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# taz.de -- Lehrermangel in Berlin: Ohne Quereinsteiger geht es nicht
> In Grundschulen unterrichten immer mehr LehrerInnen ohne abgeschlossenes
> Lehramtsstudium. Sebastian Schmidt ist einer davon. Über Vor- und
> Nachteile der Seiteneinsteiger.
Bild: Sebastian Schmidt ist motiviert, er hat Lust auf seinen neuen Job als Leh…
In langen Karawanen schlurfen die Kinder in der Morgendämmerung zur
Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg in Neukölln. Lehrer Sebastian Schmidt
huscht derweil bereits durch das überfüllte Lehrerzimmer und verzieht
nervös das Gesicht. „Ich hab gestern noch mal den ganzen Unterrichtsentwurf
umgestellt. War viel zu lang, und dann wird’s bloß hektisch“, sagt er
hektisch. „Wo ist denn jetzt Frau Russo?“ Christine Russo ist eine von
Schmidts Ausbilderinnen während seiner Lehrerausbildung, die er im Dezember
mit dem zweiten Staatsexamen für die Grundstufe in den Fächern Deutsch,
Mathe und Englisch abschließen will. An diesem Morgen ist der letzte
Unterrichtsbesuch vor der Prüfung geplant. Russo ist zu spät, Schmidt ist
nervös.
Bevor Sebastian Schmidt, 36 Jahre alt, im August vergangenen Jahres das
erste Mal alleine vor einer Klasse mit Grundschülern stand und ihnen das
Einmaleins und das englische Alphabet beibringen sollte, hatte er keinerlei
Lehrerfahrung. Schmidt hatte Anglistik und Germanistik studiert – und sich
danach als Firmengründer versucht. Erst war er Inhaber einer
Übersetzungsfirma, danach beteiligte er sich an der Herstellung von
Kletterwänden. Nach zehn Jahren suchte er nach „einer neuen
Herausforderung“, wie er sagt. Und nach finanzieller Sicherheit.
Schmidt ist also ein Quereinsteiger in den Lehrerberuf – und befindet sich
damit in guter Gesellschaft in Berlins Lehrerzimmern: Allein während der
letzten Einstellungsrunde zum Schuljahresstart im September hatte die
Senatsverwaltung für Bildung 2.000 neue Lehrkräfte eingestellt – davon 944
ohne abgeschlossenes Lehramtsstudium.
In den Grundschulen sind sogar 53 Prozent der 974 in diesem Jahr neu
eingestellten Lehrer Quereinsteiger. Zum Vergleich: Vor zwei Jahren machten
die spät(er) berufenen Pädagogen noch lediglich etwa 20 Prozent der
Neueinstellungen aus.
Gewerkschaften und Lehrerverbände mahnen nun unermüdlich vor einem
drohenden Niveauverlust – und fühlen sich bestätigt mit jedem
Ländervergleich in Mathe oder Lesekompetenz, in dem Berlin wieder einen der
hinteren Plätze belegt. Eltern verziehen beim Smalltalk auf dem Schulhof
beim Thema Quereinsteiger das Gesicht, als hätten sie Zahnschmerzen. So
viele Lehrer, die selbst noch lernen, aber dabei schon Vollzeit – und vor
allem weitgehend auf sich allein gestellt – vor der Klasse stehen. Kann das
gut gehen?
## Man wusste eigentlich Bescheid
Rückblende: Der Grund, warum es ohne die Seiteneinsteiger heute nicht mehr
geht, sind die seit 2012 stark gestiegenen und laut aktueller
Bevölkerungsprognose des Senats noch steigenden Schülerzahlen. Über die
wusste man zwar spätestens Bescheid, seit die Statistiker Ende 2014 die
Schulentwicklungsplanung für die kommenden fünf Jahre vorlegten.
Aber die Politik reagierte nur schwerfällig. Denn obwohl man Ende 2014
wusste, dass bei Nichtstun bis 2018/19 nochmals 7.500 Vollzeitlehrer
weniger da sein würden – unter anderem, weil viele Lehrer in Pension gehen
würden –, beschloss man erst im Frühjahr 2017, bei der Neuverhandlung der
Hochschulverträge, die Zahl der Lehramtsabsolventen auf 2.000 jährlich zu
verdoppeln.
Zuvor hatte man immerhin bereits zum Wintersemester 2016/17 die
Studienplatzkapazitäten für die besonders dringend benötigten
Grundschullehrer an Humboldt-Universität, Freier Universität und
Universität der Künste von 300 auf 580 Plätze erhöht.
Doch bis die Absolventen von den Unis kommen, dauert es seine Zeit. Also
braucht man dringend Leute wie Sebastian Schmidt.
## Vokabeln zum Thema Schulzubehör
Schmidt ist inzwischen mitsamt seiner Ausbilderin Russo, die den Weg dann
doch noch rechtzeitig gefunden hat, im Klassenraum angekommen. Draußen ist
es immer noch dunkel. Die müden Gesichter der Kinder spiegeln sich in den
Fenstern. Als Schmidt und Russo hereinkommen, nehmen sie Aufstellung neben
ihren Stühlen. Regentropfen prasseln auf das Flachdach der Schule.
