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# taz.de -- Lese-Studie IGLU: Deutschland sackt ab
> In der internationalen Grundschulleseuntersuchung rutscht Deutschland ins
> untere Mittelfeld ab. Das liegt auch an mangelnder Förderung.
Bild: Deutsche Grundschüler landen bei der Lese-Studie nur auf Platz 21
Jeder fünfte Grundschüler in Deutschland kann am Ende der vierten Klasse
nicht richtig lesen. Seit Beginn des Jahrtausends ist dieser Anteil um zwei
Prozentpunkte gestiegen. Das ist ein bitteres Ergebnis der
Grundschulleseuntersuchung IGLU, die Wissenschaftler und Politiker am
Dienstag in Berlin vorstellen. „Diese Kinder werden auch später nicht in
der Lage sein, Texte sinnentnehmend zu lesen“, sagte Wilfried Bos, der die
Studie in Deutschland leitete.
Böse gesagt: Deutschland produziert systematisch Risikoschüler und
Bildungsverlierer – der nächste PISA-Schock ist nicht weit.
Nach 2001, 2006 und 2011 hat IGLU zum vierten Mal die Leseleistungen von
Kindern aus 47 Ländern getestet. Nicht nur im Hinblick auf die schwachen
Leser fällt das Ergebnis für Deutschland ernüchternd aus. Zwar blieben die
Leseleistungen deutscher Grundschüler im Mittel seit 2001 konstant. Doch
während dies bei Leistungen vor 15 Jahren noch für Platz fünf im
internationalen Vergleich reichte, landet Deutschland damit heute nur noch
auf Platz 21. Andere Länder, darunter die Hälfte der EU-Partner wie Polen,
die Niederlande, Irland oder Ungarn, sind an Deutschland vorbeigezogen. „Es
hätte mehr passieren müssen in den letzten 15 Jahren“, meint Bos.
Auch die amtierende Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, die
Baden-Württembergerin Susanne Eisenmann, unternahm keinen Versuch, das
Ergebnis schönzureden. „Stagnation heißt in dieser Situation Rückschritt�…
sagte Eisenmann.
## Zwei Lernjahre Abstand
Die Grundschuluntersuchung zeigt auch, dass das Feld der Grundschüler sich
in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten auseinandergezogen hat. Zwischen
guten und schlechten Leserinnen klaffen 78 Leistungspunkte, also etwa zwei
Lernjahre. Der Anteil jener Kinder, die am Ende der vierten Klasse vor dem
Wechsel auf die weiterführende Schule praktisch Analphabeten sind, hat sich
seit 2001 von drei auf sechs Prozent verdoppelt. Der Anteil der
SpitzenleserInnen ist von neun auf elf Prozent gestiegen, beträgt aber in
Nordirland oder Polen fast das Doppelte.
Auch der Zusammenhang zwischen Elternhaus und Schulerfolg hat an Gewicht
gewonnen. Kinder, in deren Elternhäusern weniger als 100 Bücher im Regal
stehen – ein Indiz für kulturelles Kapital –, liegen im Mittel in ihren
Lesekompetenzen über ein Lernjahr hinter jenen, deren Eltern mehr als 100
Bücher besitzen. Im internationalen Vergleich sind die sozialen
Disparitäten nur in drei Ländern größer.
KMK-Präsidentin Eisenmann verwies gleichwohl auf die veränderten
Rahmenbedingungen in Deutschland: Bei jedem dritten Kind in der Grundschule
sei ein Elternteil im Ausland geboren. Vor 15 Jahren war es noch jedes
vierte Kind. In der Stichprobe waren auch die Schüler aus
Flüchtlingsklassen vertreten, die 2015 nach Deutschland kamen.
Der deutsche Lehrerverband sieht hier auch die Hauptursache für den
signifikanten Anstieg von Grundschulkindern mit eklatanten Leseschwächen:
die immer größer werdende Gruppe von Kindern mit Migrationshintergrund, bei
denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen werde, so Verbandspräsident
Heinz-Peter Meidinger. Meidinger fordert, in sämtlichen Bundesländern bei
allen Kindern verbindliche Sprachstandsüberprüfungen einzuführen und bei
massiven Sprachdefiziten bereits eine vorschulische Sprachförderung
anzusetzen: „Ohne eine solche vorschulische Förderung sind die Grundschulen
mit dem zunehmenden Anteil von Flüchtlingskindern und Kindern mit
Migrationshintergrund hoffnungslos überfordert“, meint Meidinger.
Doch so einfach ist es nicht. Laut IGLU haben sich die Leseleistungen der
Kinder, bei denen beide Eltern im Ausland geboren wurden, seit 2001
signifikant verbessert. Gleichwohl ist der Abstand zu den Kindern ohne
Migrationshintergrund etwa konstant geblieben.
Eine mögliche Begründung liefert die Studie mit: Von den Kindern, die als
schwache Leser gelten, erhält nur ein Drittel zusätzliche schulische
Förderung im Lesen. „Wir weisen seit zehn Jahren darauf hin, dass wir
schwache Leser stärker fördern müssen“, sagt Renate Valtin. Die
Erziehungswissenschaftlerin gehört ebenfalls zum deutschen IGLU-Team und
hat auch die PISA-Studien von Anfang an begleitet hat. „In Ländern, die in
den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte gemacht haben, werden alle
Kinder, die schlecht lesen können, zusätzlich gefördert, und zwar mit
zusätzlich eingestelltem Personal.“
## Präventive Förderung
Das müssten dann aber ausgebildete Pädagogen sein – „Lesepaten oder
Schulassistenten reichen nicht“. Valtins Forderung: In Deutschland müssen
Kinder viel stärker präventiv und zu Beginn ihrer Schullaufbahn gefördert
werden. Das aber kostet mehr Zeit und mehr Geld.
Auch die Bildungsgewerkschaft GEW hält mehr Personal in den Schulen für
dringend geboten und fordert Ganztagsschulen und ausreichend gut
ausgebildete Lehrkräfte. „Es ist eine Schande, dass ein so reiches Land wie
Deutschland es nicht schafft, Bildungsbenachteiligungen beherzt anzugehen
und diese abzubauen“, meint die für den Bereich Schule zuständige
GEW-Vize-Vorsitzende Ilka Hoffmann.
Doch wer soll zusätzliche Lehrerstellen bezahlen? Die Bundesländer, für die
ab 2020 die Schuldenbremse greift, haben schon derzeit Schwierigkeiten, die
ausgeschriebenen Stellen überhaupt zu besetzen. In manchen Ländern sind
über die Hälfte der neu eingestellten Lehrer und Lehrerinnen an den
Grundschulen nicht für den Beruf ausgebildet. Am Föderalismus will
KMK-Vertreterin Eisenmann auf keinen Fall rütteln. Er biete die Chance,
sich gegenseitig herauszufordern und voneinander zu lernen.
Anders sieht das der bildungspolitische Sprecher der Grünen, Kai Gehring.
Er fordert eine gesamtstaatliche Initiative und die Aufhebung des
grundgesetzlichen Kooperationsverbots. „Damit Bund, Länder und Kommunen an
einem Strang ziehen können.
5 Dec 2017
## AUTOREN
Anna Lehmann
## TAGS
Bildung
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Föderalismus
Pisa-Studie
Lehrermangel
Migration
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