es gewiss nicht, denn die Häuser des | |
Scheunenviertels galten als völlig überbelegt, die sanitären Verhältnisse | |
als untragbar, die Wohnungen als viel zu klein für die kinderreichen | |
Familien. Ein Sanierungsgebiet also, eines mit vergleichbar günstigen | |
Mieten. | |
## Nicht alle kamen in Amerika an | |
Hunderttausende Jüdinnen und Juden machten sich seit Ende des 19. | |
Jahrhunderts auf den Weg nach Westen, auf der Flucht vor Armut und Pogromen | |
in Russland, unterwegs in die neue Welt jenseits des Atlantiks. Aber nicht | |
alle kamen in Amerika an. Ein paar wenige blieben unterwegs hängen, hier in | |
Berlin. Es waren die Ersten. | |
Die Nächsten kamen nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Das deutsche | |
Kaiserreich hatte weite Gebiete des Zarenreichs erobert, etwa Litauen und | |
Polen. Sie seien als Befreier gekommen, behaupteten die Männer mit den | |
Pickelhauben, und verlangten von Zehntausenden ostjüdischen Männern einen | |
Arbeitseinsatz in deutschen Fabriken. Nach Kriegsende 1918 schließlich | |
entzündeten russische Revolutionäre und Konterrevolutionäre einen | |
Bürgerkrieg. Hunderte kleine und große Pogrome überzogen Weißrussland und | |
die Ukraine. Viele überlebende Juden flohen nach Westen. Manche von ihnen | |
ins Scheunenviertel. | |
Joseph Roth hat den Zuzug der Juden aus dem Osten 1927 so zusammengefasst: | |
„Kein Ostjude geht freiwillig nach Berlin. Wer in aller Welt kommt | |
freiwillig nach Berlin? Berlin ist eine Durchgangsstation, in der man aus | |
zwingenden Gründen länger verweilt. Berlin hat kein Ghetto. Es hat ein | |
jüdisches Viertel. Hierher kommen die Emigranten, die über Hamburg und | |
Amsterdam nach Amerika wollen. Hier bleiben sie oft stecken. Sie haben | |
nicht genug Geld. Oder ihre Papiere sind nicht in Ordnung. (Freilich: die | |
Papiere! Ein halbes jüdisches Leben verstreicht in zwecklosem Kampf gegen | |
Papiere.)“ | |
Die Grenadierstraße war ein ostjüdisches Paralleluniversum mitten in | |
Berlin, mit koscheren Restaurants, orthodoxen Betstuben in Hinterhäusern | |
und hebräischen Buchhandlungen. Hier wurde Jiddisch gesprochen, hier liefen | |
Rabbiner mit Pelzhut und langem Bart, Gläubige mit Schläfenlocken (Pejes) | |
und Tefilin, wie die Gebetsriemen genannt werden, über die Straße, und die | |
Ehefrauen trugen Perücken über ihren geschorenen Haaren. | |
## Juden aus Osteuropa: sehr religiös | |
Und weil die Menschen kaum das Schwarze unter ihren Fingernägeln besaßen, | |
mussten sie mit allem handeln, was noch irgendwie verkäuflich war: Lumpen, | |
Altkleider, Knöpfe, Hosenträger, Schnürsenkel, Strümpfe. Notfalls tat es | |
auch Bettelei. Dazu brauchte das Viertel eine komplette jüdische | |
Infrastruktur mit koscheren Fleischereien und Backstuben, Geflügel- und | |
Eierhändlern und selbstverständlich einem Fischverkauf, weiterhin religiöse | |
Gebrauchswaren von Kippa bis zu Tefillin. Denn die Juden aus Osteuropa | |
waren in aller Regel sehr religiös. | |
Da gab es in der Grandierstraße an der Ecke zur Hirtenstraße das Logirhaus | |
Centrum (heute steht dort ein Plattenbau). Die Nummer 31 (heute 16) | |
beherbergte neben der Talmud-Torah-Schule gleich vier Betstuben. Vor 40 | |
Jahren schienen die alten hebräischen Schriftzeichen eines Geschäfts an | |
dieser Hausnummer durch die nicht mehr frische Farbe der Fassade hindurch. | |
Heute ist alles glatt und sauber. Vor der Haustür ist ein Eisengitter nebst | |
zweier Videoanlagen installiert. | |
Und dann gab es die Läden: In der 28 befand sich die hebräische | |
Buchhandlung von Hirsch Lewin, wo man auch Schallplatten und religiöse | |
