| # taz.de -- Der Fall Altun: Zerrieben im Streit um Asyl | |
| > Vor 40 Jahren starb Cemal Kemal Altun, weil die BRD ihn an das Regime | |
| > ausliefern wollte, das ihn verfolgte. Sein Schicksal politisierte damals | |
| > viele. | |
| Bild: 30. August 1983: Gerade hat sich hier Cemal Kemal Altun in den Tod gestü… | |
| Der Umgang mit Geflüchteten treibt die deutsche Gesellschaft schon länger | |
| um. In den letzten zehn Jahren kam es dabei zu einem Rechtsruck, der sich | |
| im Erfolg rassistischer Organisationen wie [1][Pegida] sowie im | |
| [2][Aufstieg der AfD] manifestierte; andererseits fanden gleichzeitig | |
| bundesweite Gegenmobilisierungen und solidarische Aktionen mit | |
| Geflüchteten statt. | |
| In der öffentlichen Debatte wird diese breite gesellschaftliche | |
| Unterstützung vor allem für [3][Geflüchtete aus Syrien 2015 und aus der | |
| Ukraine ab 2022] häufig als neuartiges Phänomen betrachtet. Das ist in | |
| Bezug auf das Ausmaß der Solidaritätsarbeit sicherlich richtig, vergisst | |
| jedoch deren Vorgeschichte. Denn die Mobilisierungen der letzten Jahre | |
| waren auch deshalb möglich, weil Geflüchteten- und (post)migrantische | |
| Selbstorganisationen, linke Gruppen, Kirchen- und | |
| Menschenrechtsorganisationen schon lange an der Etablierung solidarischer | |
| Netzwerke gearbeitet hatten. | |
| Angesichts zahlreicher Verschärfungen der westdeutschen Asyl- und | |
| Migrationspolitik kam es bereits in den 1980er Jahren zu wichtigen | |
| Versuchen, Geflüchtete zu unterstützen und vor Abschiebung zu schützen. Im | |
| Zentrum dieser Entwicklung steht das Schicksal von Cemal Kemal Altun, der | |
| 1983 im Westberliner Verwaltungsgericht Suizid beging. Wie kein anderes | |
| Ereignis motivierte sein Tod, der sich diesen Monat zum 4o. Mal jährt, die | |
| junge Geflüchtetensolidaritätsbewegung in der Bundesrepublik. | |
| ## Eine Gesellschaft im Umbruch | |
| Die deutsche Gesellschaft war zu dieser Zeit im Umbruch. 1978 hatte sich in | |
| Berlin die Alternative Liste gegründet, 1980 kamen die Grünen, die in den | |
| Folgejahren in die Parlamente einzogen. 1980 war das Jahr, in dem die | |
| Anti-Atomkraft-Bewegung die „Republik Freies Wendland“ errichtete, ein | |
| improvisierte Hüttendorf auf dem Gelände bei Gorleben, das für ein atomares | |
| Endlager vorgesehen war. | |
| Gleichzeitig war 1980 auch das Jahr, in dem in Westdeutschland erstmals | |
| [4][mehr als 100.000 Asylgesuche gezählt wurden]. Die Zahl gingen danach | |
| zurück, bis sie infolge des Bosnienkriegs mit [5][über 400.000 Geflüchteten | |
| 1992] einen neuen vorläufigen Höhepunkt erreichte. | |
| 1980 kamen die meisten Asylanträge von Menschen, die aus der Türkei | |
| geflohen waren, wo sich das Militär an die Macht geputscht hatte. So auch | |
| Cemal Kemal Altun. Er war als Schüler und Student in linken Gruppen in der | |
| Türkei aktiv gewesen und kam 1981 nach Westberlin. Konkreter Anlass für | |
| sein Asylgesuch waren Vorwürfe in der türkischen Presse, er sei an der | |
| Ermordung des rechtsextremen Politikers Gün Sazak beteiligt gewesen. Die | |
| deutschen Behörden informierten die türkische Militärregierung über Altuns | |
| Asylantrag, woraufhin Letztere einen Haftbefehl gegen ihn erließ und seine | |
| Auslieferung forderte. Trotz des laufenden Asylverfahrens wurde er im Juli | |
| 1982 in Berlin-Moabit in Auslieferungshaft genommen. Statt Altun Schutz zu | |
| bieten, bot die BRD ihn, ohne zu zögern, dem Staat an, vor dem er geflohen | |
| war. Damit war Altun gleich zwei zermürbenden juristisch-politischen | |
