| # taz.de -- Nachruf auf den Satiriker F.W. Bernstein: Der Tag des lustigen Geri… | |
| > Wie der Dichter, Zeichner und Lehrer F.W. Bernstein mich, meine | |
| > Generation sowie Lyrik und Zeichenkunst prägte. Zum Tod von Fritz Weigle. | |
| Bild: Prägte eine Generation: F.W. Bernstein 1938-2018 | |
| In der Nacht zu Freitag verstarb im Alter von achtzig Jahren ein Klassiker | |
| der deutschen Hochkomik: Fritz Weigle alias F.W. Bernstein. Sein | |
| bekanntestes Gedicht ist der Zweizeiler „Die schärfsten Kritiker der Elche | |
| / waren früher selber welche“. Wie sehr F.W. Bernstein über sein Werk | |
| hinaus durch seine Persönlichkeit wirkte, dokumentiert der folgende Text. | |
| Es gibt Tage, an denen sich Biografien jäh verändern. Und es gibt Tage, an | |
| denen der Stein nicht einmal bemerkt, dass er plötzlich zu rollen beginnt. | |
| Ein solch denkwürdiges Datum in meinem Leben war der 15. Dezember 1992. Ich | |
| lernte F.W. Bernstein kennen. | |
| Vor das Berliner Kammergericht am Amtsgerichtsplatz in Charlottenburg war | |
| Eckhard Henscheid geladen. Der Satiriker, Romancier und Mitbegründer der | |
| „Neuen Frankfurter Schule“ hatte sich in der Zeitschrift Der Rabe Heinrich | |
| Böll und sein Werk vorgenommen und den Nobelpreisträger als „steindumm“ u… | |
| „korrupt“ bezeichnet. Der Böll-Sohn René sah darin das Andenken seines | |
| Vaters beschädigt und hatte Henscheid verklagt. | |
| Drei Monate zuvor hatte ich Henscheid in seiner Heimatstadt Amberg besucht, | |
| um einige Schauplätze seiner Erzählungen zu besichtigen und über zwei Tage | |
| ein langes Interview mit ihm zu führen. Ich hatte bereits eine Bibliografie | |
| zu seinem Werk veröffentlicht und wollte weiter wissenschaftlich daran | |
| arbeiten. Eigentlich war ich jedoch sehr unsicher, was meine Zukunft | |
| betraf, mein Studium war längst abgeschlossen. Wollte ich wirklich | |
| promovieren? Zusammen wanderten wir zur Kapelle Maria Schnee, und Henscheid | |
| spottete über uns als Nachfolger von Augstein und Heidegger. | |
| An dem Dienstagmorgen im Dezember 1992 kam Henscheid nicht nur in | |
| Begleitung seiner Anwältin Gabriele Rittig, die in Simone Borowiaks gerade | |
| erschienenem Bestseller „Frau Rettich, die Czerni und ich“ die Vorlage für | |
| eine der Hauptfiguren geliefert hatte, der streitlustige Autor hatte auch | |
| eine breite Phalanx von Unterstützern an seiner Seite – darunter, wie er | |
| nun vorstellte, sein „persönlicher Gerichtszeichner“: F.W. Bernstein. | |
| ## Zwei meiner literarischen Heroen | |
| Vor mir standen zwei meiner literarischen Heroen. Henscheid, der Meister | |
| der Erzählkomik, und Bernstein, der Doppelmeister der komischen Dicht- und | |
| Zeichenkunst sowie Erfinder des berühmten Elch-Zitats. Das war wie Goethe | |
| und Schiller! Da konnte einen beinahe das Pathos überwältigen. | |
| F.W. Bernstein hat einmal in einem Erinnerungstext beschrieben, wie Erich | |
| Kästner Mitte der sechziger Jahre die Pardon-Redaktion besucht hatte und | |
| wie ehrfürchtig die Redakteure dem großen Humoristen und Überlebenden der | |
| Nazi-Zeit begegnet waren. | |
| Am Tag, als der Bernstein in meine Welt kam, war die Ehrfurcht schon bald | |
| wie weggeblasen – auch weil Fritz, der zwar immer die Aura eines leisen | |