Gebrauchsgegenstände wie Gebetsmäntel anbot. Absolut nichts erinnert heute | |
daran. In der Nummer 15 konnte man im Krakauer Café der Familie Kempler | |
koscheres Gebäck genießen. Nicht zu vergessen die Nummer 7 (heute 43), wo | |
es noch einen Buchladen gab. Die meisten Häuser stehen noch. Aber Steine | |
sprechen nicht. | |
Ach, ein jüdisches Schtetl mitten in Berlin, wie gern wären wir da | |
einkaufen gegangen, mögen jetzt manche denken. Ganz so romantisch war es | |
aber nicht. Denn erstens ist Armut nie romantisch. Und zweitens galt das | |
Scheunenviertel auch als Ort des Verbrechens: der kleinen und der großen | |
Gauner und Diebe, jüdischer wie nichtjüdischer, denn dort lebten auch viele | |
Christen. Taschendiebstahl war notorisch in der Gegend verbreitet, | |
Diebstahl ebenfalls, Mord glücklicherweise weniger, behauptet zumindest | |
Joseph Roth. An der Einmündung der Grenadierstraße zur Münzstraße befand | |
sich mit der Münzglocke ein bekanntes Lokal der Berliner Unterwelt. | |
## Nicht eben der allerbeste Ruf | |
Die 1905 geborene [2][Schauspielerin Mischket Liebermann] wusste dazu die | |
Anekdote beizutragen, nach der die jüdische Diebesbande, die die Wohnung | |
ihres Vaters, eines angesehenen Rabbiners, ausgeraubt hatte, alle | |
gestohlenen Gegenstände nach einer Beschwerde beim Bandenboss wieder | |
zurückbrachte. Dies traf freilich nicht auf alle Bestohlenen zu. | |
Man kann sich also vorstellen, dass die Grenadierstraße nicht eben den | |
allerbesten Ruf besaß. Es war ähnlich wie heute: Das Scheunenviertel | |
entwickelte sich zu einer eigenen Blase, so wie die Gegend um die | |
Sonnenallee in Neukölln. Der Begriff Parallelgesellschaft war noch nicht | |
erfunden, aber etwas derart Undeutsches galt schon damals als höchst | |
gefährlich. Juden aus Osteuropa wurden im „aufgeklärten“ Westen ohnehin a… | |
rückständig betrachtet, auch bei den zu Wohlstand gekommenen deutschen | |
Juden, die sich sorgten, dass diese Ultraorthodoxen aus dem Osten die | |
eigene Emanzipation gefährden könnten. | |
Den Antisemiten waren die „Kaftanjuden“, wie es abschätzig hieß, verhasst | |
und sie wurden wahlweise als Kommunisten oder Wucherer verdächtigt. So | |
mutierte das Scheunenviertel in den Augen der völkischen Rechten zum | |
„jüdischen Verbrecherzentrum in Berlin“, das es auszuräuchern gelte. Solc… | |
Vorstellungen reichten weit ins bürgerliche Lager hinein. Selbst | |
Sozialdemokraten verlangten eine Lösung des „Ostjudenproblems“, auch wenn | |
alles in allem nur ein paar Zehntausend Menschen eingewandert waren. Die | |
Saat für das Pogrom von 1923 war gesät. | |
## Falladas Geschichten | |
Hans Fallada zählte zu den Schriftstellern, die zwischen 1933 und 1945 in | |
Deutschland blieben und versuchten, sich mit harmlosen Geschichten über | |
Wasser zu halten. Über das Scheunenviertel brachte er eine angeblich selbst | |
erlebte Kindheitserinnerung mit deutlich antisemitischen Anleihen zu | |
Papier: | |
„Jüdische Händler im Kaftan mit langen, schmierigen, gedrehten Löckchen, | |
Kleider über dem Arm, strichen durch die Menge und flüsterten bald hier, | |
bald dort Anpreisungen. Vor einem Kellereingang saß ein dickes, schmieriges | |
Weib, hatte den Kopf eines jaulenden Pudels zwischen die Beine geklemmt und | |
schor ihm mit einer Art Rasenschere den Hinterteil. […] Es wurde uns | |
unheimlich, wir machten, dass wir davonkamen. Aber an der nächsten | |
Straßenecke hielt uns ein Kaftanjude an, flüsternd, in einem kaum | |
verständlichen Deutsch schlug er uns vor, ihm unsere Wintermäntel zu | |