| Prozeduren ausgesetzt: einem Asylverfahren auf der einen und einem | |
| Auslieferungsverfahren auf der anderen Seite. | |
| Im März 1983 war es dann so weit: Altun sollte nach Frankfurt am Main | |
| gebracht werden, um an die Türkei ausgeliefert zu werden. [6][Altuns | |
| Rechtsanwalt Wolfgang Wieland], ein Mitgründer der Alternativen Liste, der | |
| später für die Grünen Justizsenator in Berlin wurde, versuchte gegen die | |
| drohende Auslieferung das Bundesverfassungsgericht anzurufen, welches | |
| aufgrund des Sonderstatus von Westberlin jedoch nicht entscheiden wollte. | |
| Die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg nahm seine | |
| Beschwerde an, kam aber zu dem Schluss, dass die Auslieferung rechtens sei, | |
| solange die Türkei garantiere, dass Altun nach Abbüßung seiner Haftstrafe | |
| wieder in die BRD zurückkehren dürfe. | |
| Erst in letzter Minute wurde die Auslieferung ausgesetzt. Nachdem es zu | |
| zahlreichen Protesten und Erklärungen bundesweiter Initiativen, | |
| Abgeordneter verschiedener europäischer Länder, des UNHCR und | |
| Menschenrechtsorganisationen gekommen war, hatte das Europäische Parlament | |
| beim Bundesaußenministerium interveniert. | |
| Nach langem Verfahren entschied das damalige Bundesamt für die Anerkennung | |
| ausländischer Flüchtlinge im Juni 1983 schließlich positiv über Altuns | |
| Asylantrag. An dem parallel laufenden Auslieferungsverfahren änderte dies | |
| jedoch wenig. Ein Versuch von Wieland, gegen Altuns drohende Auslieferung | |
| vor dem Berliner Kammergericht zu klagen, scheiterte. Das Gericht | |
| ignorierte dabei Altuns Anerkennung als politischer Flüchtling durch das | |
| Bundesamt. Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU), der sich ähnlich zur | |
| heutigen AfD-Linie grundsätzlich gegen eine angebliche Gefährdung deutscher | |
| Homogenität durch Immigration einsetzte, unterstrich derweil die Intention | |
| der Bundesregierung, Altun an die Türkei auszuliefern. | |
| Um die Auslieferung rechtlich zu unterstützen, klagte der damalige | |
| Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten – eine heute nicht mehr | |
| existierende Stelle, die durch das Bundesministerium des Innern besetzt | |
| wurde – gegen die positive Entscheidung des Bundesamts. Altun befand sich | |
| somit in einer verzweifelten Situation: Trotz offizieller Anerkennung als | |
| politischer Flüchtling musste er darum bangen, diesen Status zu behalten, | |
| und fürchten, an das türkische Militärregime ausgeliefert zu werden. | |
| Wieland fasste 20 Jahre später beim Gedenken an Altun die Absurdität der | |
| Lage so zusammen: „Du wirst in der Türkei politisch verfolgt und erhältst | |
| deswegen Schutz bei uns. Dies gilt allerdings erst, nachdem wir dich deinen | |
| Verfolgern wieder zwangsweise zugeführt haben.“ Nicht weniger als die | |
| Frage, wie viel das deutsche Asylrecht tatsächlich wert ist, stand somit im | |
| Fall Altun auf dem Spiel. | |
| Mitten in diesem Hin und Her begann dann der Prozess am Berliner | |
| Verwaltungsgericht, der über die Klage gegen Altuns Flüchtlingsstatus | |
| entscheiden sollte. Altun hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 13 | |
| Monate in Einzelhaft auf seine Auslieferung gewartet. Eine Zusicherung, | |
| dass eine Auslieferung im Zeitraum des Gerichtsverfahrens ausgesetzt würde, | |
| wurde von der Bundesregierung verweigert. Zu Beginn des zweiten | |
| Verhandlungstags, am 30. August 1983, beendete Altun sein Leben, indem er | |
| aus einem Fenster im sechsten Stock des Verwaltungsgerichts sprang. Er | |
