# taz.de -- Lehrermangel in Sachsen: Profis ohne Staatsexamen | |
> Um den Lehrermangel zu bekämpfen, setzt Sachsen in großer Zahl auf | |
> Seiteneinsteiger. Das geht nicht zwangsläufig auf Kosten der Qualität. | |
Bild: Damit nicht noch mehr Unterricht ausfällt, unterstützen Seiteneinsteige… | |
Berat hat keinen Bock zu schreiben, Michelle hinten links schläft noch | |
und Moritz ist wieder mal vor allen anderen fertig. Nadine Gürtler geht | |
durch die Reihen, kontrolliert hier das Hausaufgabenheft, hilft dort beim | |
Schreiben des großen „R“ und sorgt nebenbei noch dafür, dass Pauline ihren | |
Nachbarn Anton nicht stört – so weit, so normal in einer der ersten Klassen | |
der 46. Grundschule. | |
Dabei ist es das erste Mal, dass Gürtler Erstklässlern das Alphabet | |
beibringt. Die 36-Jährige ist keine ausgebildete Lehrerin, hat | |
Kunstgeschichte, Archäologie und Deutsch als Fremdsprache studiert. Als im | |
Herbst 2015 dringend Lehrer gesucht wurden, die geflüchteten Kindern | |
Deutsch vermitteln können, meldete sie sich. | |
Wie kein anderes Bundesland setzt Sachsen auf Menschen wie Gürtler, um den | |
Lehrermangel zu bewältigen: Von den 1.400 offenen Stellen zu Beginn dieses | |
Schuljahres wurden 720 mit Seiteneinsteigern besetzt. „Wir hatten die Wahl: | |
Seiteneinsteiger oder Unterrichtsausfall“, sagt Roman Schulz von der | |
Sächsischen Bildungsagentur (SBA). Die dem Kultusministerium unterstellte | |
Behörde ist unter anderem dafür zuständig, neue Lehrer anzuwerben und die | |
Aus- und Weiterbildung zu organisieren. | |
Dass sie eingestellt wurde, erfuhr Gürtler am 1. November 2015. Noch am | |
selben Tag stand sie das erste Mal vor ihren Schülern. Doch es war nicht | |
das Fach Deutsch als Zweitsprache, das sie herausforderte, sondern es waren | |
die Vertretungsstunden in anderen Klassen. Dort saßen ihr nicht 16, sondern | |
gleich 24 Kinder gegenüber. Gürtler fragte sich: „Kann ich mich | |
durchsetzen, wenn es hart auf hart kommt?“ „Was darf ich überhaupt?“ Den | |
Anfang vergleicht sie mit einem Sprung ins kalte Wasser. | |
Seit diesem Schuljahr ist Gürtler selbst Klassenlehrerin und studiert | |
zusammen mit neunzig anderen Seiteneinsteigern berufsbegleitend | |
Grundschuldidaktik an der Universität Leipzig. Auch die Hochschulstandorte | |
Chemnitz und Dresden haben spezielle Programme entwickelt. Denn eines ist | |
klar: Der akute Lehrermangel an den sächsischen Schulen kann in den | |
kommenden Jahren nicht allein durch die regulären Lehramtsabsolventen der | |
Universitäten behoben werden. | |
Die sächsische Lehrerschaft kaputtgespart | |
Doch wie konnte es so weit kommen? Als nach der Wende die Geburtenzahlen | |
drastisch zurückgingen, wurde ein großer Teil der Ausbildungsplätze für | |
Lehrer gestrichen, bereits eingestellte Lehrer mussten in Teilzeit gehen, | |
Neueinstellungen gab es kaum. | |
An dieser Sparpolitik hielt die Sächsische Staatsregierung auch dann noch | |
fest, als längst klar war, dass die Geburtenzahlen wieder steigen. Das | |
Ergebnis: Die sächsische Lehrerschaft ist stark überaltert. Bis zum Jahr | |