verkaufen. ‚Zwei Mork das Stück! Und eurer Momme seggt ihr, ihr hebbt se | |
verloren …‘ Dabei fing er schon an, mir meinen Mantel aufzuknöpfen. Mit | |
Mühe riss ich mich los, Fötsch und ich fingen an zu laufen. […] Eine ganze | |
Horde stürzte schreiend, lachend, hetzend hinter uns her.“ | |
Als Falladas Erinnerungen 1941 als Buch erschienen, begannen die | |
Deportationen der Berliner Jüdinnen und Juden in den Tod. | |
Im und nach dem Ersten Weltkrieg gab es freilich auch solidarische Hilfe | |
für die verarmten Bewohner des Viertels. Nur eine Parallelstraße von der | |
Grenadierstraße entfernt, in der Dragonerstraße (heute Max-Beer-Straße), | |
erinnert an der Hausnummer 5 (damals 10) eine Tafel an den [3][Gründer des | |
Jüdischen Volksheims], Siegfried Lehmann (1892–1958). | |
## Schwärmereien fürs Ostjüdische | |
Das Volksheim kümmerte sich um verwahrloste Jugendliche und Waisenkinder | |
und bot sich als Treffpunkt an. Seine Aktivisten waren Zionisten, für die | |
die Juden aus Osteuropa sinnbildlich für die Rückkehr des Volks zu den | |
kulturellen Wurzeln standen. | |
Das stieß bei vielen jüdischen Intellektuellen auf Zustimmung, so bei Franz | |
Kafka, der seine Freundin Felice Bauer darum bat, dort doch einmal | |
vorbeizuschauen. Auch der [4][Anarchist Gustav Landauer] war des Lobes | |
voll. Der junge [5][Gershom Scholem] (ein jüdischer Religionshistoriker) | |
blieb gegenüber den Schwärmereien für alles Ostjüdische skeptisch und | |
erklärte: „Man möge doch, statt sich mit solchem Unfug und literarischem | |
Geschwätz zu befassen, lieber Hebräisch lernen und zu den Quellen gehen.“ | |
Und Lehmann? Der wanderte in den 1920er Jahren nach Palästina aus und | |
gründete dort das Kinderdorf Ben Shemen, das in der Nazizeit ohne ihre | |
Eltern nach Eretz Israel geflüchtete Kinder aufnahm. | |
Werner Senator (1896–1953) hieß ein anderer Aktiver beim Volksheim. Er war | |
im Arbeiterfürsorgeamt tätig, das Sozialarbeit unter Ostjuden unternahm. | |
1922 machte Senator deutlich, dass es nicht einfach darum ginge, Brot und | |
Suppe zu verteilen: „Nur wenn man klar und unbeirrt diesen Weg der | |
Erkämpfung von Rechten für die Ostjuden ging, nur wenn man entschlossen | |
diese jüdische Politik verfolgte, wenn man Vorkämpfer wurde für die Idee | |
der Schaffung eines Zustandes, der die Rechtlosigkeit des Ausländers in | |
Deutschland aufhebt, nur dann war es möglich, Sozialpolitik und | |
Wohlfahrtspflege für die Ostjuden in Deutschland zu treiben“, schrieb er. | |
## Bewaffnete jüdische Selbstwehr | |
Senator war es auch, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eine | |
bewaffnete jüdische Selbstwehr gründete, die ihr Quartier im Volksheim | |
hatte. Diese Gruppe scheint sich bald aufgelöst zu haben. Wohl aber sollten | |
sich bewaffnete Angehörige des konservativen Reichsbunds jüdischer | |
Frontsoldaten zum Schutz der Bewohner des Scheunenviertels an jenem | |
verhängnisvollen 5. November 1923 im Viertel befunden haben. | |
„Ich bin seit 1907 in Berlin, bin Kriegerwitwe. Mein Mann war | |
österreichischer Staatsbürger und ist im Kriege gefallen. Ich betreibe in | |
der Hirtenstraße 12 a ein Zigarettengeschäft. Am Montag, dem 5. 11. 23, | |
ging ein größerer Haufen durch die Straßen und drang in meinen Laden, | |
zertrümmerte die Fensterscheiben und räumte sämtliche im Laden befindliche | |
Ware aus, sowie die Tageseinnahme. Ich bin durch die Plünderung in schwere | |
wirtschaftliche Not geraten.“ | |
Protokoll der Witwe Theodora Rosenblüth | |
Im Herbst 1923 befand sich [6][die Inflation auf dem Höhepunkt]. Der Preis | |
für ein Laib Brot stieg auf bis zu 233 Milliarden Mark. Banken waren | |