„Good morning, everybody!“, sagt Schmidt, und seine Nervosität scheint
plötzlich verflogen. Routiniert umschreitet er Rucksäcke, Regenschirme und
Turnbeutel auf dem Boden. „Good morning, Mr Schmidt“, leiert die Klasse im
Chor und lässt sich zurück auf ihre Stühle fallen.
Lehrer Schmidt erklärt die Aufgabe und macht die Übung vor: Die Schüler
sollen sich Vokabeln zum Thema Schulzubehör einprägen. „I need a sheet of
paper“, sagt er. „What do you need?“ Rasch schnellen einige Finger in die
Höhe: „A pencil?“, murmelt eine Schülerin fragend in der ersten Reihe. �…
pencil!“, ruft Schmidt. „Great!“ Während er spricht, bewegt er sich durch
den Raum, ruft mit ausgestreckten Armen gleichzeitig Schüler auf und mahnt
andere zur Ruhe.
Schmidt wirkt wie ein Verkehrspolizist auf einer Kreuzung und ist am Ende
der Stunde sichtlich erleichtert. „Gut, dass Sie noch gekürzt haben“, sagt
Russo mit Blick auf den Unterrichtsentwurf. „Das sieht gut aus für die
Prüfung!“
## Extreme Belastung ist ein Problem
Für die Lehrergewerkschaft GEW ist nicht nur die schiere Masse an neuen
Quereinsteigern bedenklich, sondern auch die extreme Belastung, unter der
sie stehen. Zwar sollen sie mindestens zwei Stunden pro Woche von einem
Mentor unterstützt werden. In der Praxis funktioniere dies jedoch häufig
nicht, beklagt Gewerkschaftssprecher Markus Hanisch. Die unerfahrenen
Lehrkräfte müssten in der Praxis oft vom ersten Tag an eigenständig den
Unterricht leiten.
Auch Schmidt fühlt sich davon zunächst überfordert, als er im August 2016
plötzlich vor einer Klasse steht. Wie soll er Themen so erklären, dass
Kinder sie verstehen? Reagiert er richtig, wenn ein Kind zu spät kommt oder
wenn jemand stört?
Die Sozialstruktur am Campus Efeuweg, wo Sebastian Schmidt lehrt, gilt als
nicht einfach. Viele Familien sind vom Jobcenter abhängig. 2016 verließen
14 Prozent der Schüler die 10. Klasse ohne Abschluss – fünf Prozentpunkte
mehr als der Berliner Durchschnittswert.
Judith Francke, Schulleiterin der Grundstufe am Campus Efeuweg, sagt: „Ich
versuche darauf zu achten, die Leute nicht zu überlasten.“ Die 59-Jährige
sitzt am Schreibtisch in ihrem mit Regalen bis unter die Decke voll
gestopften Büro. Francke ist seit 1990 an der Schule und leitet seit zwei
Jahren die Grundstufe.
## Noch ein Problem: die Zahl der Inklusionskinder
Um die vielen Quereinsteiger weniger allein zu lassen in den Klassen,
versuche sie Kollegen aus der sogenannten Doppelsteckung abzuziehen. Der
Begriff bezeichnet im Lehrerjargon zwei Lehrer, die sich gemeinsam um eine
Klasse kümmern, um auf einzelne Schüler besser eingehen zu können.
„Es ist ganz typisch, dass Kollegen aus der Doppelsteckung genommen werden,
um Quereinsteiger zu unterstützen“, sagt Markus Hanisch von der GEW. „Damit
die pädagogischen Konzepte Inklusion und Ganztagsschule funktionieren
können, ist die Doppelsteckung jedoch elementar wichtig“, kritisiert er.
„Natürlich ist das Zweckentfremdung, die Kollegen da abzuziehen“, sagt auch
Francke. „Aber was soll ich machen?“
Das Problem ist also oft gar nicht der einzelne Quereinsteiger, der nicht
notwendigerweise unbegabter ist als der Kollege von der Uni. Es sind die –
eigentlich nicht vorhandenen – Ressourcen, die ihre große Zahl derzeit an
den Schulen bindet. Und die andere Herausforderungen, die für sich schon
kompliziert genug sind, noch schwieriger machen: die wachsende Zahl der
Inklusionskinder an den Berliner Schulen, die langfristige Integration der
Flüchtlingskinder, die unverändert schlechten Bildungschancen von Kindern
aus weniger privilegierten Elternhäusern.
Schulleiterin Francke sagt allerdings auch: „Es werden so dringend Lehrer
gesucht, dass derzeit alle irgendwie ihr Staatsexamen bestehen. Man traut
sich kaum zu sagen, jemand sei nicht geeignet.“ Dabei sei das bei vielen
Quereinsteigern ihrer Erfahrung nach durchaus der Fall. Denjenigen, die
sich nur in eine feste, gut bezahlte Anstellung wünschen, rät sie: „Wer
kein Interesse an Pädagogik hat, der soll es lassen.“
## Alleine in der Klasse und überfordert
Schmidt ist motiviert, er hat Lust auf seinen neuen Job. Und doch ist er am
Anfang, alleine in der Klasse, überfordert. Schmidt beginnt zu zweifeln.