2025 scheiden knapp 20.000 Lehrer aus dem Schuldienst aus. Ein | |
Generationenwechsel steht an. 1.500 bis 2.000 Stellen müssen jährlich neu | |
besetzt werden. | |
„Wir hätten bereits zum Schuljahr 2009/2010 anfangen müssen, deutlich mehr | |
auszubilden. Damit haben wir dann 2012/2013 begonnen. Aber erst jetzt, zum | |
Wintersemester 2016/17, wurden die Ausbildungskapazitäten signifikant | |
erhöht“, gibt Schulz von der SBA zu. | |
Ohne Seiteneinsteiger geht es also derzeit nicht. Aber wie verändern sich | |
dadurch die Schulen? Wie groß ist der Qualitätsverlust, vor dem | |
Lehrerverband und Gewerkschaft warnen? | |
Vier Seiteneinsteiger arbeiten an einer Schule | |
Bevor sie sich Qualitätsfragen widmen können, müssen Sachsens Schulleiter | |
derzeit erst einmal zusehen, wie sie die gesetzlich vorgeschriebenen | |
Stunden abdecken können. Renate Adler leitet die 46. Grundschule, an der | |
Nadine Gürtler unterrichtet. Sie erlebt täglich, was es heißt, wenn immer | |
mehr Schüler kommen, aber nicht ausreichend Lehrpersonal da ist. | |
In den vergangenen beiden Jahren wurden jeweils drei vierte Klassen an | |
weiterführende Schulen entlassen und fünf neue erste Klassen aufgenommen. | |
Sie ist froh über jede zusätzliche Lehrkraft, die kommt – ob | |
Seiteneinsteiger oder klassischer Lehramtsstudent. Vier Seiteneinsteiger | |
arbeiten derzeit an ihrer Schule, ein fünfter kommt Anfang Dezember. | |
taz: Frau Adler, wie erleben Sie die neuen Kollegen im Schulalltag? | |
Renate Adler: Wir hatten Glück, Seiteneinsteiger zu bekommen, die Einsatz | |
zeigen. Die bringen hier zum Teil richtig gute Ideen ein. Ich bin jetzt | |
seit 1980 an dieser Schule. Da besteht schon die Gefahr, dass man | |
betriebsblind wird. Doch obwohl es bei uns gut läuft, brauchen die | |
Seiteneinsteiger viel Unterstützung. Wie baue ich eine Stunde auf? Was | |
mache ich, wenn einer stört? Wie führe ich ein Elterngespräch? All diese | |
Dinge müssen wir ihnen erst beibringen. Aber mir ist es lieber, sie fragen | |
nach, als wenn sie es nicht tun. Denn am Ende bin ich für die | |
Unterrichtsqualität verantwortlich. | |
Gibt es Unmut im Lehrerzimmer, weil die Kollegen den Neuen so stark unter | |
die Arme greifen müssen? | |
Klar meckert mal einer, aber grundsätzlich erlebe ich das Kollegium als | |
aufgeschlossen und hilfsbereit. Es kracht dann, wenn Kollegen | |
krankheitsbedingt fehlen und die anderen noch mehr Arbeit haben. Als im | |
September mehrere Kollegen gleichzeitig krank waren, blieb uns nichts | |
anderes übrig, als die Eltern zu bitten, ihre Kinder zu Hause zu behalten. | |
Wir sind an unserer Belastungsgrenze. | |
Seit diesem Schuljahr absolvieren Seiteneinsteiger, bevor sie in die | |
Schulen kommen, einen dreimonatigen Crashkurs, der praktische Aspekte des | |
Schulalltags lehrt. Durch eine zweijährige berufsbegleitende Fortbildung an | |
der Uni und ein Referendariat werden sie dann zu Ein-Fach-Lehrern | |
fortgebildet. Was halten Sie davon? | |
Ich finde es begrüßenswert, dass Seiteneinsteiger sich fortbilden. Es ist | |
nicht die Ausbildung eines normalen Lehrers. Aber wer sich reinhängt, ist | |
