# taz.de -- Grundschulpädagogin über Lehrkräfte: „Viele sind so wütend au… | |
> Gerade benachteiligte Schüler müsse man im Unterricht herausfordern, sagt | |
> Marion Ziesmer. Welche Lehrer man dafür braucht, diskutiert sie am | |
> Donnerstag in Neukölln. | |
Bild: Schüler sind nun mal so, wie sie sind | |
taz: Frau Ziesmer, „Welche Lehrer braucht das Land?“ heißt die Frage, die | |
Sie am Donnerstag im Museum Neukölln diskutieren wollen. Kann man das | |
überhaupt so pauschal beantworten? | |
Marion Ziesmer: Nein, das kann man nicht. Den Titel hat das Museum Neukölln | |
so gestellt, aber ich fand die Frage gut, um die es hier eigentlich geht: | |
Mit welchen Mitteln, Methoden und Inhalten schafft man es, SchülerInnen | |
langfristig für das Lernen zu begeistern, gerade auch SchülerInnen | |
unterschiedlicher Herkunft? Deshalb ist der plakative Titel natürlich | |
tiefgehender: Es geht darum, welche Lehrerpersönlichkeiten wir brauchen, um | |
Kindern Lust auf Bildung zu machen. | |
Sie sind seit vielen Jahren an der Freien Universität in der | |
Lehrerausbildung tätig. Haben Sie eine Antwort – oder zumindest einen | |
Ansatz? | |
Ich war selbst 17 Jahre lang Lehrerin in einem Brennpunkt in Neukölln und | |
unterrichte noch immer ein Mal die Woche an der Hermann-Boddin-Grundschule. | |
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade anspruchsvolle Inhalte – Lyrik, | |
Drama-Texte, klassische Malerei und Musik – die SchülerInnen, die ja zum | |
großen Teil aus sehr schwierigen Verhältnissen kommen, fesseln können. Sie | |
fühlen sich emotional so angespornt, dass sie sich dazu ausdrücken wollen. | |
Geben Sie mal ein Beispiel. | |
Einmal habe ich mit SchülerInnen einen Text von Goethe besprochen, den | |
„Prometheus“. Da geht es darum, dass sich Prometheus gegen Zeus auflehnt, | |
es ist also ein Text über Rebellion. Die SchülerInnen hatten schon ganz | |
schön zu tun mit der Sprache, der Text ist schwierig – aber das Thema hat | |
sie fasziniert. Am Ende fanden sie bei Goethe eine Sprache für ihre eigene | |
tagtägliche Rebellion, und zwar außerhalb von HipHop- und Rap-Texten. Sie | |
sollten dann selbst eine Anklageschrift verfassen, das kann sich natürlich | |
auch gegen mich, die Lehrerin, wenden. Nun gut, dass muss man dann | |
aushalten. Angefangen habe ich als junge Lehrerin übrigens mit einem | |
gegenteiligen pädagogischen Ansatz. | |
Ach ja? | |
Ich hatte gelernt, man müsse bei SchülerInnen an solchen Schulen die | |
Inhalte eher reduzieren. Das Ergebnis war, dass ich als Junglehrerin ganz | |
schnell an meine eigenen Grenzen gestoßen bin. Die Kinder haben mich | |
provoziert und ich bin nicht an sie herangekommen. Ich dachte, entweder | |
habe ich hier bald einen Burn-out oder ich mache etwas anders. Also habe | |
ich die Kinder herausgefordert, ab da ging es besser. | |
Man muss den SchülerInnen also mehr zutrauen. Ist es wirklich so einfach? | |
Zumindest ist das ein ganz wichtiger Aspekt. Ich bin Deutschlehrerin, wenn | |
ich mich mit lyrischen Texten beschäftige, geht es um universelle Dinge: | |
Liebe, Trauer, Sehnsucht, Träume und so weiter. Das sind Themen, die gehen | |
uns alle an, da liegt also auch die Chance, kulturelle Differenzen im | |
Klassenzimmer aufzuheben. Aber es ist auch die Frage, ob ich als Lehrerin | |
selbst bereit bin, mich zu öffnen. | |