zusammengebrochen, die Arbeitslosigkeit stieg. Dazu kam eine politische | |
Krise. Der rechtsradikale Kapp-Putsch war gerade zurückgeschlagen worden. | |
Am 5. November ging das Gerücht um, dass das Arbeitsamt Geldauszahlungen | |
vornehmen würde. Dies entpuppte sich als falsch. Der Masse von Erwerbslosen | |
sei danach von Agitatoren erzählt worden, die Juden im Scheunenviertel | |
hätten das Notgeld aufgekauft, berichten Zeitungen am Folgetag. | |
Die Vossische Zeitung schrieb: „Man riss die Firmenschilder ab, schlug die | |
Fensterscheiben ein, und bedrohte die Geschäftsinhaber, falls sie nicht | |
ihre Ware unter der Menge verteilten. Ein Privatauto, das durch die | |
Grenadierstraße fuhr, wurde angehalten, der Besitzer des Wagens | |
herausgeholt und verprügelt und das Auto selbst demoliert. Während dieser | |
Vorgänge war weit und breit kein Polizeibeamter zu sehen.“ | |
Die Plünderer seien planmäßig vorgegangen und hätten offenbar Anführer | |
gehabt, heißt es in einigen Augenzeugenberichten. In der Münzstraße hätte | |
die Menge einen Jugendlichen zunächst ausgezogen und dann halb tot | |
geschlagen. Einem Bericht zufolge wurde der Metzger Silberberg so schwer | |
misshandelt, dass er seinen Verletzungen erlegen sei. Allerdings ist diese | |
Meldung nie bestätigt worden. | |
Nach einem Text der Jüdischen Rundschau beteiligten sich Tausende an dem | |
Pogrom. „Man verfolgt dabei die Taktik, die Polizei zu ermüden. 50 bis 60 | |
junge Burschen sammeln sich an einer Straßenecke an und beschäftigen die | |
Sicherheitsbeamten. Im Rücken dieser Trupps wird dann von 12 bis 15 | |
Personen geplündert. Wollen dann die Beamten eingreifen, so versperrt der | |
deckende Haufen den Weg.“ | |
Ein bewaffneter Trupp aus den Reihen des Reichsbundes jüdischer | |
Frontsoldaten sei den Angegriffenen zu Hilfe geeilt, wurde aber von der | |
inzwischen anwesenden Polizei angegriffen, festgenommen und misshandelt. | |
Dem Arzt Hugo Bernhard wurde dabei die Hand gebrochen. | |
Die Polizei benötigt geschlagene zwei Stunden, um die Ausschreitungen zu | |
beenden und das Viertel abzusperren; 129 Personen wurden festgenommen, | |
davon 81 vorläufig in der Haft behalten. Am nächsten Tag flammen die | |
Angriffe erneut auf, werden aber rascher beendet. „Die antisemitische Saat | |
ist aufgegangen“, schrieb der sozialdemokratische Vorwärts am 8. November. | |
„Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden.“ | |
Zu dem Pogrom erklärte die Polizeiinspektion Alexanderwache am 7. Dezember | |
1923, die Juden seien daran selbst schuld gewesen, da sie die Arbeitslosen | |
betrogen hätten. Ein Prozess gegen Polizeibeamte, die die Männer des | |
Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten misshandelt hatten, endete 1925 mit der | |
Verurteilung von drei Beamten zu geringfügigen Strafen, die bald danach | |
aufgehoben wurden. | |
Wer die Agitatoren waren, die die Arbeitslosen zum Pogrom aufhetzten, ist | |
nie geklärt worden. Es wurden gar Zweifel gesät, ob es diese überhaupt | |
gegeben hat. | |
5 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Almstadtstra%C3%9Fe | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Mischket_Liebermann | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdisches_Volksheim | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Landauer | |
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Gershom_Scholem | |
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Inflation_1914_bis_1923 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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