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# taz.de -- Jugendwahl U18 in Leipzig: Wider die Schwellenangst
> Jugendwahlen sind ein Mittel der politischen Bildung. Doch oft geht das
> Angebot an Kindern aus bildungsfernen Haushalten vorbei.
Bild: Die Jugendwahl gibt es schon länger. Archivbild aus dem Jahr 2006 in Ber…
LEIPZIG taz | – Warum hast du gewählt?
– Weil ich Lust hatte.
– Hast du dich über die Parteien informiert?
– Ne, hab ausm Bauch raus entschieden.
– Sprichst du mit irgendwem über Politik?“
– Nee.
Breitbeinig sitzt Ben auf einem Stuhl, stützt die Unterarme auf seine
Oberschenkel, ein Fuß wippt auf und ab. In seinem Gesicht sieht man noch
den kleinen Jungen, der er mal war. Doch der 14-Jährige bemüht sich, das zu
verbergen. Er zieht das Basecap noch ein bisschen tiefer.
Ben wirkt nicht besonders an Politik interessiert, will auf jeden Fall
nicht darüber reden. Und doch ist er der Erste, der im Leipziger Kinder-
und Jugendtreff Kojule hinter die selbstgebaute Wahlkabine tritt. Er setzt
seine Kreuzchen, faltet den Wahlzettel und wirft ihn in die Urne – einen
Wal aus Pappmaché.
So wie Ben gaben eine Woche vor der regulären Bundestagswahl 551 Kinder und
Jugendliche in den zwölf Wahllokalen Leipzigs ihre Stimme ab. Hätten sie
entscheiden dürfen, sähe der Bundestag anders aus: Die Grünen (17,8
Prozent) wären zweitstärkste Kraft hinter der CDU (20,2 Prozent), hätten
mit den Linken (16,4 Prozent) und der SPD (13,7 Prozent) eine
Minderheitsregierung bilden können. Die AfD (8,6 Prozent) käme erst an
fünfter Stelle, gefolgt von der Tierschutzpartei (6,1 Prozent).
Die U18-Wahl ist eine der größten Initiativen zur politischen Bildung in
Deutschland. Bundesweit strömten 215.000 junge Menschen in die 1.662
Wahllokale. „Wir freuen uns, wenn wir auf zehn Wähler kommen“, sagt
Christin Jünemann. Sie arbeitet als Sozialpädagogin in der Kojule. An fünf
Nachmittagen in der Woche öffnet der Kinder- und Jugendtreff der Caritas in
der Hans-Driesch-Straße seine Türen.
## Jugendliche mit Multiproblemlagen
Leipzig-Leutzsch. Das Viertel im Nordwesten der Stadt vereint auf kleinem
Raum viel Gegensätzliches: einerseits Stadthäuser – „Villen“ sagen die
Kinder im Jugendtreff – , andererseits das ehemalige Industriegelände, wo
sich Kreative Wohnungen und Ateliers einrichten. Und dann ist da noch die
Georg-Schwarz-Straße. Dort ballen sich die Probleme: Arbeitslosigkeit,
Armut, Alkoholismus.
Vierzig Kinder kommen regelmäßig in die Kojule. Davon viele mit
„Multiproblemlagen“: Stress zu Hause, Stress in der Schule, Stress auf der
Straße. „Wir können sie nicht gleich mit politischen Themen überfallen,
sobald sie bei uns zur Tür reinkommen“, sagt Jünemann. Sie knüpft an
Alltagserfahrungen der Kinder an und versucht so, mit ihnen über Parteien
und Wahlen ins Gespräch zu kommen.
In der Kojule sollen drei Sozialpädagogen schaffen, was Schule und
Elternhaus nicht gelingt: bei Hausaufgaben und Problemen helfen, mit den
Kindern Sport treiben, über Sexualität und Drogen aufklären. Politische
Bildung ist hier nur ein Thema von vielen. Manchmal ist etwas Warmes zu
essen im Bauch wichtiger.
Die drei Sozialpädagogen der Kojule kochen jeden Tag mit den Kindern. Im
Aufenthaltsraum stehen immer Teller mit geschnittenen Äpfeln und Bananen,
Studentenfutter und Weintrauben auf dem Küchentresen.
## „Die Kinder nehmen auf, was sie zu Hause hören“
Ein großer Holztisch gegenüber dem Tresen nimmt fast die Hälfte des Raumes
ein. An einem Ende des Tisches sitzen drei Mädchen, die malen. Auf der
anderen Seite Niklas und sein Freund Luis. Niklas blättert im
Parteiprogramm der AfD. „Alle Grenzen schließen? Und das soll demokratisch
sein? – Wer will denn bitte mehr Videoüberwachung? – Also wenn man nicht
gerade was gegen Ausländer hat, kann man die nicht wählen.“
Für die U-18-Wahl ist Niklas schon zu alt. Seit mittlerweile zehn Jahren
kommt der großgewachsene 23-Jährige mit dem roten Bart und der schwarzen
Wollmütze in den Jugendtreff. Er kennt alle Betreuer, hat viele Freunde
hier.
Niklas ist in Leutzsch aufgewachsen. Die AfD, erzählt er, sei im Viertel
ein Riesenthema und Sozialpädagogin Jünemann ergänzt: „Hier sympathisieren
viele mit der AfD. Die Kinder nehmen auf, was sie zu Hause hören.“ Wie sich
das im Ergebnis der U-18-Wahl niederschlägt, lässt sich nicht genau sagen.
