# taz.de -- Kommentar Lehrermangel: Quereinsteigen statt Sitzenbleiben | |
> Die besten Lehrer sind die mit Lebenserfahrung und Persönlichkeit. Sie | |
> wissen, wovon sie sprechen. Deshalb braucht es mehr Seiteneinsteiger. | |
Bild: Ein Lehrer mit Elvistolle, Comicfaible und goldener Taschenuhr? Perfekt! | |
Glaubt man dem Philologenverband, dann ist der Untergang nahe: „Geradezu | |
dramatisch bis katastrophal“ sei der Lehrermangel an deutschen Schulen. Und | |
der Deutsche Lehrerverband schätzt, dass 40.000 Lehrer in Deutschland | |
fehlen. Man sieht schon Schüler über Tische und Bänke gehen. | |
Natürlich ist es Ausdruck eines politischen Versagens, dass es nun zu wenig | |
Lehrer gibt in Deutschland. Und es wird deutlich, wie hohl das Gerede ist | |
von der Bildungsnation, wenn nicht einmal genug Lehrkräfte zur Verfügung | |
stehen, um die Aufbewahrung der Kinder von 8 bis 16 Uhr zu gewährleisten – | |
geschweige denn eine Ausbildung, um im globalen Wettrennen gegen | |
dreisprachige Chinesen in Elektroautos zu bestehen. | |
Das größte Problem ist, dass der Lehrermangel die deutschen Schüler nicht | |
im gleichen Ausmaß trifft. Weil Lehrer sich heute wieder ihre Schule | |
aussuchen dürfen, suchen vor allem Schulen in armen Stadtteilen mit | |
anstrengenden Schülern verzweifelt Personal. Das Gymnasium in Grünwald oder | |
dem schmucken Taunusort wird weiterhin kaum Probleme haben, Personal zu | |
finden. Allen Beteuerungen von der „Ressource Bildung“ zum Trotz bleibt | |
Deutschland also, was es ist: eine Gesellschaft, in der nicht die | |
Schulklasse, sondern die Klasse der Eltern das Leben bestimmt. | |
Und doch stört etwas an der aktuellen Debatte um Quereinsteiger, denen | |
unisono die Eignung abgesprochen wird. Es ist die Geringschätzung, mit der | |
dabei über Menschen mit ungeraden Lebenswegen gesprochen wird. Die hohe | |
Zahl der Seiteneinsteiger sei ein „Skandal“, eine ganze Schülergeneration | |
„nehme Schaden“. Quereinsteiger berichten auch von missgünstigen Kollegen. | |
Es klingt, als seien Quereinsteiger nicht nur inkompetent, sondern für | |
Schüler gemeingefährlich. | |
Dabei sind jene Menschen die besten Lehrer, die von ihren Schülern | |
interessant gefunden werden. Weil sie spannende Dinge erlebt haben, weil | |
sie wissen, wovon sie sprechen, wenn es im Politikunterricht um Prekarität | |
geht oder im Deutschunterricht um einen Romanhelden, der nicht weiß, was er | |
mit seinem Leben anfangen soll. | |
## Klassenlehrer mit Elvistolle | |
Wer bei einem Klassentreffen an seine Schulzeit zurückdenkt, erinnert sich | |
selten an die Lehrer mit den besten didaktischen Konzepten, sondern an die | |
interessantesten Persönlichkeiten. Mein Klassenlehrer in der Mittelstufe | |
war ein promovierter Historiker, ein Quereinsteiger, würde man heute sagen. | |
Er unterrichtete uns auch in Latein, obwohl er das nicht studiert hatte. | |
Er hatte eine Elvistolle und eine goldene Taschenuhr, und in seiner | |
Freizeit schrieb er an Wikipedia-Artikeln über den Versailler Vertrag mit, | |
da war das Onlinelexikon noch keine drei Jahre alt. Auf seine Arbeitszettel | |
druckte er kleine Comics von Calvin und Hobbes, über die er selbst lauter | |
kicherte als seine Schüler. Den Unterrichtsstoff aus dem Lateinunterricht | |
habe ich längst vergessen. Aber von meinem Klassenlehrer habe ich gelernt, | |
dass man ein Nerd sein kann und trotzdem cool. | |
Es ist kein Ausdruck von Qualifikation, schon als Abiturient im Alter von | |
19 Jahren keine Träume von der Zukunft zu haben, die über das Lehrerpult | |
hinausgehen, das zwei Bänke weiter vorne steht. Wer in den letzten zehn | |
Jahren pädagogische Seminare an einer deutschen Hochschule besucht hat, | |
trifft dort auf viele Studierende mit einem hohen Sicherheitsbedürfnis, das | |
der Lehrerberuf und die damit verbundene Verbeamtung bietet. Das ist nicht | |
schlimm, aber ein bisschen langweilig. | |
Und es war früher mal anders: Wer in den siebziger Jahren Lehrer wurde, in | |
den Jahren der großen Bildungsexpansion, als immer mehr Menschen Abitur | |