| starb im Alter von 23 Jahren. | |
| Der Fall Altun katapultierte wie kein anderes Ereignis das Thema Asyl ins | |
| öffentliche Bewusstsein. Das politisch-rechtliche Ringen um Altuns | |
| Schicksal war 1983 dauerhaft von öffentlichem Protest begleitet. | |
| Bemerkenswert war dabei die Bandbreite an Akteur*innen, die sich an den | |
| Mobilisierungen beteiligten. An vorderster Stelle standen dabei Geflüchtete | |
| selbst, vor allem türkische und kurdische Linke, die über Aktionen wie | |
| Protestmärsche, Besetzungen und Hungerstreiks gegen die Auslieferungs- und | |
| Abschiebepraxis der BRD protestierten. Unterstützt wurden diese von | |
| verschiedenen bewegungslinken Gruppen, der Alternativen Liste | |
| beziehungsweise den Grünen, kirchlichen Gruppen sowie Bürger- und | |
| Menschenrechtsorganisationen. | |
| ## Mobilisierung weit über Westberlin hinaus | |
| Von Beginn an mobilisierte der Fall Altun weit über Westberlin hinaus. | |
| „Kemal ist überall, denn Abschiebeknäste sind überall“, sagt der Hamburg… | |
| Journalist Adil Yiğit, ein damaliger Freund und Genosse von Altun. In | |
| verschiedenen westdeutschen Städten gründeten sich Initiativen für die | |
| Unterstützung Altuns wie etwa die „Initiative für die Freiheit von C. K. | |
| Altun in Lübeck“ oder das „Komitee für die Freilassung von Cemal Kemal | |
| Altun“ in Hamburg und Westberlin. | |
| Sie versuchten gegenüber Politik und Behörden Druck aufzubauen. Im März | |
| 1983 protestierten Abgeordnete der Alternativen Liste und der Grünen in | |
| Frankfurt am Main unter der Aufschrift „Diese Abschiebung ist Mord“ gegen | |
| die anstehende Auslieferung Altuns. Mitte August 1983 erstattete die | |
| deutsche Sektion von Amnesty International zusammen mit der | |
| Humanistischen Union sowie der Liga für Menschenrechte eine – letztlich | |
| erfolglose – Strafanzeige gegen Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP) | |
| wegen „Vorbereitung der Verschleppung“. | |
| Die wohl aufsehenerregendste Aktion fand allerdings in Bonn statt, wo sich | |
| verschiedene Grünen-Politiker*innen wie Petra Kelly zusammen mit dem | |
| Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann, einem Mitglied des „Komitees“ und | |
| anderen in einen Metallkäfig sperrten, der am Zaun des Bundeskanzleramts | |
| befestigt war. Die Aktion war nicht zuletzt aufgrund der prominenten | |
| Teilnahme öffentlichkeitswirksam und schaffte es sogar in die „Tagesschau“. | |
| Einen Höhepunkt erreichten die Protestaktivitäten [7][nach Altuns Suizid]. | |
| „Solibewegungen sprangen wie Pilze aus dem Boden“, erinnert sich Yiğit. In | |
| Hamburg demonstrierten über 3.000 Personen und auch in Frankfurt am Main, | |
| Hannover und Dortmund kamen Hunderte für spontane Demonstrationen zusammen. | |
| Wenig überraschend fand die größte Mobilisierung in Westberlin statt, wo am | |
| 31. August 1983, am Tag nach Altuns Tod, etwa 10.000 Menschen auf die | |
| Straße gingen. Auch beim Trauermarsch anlässlich seiner Beerdigung in | |
| Berlin-Mariendorf wenige Tage später nahmen etwa 6.000 Menschen teil. | |
| Die Titelseite der taz war am Tag nach seinem Tod ganz in Schwarz gehalten. | |
| Zu sehen war nur ein schwarz-weißes Porträt von Altun, das wenige Minuten | |
| vor seinem Sprung in den Tod aufgenommen worden war, mitsamt der schlichten | |
| Überschrift „Cemal Kemal Altun ist tot“. Darunter wurde ein Gedicht von | |
| Bertolt Brecht abgedruckt, dass in den darauffolgenden Wochen und Monaten | |
| noch unzählige Male zitiert werden sollte: | |
| „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch | |
| stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, | |
| einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode | |
| schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur | |
| weniges davon ist in unserem Staat verboten.“ | |
| Diese Demonstrationen und Interventionen rückten die Problematik der | |
| Auslieferung – vor allem an die Türkei – in den Mittelpunkt der | |
| öffentlichen Kritik. Altuns Schicksal wurde als Sinnbild der potenziell | |
| tödlichen Folgen des deutschen Asyl- und Abschiebesystems verstanden. An | |
| der Praxis änderte sich jedoch wenig. Allein in den zwei Monaten nach | |
| Altuns Tod wurden circa 60 Personen an das türkische Militärregime | |
| ausgeliefert. | |
| Über die unmittelbare Mobilisierung hinaus stellte der Fall Altun einen | |
| zentralen Meilenstein in der Geschichte der | |
| Geflüchtetensolidaritätsbewegung in der BRD dar. Zwar waren schon in den | |
| Jahren zuvor erste Initiativen und Kampagnen entstanden, etwa der 1981 | |
| gegründete erste Flüchtlingsrat in Westberlin. | |
| Doch ließen sich insgesamt nur wenige Menschen für die Belange Geflüchteter | |
| mobilisieren. Diese hatten seit den späten 1970er Jahren mit immer größeren | |
| rechtlichen Hürden vor dem Zugang zum Asylverfahren, mit der wachsenden | |
| Gefahr von Abschiebungen sowie mit zahlreichen behördlichen Schikanen von | |
| der Einführung der Residenzpflicht bis zur Auszahlung von Sozialhilfe in | |
| Sachleistungen und Essensgutscheinen zu kämpfen. | |
| Durch die Solidaritätsarbeit für Altun entstanden erstmals Bündnisse und | |
| Kampagnen, denen es gelang, auch eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen. | |
| So nahmen zahlreiche Menschen Mitte der 1980er Jahre an der „Aktion | |
| Wertgutscheine“ teil, die von der Alternativen Liste, linken und | |
| kirchlichen Gruppen initiiert worden war. Hier wurden die Einkaufsmarken, | |
| mit denen der Alltagskonsum von Asylbewerber*innen reglementiert | |
| wurde, gegen Bargeld eingetauscht. | |
| ## Startschuss zum Kirchenasyl | |
| Darüber hinaus blieben viele Netzwerke, die sich im Rahmen der | |
| Altun-Solidarität gebildet hatten, [8][weiter aktiv]. So löste Altuns | |
| plötzlicher Suizid zum Beispiel unter den Gemeindemitgliedern der Berliner | |
| Heilig-Kreuz-Kirche, die sich seit Monaten solidarisch gezeigt hatten, | |
| Entsetzen aus und motivierte sie dazu, sich der bundesdeutschen | |
| Abschiebepolitik aktiver zu widersetzen. Nachdem 1983 das Abschiebeverbot | |
| in den Libanon zeitweise ausgesetzt worden war, gewährte die Gemeinde unter | |
| ihrem damaligen Pfarrer Jürgen Quandt einer von Abschiebung bedrohten | |
| palästinensischen Familie im Gemeindehaus Kirchenasyl. | |
| Es war der Startschuss für die bald bundesweit aktive Kirchenasylbewegung, | |
| die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einem wichtigen | |
| zivilgesellschaftlichen Korrektiv der bundesdeutschen Asylpolitik wurde. | |
| Das Kirchenasyl ersetzt keinen rechtlichen Flüchtlingsschutz, kann aber | |
| Abschiebungen in der Regel verzögern oder verhindern. Seit den Anfängen in | |
| den 1980er Jahren konnten bereits Tausende Geflüchtete auf diese Weise | |
| Schutz vor drohenden Abschiebungen finden. Seit 2014 ist die Zahl der | |
| dokumentierten Kirchenasyle in Deutschland stark gestiegen, wobei | |
| sogenannte Dublin-Fälle – also die jener Personen, die in andere EU-Staaten | |
| „rückgeführt“ werden sollen – einen großen Anteil ausmachen. Aktuell w… | |
| über 650 Personen in ganz Deutschland vor Abschiebung geschützt. | |