Die Schüler geben nichts auf die Unterrichtsentwürfe, die er abends an
seinem Schreibtisch bastelt. Der wiederum wird unsicher, wenn sein Plan
nicht funktioniert und selbst unruhig, wenn die Klasse unruhig wird.
Von August 2016 an dauert es nur knapp vier Monate, bis Schmidt wochenlang
ausfällt. Es ist Anfang Dezember, als er nach einem anstrengenden
Seminartag nach Hause kommt. Im Treppenhaus verliert er die Orientierung,
er klingelt bei den Nachbarn. Am nächsten Tag diagnostiziert ein Arzt einen
Hörsturz.
Anfang Januar trifft Schmidt sich zur Krisensitzung mit der Schulleitung in
Franckes Büro. Um Schmidt zu entlasten, soll er sich einem Team
anschließen. Besonders in den unteren Jahrgangsstufen arbeitet häufig ein
Team aus Lehrkraft und Erzieher zusammen und plant den Unterricht. Für
Schmidt ein Glücksfall: „Gerade von der Erzieherin habe ich unglaublich
viel lernen können.“
Grundwissen in Didaktik und Pädagogik lernen die Quereinsteiger „nebenbei“
in den Fachseminaren. Einen Tag vor seinem letzten Unterrichtsbesuch sitzt
Schmidt im Schulungszentrum in Rudow. Der Raum sieht fürchterlich nach
Schule aus. Selbst gestaltete Plakate hängen an den Wänden. Neben der Tafel
die obligatorischen, überdimensionalen Zirkel und Geodreiecke. Die hintere
Wand ziert ein braunes Regal, in dem sich unzählige Ausgaben von
„Nussknacker – Unser Rechenbuch“ und „Mathetiger“ aneinanderreihen. I…
Mitte sitzt der Kurs im Stuhlkreis um einen kitschigen Teppich in
Regenbogenoptik.
## Ausbildung auch in Teilzeit
Knapp zwei Drittel der Teilnehmer seien derzeit Quereinsteiger, gibt Katja
Bertram, die Leiterin des Schulungszentrums, an. Seitdem der Senat
beschlossen habe, dass sie die Ausbildung auch in Teilzeit machen können,
brächen viel weniger ab als früher, sagt Bertram. Am Ende der Ausbildung
seien sie dann nahezu auf dem gleichen Stand wie die Lehramtsstudenten von
der Uni: „Quereinsteiger sind nicht zwangsläufig schlechter qualifiziert“,
sagt Bertram.
Das werde man noch sehen, sagt Berlins oberster Elternvertreter Norman
Heise, und drückt damit die Sorge vieler Eltern aus. Die berufsbegleitende
Ausbildung gleiche derzeit einer „Blackbox“: „Wir hören von einigen Elte…
dass es an ihren Schulen gut läuft und die Quereinsteiger eine Bereicherung
sind – wir hören aber auch das Gegenteil.“
Heise, selbst Vater, berichtet von der Parallelklasse seines Sohnes. Dort
waren Eltern ganz angetan von dem neuen Physiklehrer, der viel mehr
experimentierte in seinem Unterricht – und bei dem viele Schüler plötzlich
so auch viel mehr lernten.
„Viele bringen Lebenserfahrung mit und bereichern die Schulen. Es gibt
jetzt beispielsweise sehr viel mehr Männer an Grundschulen“, sagt auch
Ausbilderin Bertram. Dem stimmt auch Schulleiterin Francke zu. „Allerdings
entwertet der Quereinstieg natürlich das Lehramtsstudium“, findet sie.
## Wieder ein Lehrer mehr für Berlin
Sebastian Schmidt hat nach seinem Zusammenbruch Wege gefunden, mit der
Belastung besser umzugehen. Bevor er mit dem Unterricht beginnt, zieht er
sich in der Schule um. „Eine Art Uniform ist das für mich“, sagt er. Nichts
Besonderes, ein Hemd und Schuhe, die er sonst vielleicht nicht tragen
würde. „Es hilft, die Rolle zu erfüllen.“
Die erfülle er mittlerweile ziemlich gut, meint Russo, die Seminarleiterin.
Nach dem Englischunterricht am Morgen diskutieren sie die Stunde. Mit
übereinandergeschlagenen Beinen hört er zu und tippt eifrig auf der
Tastatur seines Laptops. „Man merkt, dass Ihnen die Kinder ans Herz
gewachsen sind“, sagt Russo. Für das Examen im Dezember macht sie sich
jedenfalls bei Schmidt keine Sorgen. Wieder ein Lehrer mehr für Berlin.
Mitarbeit: Anna Klöpper
5 Nov 2017
## AUTOREN
Rebecca Barth
## TAGS
Schule
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