machten, der hatte noch viel häufiger politische Motive für seinen | |
Berufswunsch. Der wollte mit seinen Schülern die Welt verändern, den Muff | |
von 1.000 Jahren vertreiben oder zumindest die alten Nazikollegen aus dem | |
Lehrerzimmer. Der gründete Gesamtschulen und wollte einen Unterricht, in | |
dem nicht mehr geschrien und geschlagen wird wie in der eigenen Schulzeit. | |
Es ist ein Irrglaube, dass Lehrer dieser früheren Generationen pädagogisch | |
besser ausgebildet waren als die Quereinsteiger heute. Wer als Lehrer heute | |
über 50 Jahre alt ist, stand oft im Referendariat das erste Mal vor einer | |
Schulklasse. Und trotzdem sind aus vielen von ihnen gute Lehrer geworden. | |
## Ewig Teil der Oberschicht | |
Heute dagegen werden viele junge Menschen Lehrer, die wollen, das alles so | |
bleibt, wie es ist. Wer mit einem Gehalt von 3.000 Euro netto ins | |
Berufsleben einsteigt und sein Leben lang privatversichert ist, dem fehlt | |
womöglich die Fantasie, dass es den meisten Menschen in Deutschland anders | |
geht. Glauben Sie nicht? Fragen Sie mal einen Lehrer, ob er sich zur | |
Oberschicht zählen würde (was er statistisch mit seinem Einkommen tut). Wer | |
sein Leben in der Schule verbringt, weiß nicht, wie es ist, Angst vor der | |
Arbeitslosigkeit zu haben, vier Wochen auf einen Facharzttermin zu warten | |
oder einen Rentenbescheid zu bekommen, der dreistellig ist. | |
Aber es geht nicht nur um Privilegien, sondern um Erfahrung: Ein | |
Quereinsteiger, der Romanautor werden wollte, spricht im Deutschunterricht | |
anders über Schriftsteller, ein ehemaliger Leistungssportler denkt anders | |
nach über Biologie und Ernährung. | |
Die pädagogische Ausbildung an Universitäten krankt auch daran, dass dort | |
Menschen arbeiten, die Lehrer werden wollten, aber aus Angst vor den | |
Schülern lieber an der Uni geblieben sind. Nicht die besten Pädagogen also. | |
Die lassen ihre Studierenden dann für Multiple-Choice-Tests auswendig | |
lernen, dass Frontalunterricht schlecht ist. | |
Vielleicht wäre das eine Lösung: Ein Mindestalter für Lehrer, so wie für | |
das Amt des Bundespräsidenten. 40 Jahre, das wäre ein gutes Einstiegsalter. | |
Dann hätte jeder Lehrer genauso viel Zeit innerhalb wie außerhalb der | |
Schule verbracht. Und es wäre eine gute Exit-Option für all die prekären | |
Journalisten, Künstler und Schauspieler, die nochmal Geld verdienen wollen. | |
Und ihren Schülern Geschichten vom Scheitern erzählen können. | |
Quereinsteiger brauchen eine bessere pädagogische Qualifikation und | |
Begleitung bei ihrem Sprung ins kalte Wasser. Dann aber sind sie nicht nur | |
eine Notlösung, sondern eine Bereicherung. | |
Besser quer einsteigen als sein Leben lang sitzen bleiben – in der Schule, | |
in der Uni und wieder in der Schule. | |
25 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
## TAGS | |
Schule | |
Bildungspolitik | |
Lehrermangel | |
Quereinsteiger | |
Schule | |
Schule | |
FDP | |
Lehrer | |
Lehrer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Grundschulpädagogin über Lehrkräfte: „Viele sind so wütend auf die Kinder… | |
Gerade benachteiligte Schüler müsse man im Unterricht herausfordern, sagt | |
Marion Ziesmer. Welche Lehrer man dafür braucht, diskutiert sie am | |
Donnerstag in Neukölln. | |
Prognose der Kultusminister: Lehrermangel bis mindestens 2030 | |
Die Kultusminister haben eine eigene Prognose zum Lehrerbedarf erstellt. | |
Besonders im Osten werden Lehrer_innen gesucht. | |
FDP-Generalsekretärin über Lehrergehalt: „Die Besten der Besten belohnen“ | |
Die FDP möchte Lehrer nach Leistung bezahlen. Auch wer an Brennpunktschulen | |
arbeitet, soll profitieren, sagt FDP-Generalsekretärin Nicola Beer. | |
Lehrerverband über Quereinsteiger: „Den Geburtenanstieg verpennt“ | |
Der Lehrerverbandsvorsitzende Meidinger beklagt zu viele Quereinsteiger im | |
Schuldienst. Er fordert einheitliche Standards für ihre Ausbildung. | |
Seiteneinstieg in der Schule: Auf die Kinder, fertig, los! | |
Zum neuen Schuljahr fehlen wieder Tausende Lehrer. Die Bundesländer greifen | |
auf Quereinsteiger zurück. Kann das gut gehen? |