| Neben der Kirchenasylbewegung entstanden auch weitere Versuche, | |
| Geflüchteten direkten Schutz vor Abschiebung zu bieten. In Zusammenarbeit | |
| mit Kirchen- und Menschenrechtsorganisationen etablierten vor allem linke | |
| Gruppen „freie Flüchtlingsstädte“ und „Fluchtburgen“. Unter dem Motto… | |
| Abschiebungen zu Recht werden, wird Widerstand zur Pflicht“, wurde hier in | |
| Städten wie Westberlin, Bremen und Oldenburg praktische Unterstützung zum | |
| Beispiel über Unterbringungsmöglichkeiten für abschiebungsgefährdete | |
| Geflüchtete organisiert. Sie waren somit wichtige Vorläufer heutiger | |
| Initiativen wie der „Solidarity Cities“ oder „[9][Sicheren Häfen]“, zu | |
| denen sich aktuell 321 Städte in Deutschland erklärt haben. | |
| Auch für die Gründung der bis heute bundesweit tätigen Organisation Pro | |
| Asyl im Jahr 1986 stellte der Fall Altun einen zentralen Referenzpunkt dar. | |
| Im Jahr 2002 erklärte die Organisation den 30. August – Altuns Todestag – | |
| zum bundesweiten Gedenktag für die Todesopfer in Abschiebungshaft, an dem | |
| seither regelmäßig gegen die deutsche und europäische Migrations- und | |
| Abschiebepolitik demonstriert wird. Das Gedenken stellt Altuns Schicksal | |
| explizit in den Kontext einer umfangreichen Gewaltgeschichte des bis heute | |
| ungebrochenen deutschen Abschiebungsregimes. | |
| Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin listet für | |
| die Jahre 1993 bis 2021 415 Fälle auf, in denen Menschen sich angesichts | |
| ihrer drohenden Abschiebung das Leben nahmen oder beim Versuch starben, vor | |
| ihrer Abschiebung zu fliehen. Zusätzlich starben fünf Geflüchtete während | |
| ihrer Abschiebung. Die meisten von ihnen bleiben bis heute unbekannt. | |
| In den letzten Jahrzehnten gab es verschiedene Versuche, das Erinnern an | |
| Altun wachzuhalten. Kurz nach seinem Tod sprühte eine unbekannte Person im | |
| Hamburger Stadtteil Ottensen den Namen „Kemal-Altun-Platz“ an eine | |
| Plakatwand. Auch in Kassel wurde 1988 in Anwesenheit von Altuns Bruder ein | |
| Platz in der Nordstadt von Aktivist*innen als „Kemal-Altun-Platz“ | |
| eingeweiht. | |
| Doch vergleichbar mit zahlreichen anderen Gedenkinitiativen hat sich die | |
| offizielle Anerkennung in beiden Städten als zäh erwiesen. Auch wenn sich | |
| der Hamburger „Kemal-Altun-Platz“ über die Jahrzehnte eingebürgert hat | |
| [10][und mittlerweile entsprechend ausgeschildert wird], erkennt die | |
| Stadtverwaltung die Namensgebung bis heute nicht offiziell an. In Kassel | |
| trägt der Kemal-Altun-Platz seinen Namen erst seit Januar 2021 offiziell. | |
| Ähnlich sieht es in Berlin aus: Auf Anregung der Internationalen Liga für | |
| Menschenrechte hatte die Bezirksverordnetenversammlung in | |
| Berlin-Charlottenburg bereits 1988 beschlossen, eine Gedenktafel vor dem | |
| Gerichtsgebäude, wo Altun gestorben war, anzubringen. Nach zähen | |
| Abstimmungen wurde erst 1996 ein vom Bildhauer Akbar Behkalam erstelltes | |
| Denkmal [11][von der damaligen Bezirksbürgermeisterin Monika Wissel (SPD) | |
| enthüllt]. | |
| Das Gedenken an Cemal Kemal Altun hat nichts von seiner Bedeutsamkeit | |
| verloren. Angesichts des weltweiten Einflussgewinns autoritärer Regime ist | |
| der Schutz vor Abschiebung und Auslieferung dringender denn je. | |
| Gleichzeitig herrscht in Deutschland ein rassistisches Klima, in dem die | |
| meisten politischen Parteien sich mit Vorschlägen zur Einschränkung | |
| asylrechtlicher Mindeststandards überbieten. Allein im ersten Halbjahr 2023 | |
| wurden 7.861 Personen abgeschoben. „Es ist unverschämt, dass die | |