Wie meinen Sie das? | |
Viele KollegInnen sind so unglaublich zornig und wütend auf die Kinder. | |
Aber ich glaube, es geht darum, weniger zu meckern, die Schuld weniger auf | |
die sozialen Brennpunkte und die familiären Verhältnisse der SchülerInnen | |
zu schieben. Die sind nun mal so, wie sie sind, da kann ich als Lehrerin | |
nur begrenzt etwas ändern. | |
Genau das kann doch auch wahnsinnig frustrieren. | |
Ich glaube, ein Grund für den Frust liegt auch in den Strukturen unseres | |
Bildungssystems. Nehmen Sie unseren Rahmenlehrplan für Berlin und | |
Brandenburg, der ist kompetenzorientiert. Das heißt, entscheidend ist, was | |
hinten rauskommt – wie im Kapitalismus übrigens auch. Wenn man Bildung aber | |
so begreift, dann ist es natürlich frustrierend, wenn meine SchülerInnen | |
noch nicht einmal wissen, was ein Klappentext ist, wie sich eine Kollegin | |
neulich bei mir beklagte. Ich glaube, wir fokussieren uns zu sehr darauf, | |
was die Kinder nicht können. Wir fragen zu wenig: Was können sie? | |
Ihr Idealismus in allen Ehren, aber viele LehrerInnen sagen, dass ihr guter | |
Wille von mangelhaften Ressourcen schlicht aufgefressen wird: Stichwort | |
Förder- und Inklusionsstunden, die für Vertretungsunterricht draufgehen, | |
knapp bemessene Sozialarbeiterstunden, Anleitung von immer mehr | |
Quereinsteigenden … | |
Natürlich, die Umsetzbarkeit ist das eine. Eine Bekannte von mir ist hier | |
in Berlin Schulleiterin, und ja, das ist ein Kampf. Aber dennoch kann man | |
sich ja überlegen, auch wenn das vielleicht etwas abgehoben klingt, welche | |
Visionen von Schule wir haben wollen. | |
Rot-Rot-Grün will LehrerInnen an sogenannten Brennpunktschulen künftig eine | |
Zulage von etwa 300 Euro pro Monat zahlen. Was bringen solche | |
Geldgeschenke? | |
Auch da gilt: Das Materielle ist das eine. Und natürlich verdienen die | |
LehrerInnen diese Anerkennung. Aber die Frage ist eben letztlich die | |
Haltung, die innere Einstellung: Sage ich mir, das Geld habe ich mir | |
verdient, weil ich es in meinem Job so schwerhabe – oder verstehe ich es | |
als Ansporn? Natürlich sagen Sie zu Recht: Der Alltag an den Schulen ist | |
oft grottenanstrengend. Aber ist das ein Widerspruch zu meiner inneren | |
Einstellung, die ich den SchülerInnen gegenüber habe? Wie gesagt, wir | |
sollten vielleicht nicht immer auf das gucken, was fehlt. Wir sollten | |
schauen: Was ist da? | |
Was ist denn da, wenn Sie auf Ihre eigene Schule in Neukölln gucken? | |
Da sind vor allem Kinder, die Anerkennung, Orientierung und Erziehung | |
suchen. Natürlich wollen sie auch wissen, was passiert, wenn sie einen | |
Fehler machen. Und wenn ich da nicht gleich so hasserfüllt bin und mit | |
allerlei Strafmaßnahmen reagiere, dann kommt auch sehr viel von diesen | |
Kindern zurück. Oft fehlt ihnen Orientierung, viele haben eine Flucht | |
hinter sich oder Erfahrungen mit Kriminalität gemacht. Sie suchen einen | |
intensiven Austausch. Es sind Suchende. Und das ist erst mal eine | |
wunderbare Aufgabe, die ich da als Lehrerin habe. Die Frage, ob ich genug | |
Sozialarbeiter habe, ob ich dieser Aufgabe überhaupt gerecht werden kann, | |
natürlich, die stellt sich dann als Nächstes. | |
21 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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