danach gut ausgebildet. Mein Problem ist eher, dass mir in dieser Zeit die | |
Leute fehlen. Frau Gürtler ist zum Beispiel für ihr Studium zwei Tage von | |
der Arbeit in der Schule freigestellt und ich muss zusehen, dass ich Ersatz | |
für sie bekomme. Ich rechne es ihr hoch an, dass sie an ihren Studientagen | |
trotzdem die erste Stunde in ihrer Klasse unterrichtet. | |
Gürtler schätzt es, dass ihr die Kollegen nicht unter die Nase reiben, dass | |
sie Seiteneinsteigerin ist, und bemüht sich ihrerseits, die Unterschiede zu | |
den Kollegen mit Staatsexamen zu verwischen. Deshalb will sie ihren | |
richtigen Namen auch nicht in der Zeitung lesen: „Die Kinder wissen nicht, | |
dass ich Seiteneinsteigerin bin. Die sehen mich in der ersten Stunde und | |
denken, ich bin danach irgendwo im Schulhaus.“ | |
Für dieses Gefühl von Kontinuität nimmt sie viel Stress in Kauf. Kurz vor 7 | |
Uhr bringt sie ihre eigenen Kinder in die Schule, radelt von dort aus an | |
die 46. Grundschule, unterrichtet die erste Stunde und schwingt sich danach | |
wieder in den Sattel, um zum Campus in der Innenstadt zu gelangen. „Wenn | |
ich da angekommen bin, atme ich erst mal tief durch.“ | |
Das ist auch nötig, denn der Tag der Alleinerziehenden ist noch lang. Auf | |
die Vorlesung folgen Seminare. Um 17 Uhr ist sie zu Hause. Dort warten | |
schon ihre beiden Töchter, die in der Zwischenzeit von Gürtlers Eltern | |
abgeholt wurden. | |
Der Großteil der Seiteneinsteiger sind Frauen zwischen 30 und 40 Jahren, | |
die wie Gürtler bereits eigene Kinder haben. Schule, Studium, Privatleben | |
zu vereinen – die Belastung, der sie ausgesetzt sind, ist groß. Es gibt | |
Tage, da scheint alles zu viel zu werden. So wie an einem Donnerstag Mitte | |
August. Gürtler unterrichtete zu diesem Zeitpunkt seit zwei Wochen ihre | |
erste Klasse, als nacheinander drei Fachlehrer sie ansprachen: „Deine | |
Klasse läuft nicht“, „Die kommen überhaupt nicht zur Ruhe“, „Die sind… | |
wuselig. Ich schaffe es mit denen in der Sportstunde nicht mal bis in die | |
Turnhalle“, so lauteten einige der Vorwürfe. Irgendwann ist Gürtler nicht | |
mal mehr in der Lage, sich die Kritik anzuhören. | |
Mittlerweile läuft es nicht nur in ihrem Unterricht, sondern auch in | |
Werken, Sport und Mathe rund. Einige Tage nach der Kollegenschelte hat sich | |
Gürtler mit den Fachlehrern zusammengesetzt. Gemeinsam haben sie Rituale | |
und ein Belohnungssystem entwickelt, um den Kindern die Regeln des | |
Schulalltags beizubringen. | |
Wer es nicht weiß, könnte Gürtler heute nicht mehr von einer Lehrerin mit | |
Staatsexamen unterscheiden. Wie sie den Unterricht gestaltet und sich, wenn | |
es mal lauter wird, Gehör verschafft, hat sie durch die tägliche Arbeit an | |
der Schule gelernt. Der Austausch mit erfahrenen Kollegen hat ihr dabei | |
geholfen. Keine Selbstverständlichkeit in einem Bundesland, wo in manchen | |
Regionen sieben von zehn Lehrern Seiteneinsteiger sind. | |
18 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Nadja Mitzkat | |
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