| Abschiebeknäste wieder voll sind. Es ist unverschämt für die deutsche | |
| Geschichte“, sagt Yiğit. | |
| Der Fall Altun mahnt an die ungebrochene Gewaltgeschichte deutscher | |
| Abschiebepolitik. Gleichzeitig erinnert er daran, wie wichtig es ist, | |
| dauerhafte Solidaritätsnetzwerke zu etablieren. Denn, so Yiğit, „wäre die | |
| Solibewegung vor seinem Tod so groß gewesen wie danach, hätte seine | |
| Abschiebung verhindert werden können“. | |
| Tanita Jill Pöggel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum | |
| für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin. Sie promovierte über | |
| die Geflüchtetensolidaritätsbewegung in der BRD von den 1980er Jahren bis | |
| zum „Asylkompromiss“ von 1992/93. | |
| 30 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Rechte-und-Verfassungsschutz/!5765763 | |
| [2] /Wahlerfolge-der-AfD/!5948247 | |
| [3] /Integration-ukrainischer-Gefluechteter/!5845074 | |
| [4] https://www.frsh.de/fileadmin/schlepper/schl_54/s54_23-25.pdf | |
| [5] https://www.bpb.de/themen/migration-integration/zahlen-zu-asyl/265708/asyla… | |
| [6] /Tod-von-Cemal-Altun/!5060206 | |
| [7] /Todestag-von-Cemal-Kemal-Altun/!5060209 | |
| [8] /35-Jahre-Kirchenasyl/!5529737 | |
| [9] https://www.seebruecke.org/sichere-haefen/haefen | |
| [10] /Neue-Schilder-am-C-Kemal-Altun-Platz/!5915285 | |
| [11] https://www.gedenktafeln-in-berlin.de/gedenktafeln/detail/cemal-kemal-altu… | |
| ## AUTOREN | |
| Tanita Jill Pöggel | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| wochentaz | |
| Asylrecht | |
| Kirchenasyl | |
| BRD | |
| Türkei | |
| Militärputsch | |
| Longread | |
| GNS | |
| Künstler | |
| Ausstellung | |
| Nicaragua | |
| wochentaz | |
| Migration | |
| Ottensen | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Nachruf auf Akbar Behkalam: Erzähler der Ungerechtigkeit | |
| Der aserbaidschanisch-persische Künstler Akbar Behkalam ist tot. Er besaß | |
| ein tiefes Bewusstsein für sich verschränkende Formen von Diskriminierung. | |
| Ausstellung mit Fotos von Nuri Musluoğlu: Kein Change in Deutschland | |
| Künstlerin Pınar Öğrenci arbeitet für eine Hamburger Schau das Archiv von | |
| Fotograf Nuri Musluoğlu auf. Er kam 1965 aus der Türkei nach Deutschland. | |
| Arbeitsbrigaden für Nicaragua: Die Kinder von Marx und Sandino | |
| Vor 40 Jahren reiste unser Autor mit einer Arbeitsbrigade nach Nicaragua. | |
| Dort unterstützte er die Revolution, zum Beispiel bei der Kaffeeernte. | |
| Berliner Pogrom am 5. November 1923: Das vergessene Pogrom | |
| Vor 100 Jahren überfiel ein antisemitischer Mob plündernd die im Berliner | |
| Scheunenviertel lebenden Jüdinnen und Juden. Eine Spurensuche. | |
| Özge İnan über das Linkssein: „Das politisiert dich“ | |
| Özge İnan kommentiert in sozialen Medien das politische Geschehen. Ein | |
| Gespräch über Gen Z, Arbeitsmoral, kargen Wohnraum und zusammengebissene | |
| Zähne. | |
| Neue Schilder am C. Kemal-Altun-Platz: Schritt für Schritt zum Gedenken | |
| In Hamburg-Ottensen erinnert ein Platz an Cemal Kemal Altun, der zum Opfer | |
| der deutschen Asylpolitik wurde. Offiziell umbenannt wurde der Platz nie. | |
| 40 Jahre Kirchenasyl: Juristische Grauzone | |
| 1983 entschloss sich erstmals eine Kirchengemeinde, Geflüchteten Asyl zu | |
| gewähren. Seitdem wurden so wohl Hunderte vor der Abschiebung bewahrt. | |
| Tod von Cemal Altun: „Dieser Fall war einmalig tragisch“ | |
| Heute vor 30 Jahren nahm sich der türkische Flüchtling Cemal Kemal Altun | |
| mit einem Sprung aus dem Gerichtssaal das Leben. Wolfgang Wieland (Grüne) | |
| war Altuns Anwalt. |