Um die Kinder und Jugendlichen zu schützen, werden die Daten einzelner
Wahllokale nicht herausgegeben.
Fest steht, repräsentativ ist das Leipziger Ergebnis nicht. Der Großteil
der abgegebenen Stimmen stammt von den Schülern zweier Schulen in den
Stadtteilen Plagwitz und Südvorstadt. Gegenden, in denen die Erwachsenen
bei der Bundestagswahl mehrheitlich für die Linkspartei gestimmt haben.
In Leutzsch ist die AfD dagegen zweitstärkste Kraft hinter der CDU
geworden. Und im Bundesland Sachsen rangieren die Rechtspopulisten auch bei
den Kindern und Jugendlichen mit 15,5 Prozent der abgegebenen Stimmen auf
Platz zwei. Ein Wert, der zwar nicht an die fast 30 Prozent heranreicht,
die die AfD bei der Bundestagswahl in Sachsen geholt hat, der aber mehr als
doppelt so hoch liegt, wie das bundesweite U-18-Ergebnis der Partei (6,8
Prozent).
## Jugendliche grillen Direktkandidaten
Auch fünf Kilometer Luftlinie vom Jugendtreff entfernt ist die AfD großes
Thema. Der Stadtjugendring Leipzig hat in Vorbereitung auf die U-18- und
die Bundestagswahl zum Grillduell mit den Leipziger Direktkandidaten
eingeladen. Elf von zwölf Politikern sind in den Hof der Leipziger
Volkshochschule gekommen, darunter auch AfD-Kandidat Christoph Naumann.
„Wir haben lange überlegt, ob wir die AfD fragen sollen“, sagt Corinna Graf
vom Stadtjugendring. „Wir möchten, dass Kinder und Jugendliche am
politischen Diskurs teilhaben. Dazu zählt die AfD derzeit. Aber es ist auch
unsere Aufgabe, diejenigen, die noch nicht so gut informiert sind, vor
Propaganda zu schützen.“
Die Veranstaltung unweit des Stadtzentrums ist wie eine Kochshow
organisiert. Je zwei bis drei Direktkandidaten stehen gemeinsam an einem
Tisch. Während die Politiker Gemüse schneiden, Salatdressing anrühren und
Würste grillen, können die Jugendlichen ihre Fragen aufschreiben. Mutige
stellen sie direkt per Mikrofon.
Nachdem die offizielle Fragerunde beendet ist, entstehen direkte Gespräche
zwischen den Jugendlichen und den Kandidaten. AfD-Kandidat Naumann wird
gleich von neun Jugendlichen umringt, die engagiert mit ihm über die
Flüchtlingspolitik seiner Partei streiten.
Grafs Sorge war unbegründet. Die knapp 50 Jugendlichen sind bestens
informiert. Es sind diejenigen, die sich sowieso für Politik interessieren,
sich im Jugendparlament, bei Parteien oder in der Kirche engagieren.
Philipp ist da die Ausnahme. Der 15-jährige Gymnasiast mit den
kurzgeschorenen braunen Haaren wirkt erwachsen für sein Alter. Noch sei er
nirgends politisch aktiv, sagt er. Aber er denke darüber nach, bei den
Jusos oder in die Grüne Jugend einzutreten. Wie fast alle hier sieht er das
Grillduell als Möglichkeit, die Kandidaten persönlich kennenzulernen und
bei der U-18-Wahl seine politische Meinung zu zeigen.
## Nicht nur die Eltern sind verantwortlich
In der Kojule sind Niklas und sein Freund Luis immer noch in ihr Gespräch
über die AfD vertieft. Ben hat sich zu ihnen gesetzt, hört schweigend zu.
Mit Direktkandidaten diskutieren? Alle schütteln den Kopf, auf diese Idee
käme hier niemand. Weniger politisch interessiert sind die Jugendlichen
deshalb nicht. Sie haben nur nie erfahren, dass sich jemand für ihre
Ansichten interessiert.
Ist die U-18-Wahl also ein elitäres Projekt? Gemacht für diejenigen, die
gewohnt sind, ihre Stimme zu erheben und gehört zu werden?
„Es stimmt schon“, räumt Cornelia Graf vom Stadtjugendring ein „das
Grillduell war kein niedrigschwelliges Angebot.“ Ob sich Kinder für Wahlen
und Politik interessierten, hänge aber nicht vom Bildungshintergrund und
Einkommen der Eltern ab. Entscheidender sei, ob sie Zugang zum Thema
hätten. „Ich sehe da die ganze Gesellschaft in der Verantwortung, nicht nur
die Eltern.“
Nach den Wahlerfolgen der AfD fordern die ersten Politiker im Sächsischen
Landtag nun „eine mutigere politische Bildungsarbeit“. Doch die braucht
Zeit und Geld. Sie ist nicht schnell zu haben.
Dass sich das lohnt, beweist Niklas. Bei seiner ersten Wahl habe er seine
Stimme noch der AfD gegeben, erzählt er. Diesmal habe er die Linke gewählt.
Warum? „Ich habe mich informiert, plappere nicht mehr nur nach, was meine
Eltern sagen oder was ich irgendwo gehört habe.“
29 Sep 2017
## AUTOREN
Nadja Mitzkat
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