| Herrn und zurückhaltenden Gentlemans ausstrahlte, sich in kürzester Zeit | |
| von jedem beim Vornamen anreden ließ, um erst gar keine Distanz aufkommen | |
| zu lassen. Nur wenige nannten ihn „Bernstein“ – ursprünglich war es sein | |
| Spitzname als Schüler in Göppingen, bevor es sein Künstlername wurde. | |
| Der Prozess begann um zwölf Uhr mittags, und bis er um dreizehn Uhr zehn | |
| beendet war, protokollierte ich den Verlauf akribisch. In dieser Zeit hielt | |
| Fritz alle Beteiligten im Bild fest: die hinter einer Schranke leicht | |
| erhöht sitzenden drei Richter; den Gegenanwalt Prof. Wilhelm Nordemann, den | |
| ich als „verschnarcht, lustig dummen Menschen“ beschrieb; und das Publikum, | |
| zu dem mein Jugendfreund Udo Gansewig, der Bernstein-Schüler Ludwig Lang, | |
| der Zeichner Heribert Lenz und der Autor Gerhard Henschel gehörte. Und über | |
| allem schwebte als Unschuldsengel Heinrich Böll. | |
| Nach langem Hin und her wurde Henscheid schließlich, wie von den meisten | |
| Beobachtern erwartet, schuldig gesprochen. Der Anwalt der Gegenseite und | |
| die Richter waren sich früh einig: Der Text war eine Schmähkritik. Das | |
| würde teuer werden für den Angeklagten. Henscheid nahm die Niederlage | |
| sportlich und kündigte ein Rückspiel an. | |
| ## Fritz zeichnete, wie er es immer in Runden tat | |
| Zur Beruhigung der Nerven ging es ums Eck in ein biederes Lokal mit dem | |
| selbst für Berliner Verhältnisse ungewöhnlichen Namen „Gasthaus Stadt | |
| Kassel“. Sogleich kam es zu einem kurzen Disput zwischen Henscheid und | |
| seiner Anwältin, als er behauptete, er sei vor Jahren für den | |
| Heinrich-Böll-Preis vorgeschlagen worden. Das hätte er doch früher erwähnen | |
| sollen, weil es der Argumentation der Verteidigung gedient hätte, tobte | |
| Frau Rittig, während der Rest erst einmal ein Frisches trank. Und Fritz | |
| zeichnete, wie er es immer in Runden tat, und fügte den blonden Trumm von | |
| einem Wirt ins Gesamtbild eines lustigen Gerichtstages ein. | |
| Die vollständige Zeichnung des „Lokaltermins“, die Fritz später einigen d… | |
| Porträtierten sandte, setzt sich aus den vorgefertigten Elementen zusammen | |
| und zitiert ironisch Bildmotive und -strukturen christlicher Malerei der | |
| Renaissance und des Barocks zwischen Letztem Abendmahl und Jüngstem | |
| Gericht: | |
| Im Himmel wird die göttliche Trinität durch die juristische Autorität | |
| ersetzt, der ein mephistophelisch über seine Schulter schauender | |
| Tempelwächter zur Seite steht. Die dynamische Verbindung zwischen Himmel | |
| und Erde bildet der Götterbote, der als Gläserträger auf Robert Gernhardts | |
| „Weinreinbringer“ anspielt und dem von oben herab die mit einer Baskenmütze | |
| ausgestattete Dekorationsputte Heinrich Böll vorausfliegt. | |
| Unten auf der Zeichnung sitzen die Jünger im Kreis um den Verkünder, der | |
| als Einziger einen aufklärerischen Kaffee schlürft, während Fritz mit dem | |
| Stift in der Hand Petrus gleich die Botschaft aufnimmt. Der Kreis im | |
| Zentrum aber könnte ein Symbol sein – ein Heiligenschein oder der Ring des | |
| Nibelungen oder auch einfach nur ein Tisch: Auf diesem Bierfels sollst du | |
| meine Spottkirche gründen. | |
| Vier Tage später traf ich Gerhard Henschel zufällig in Kreuzberg auf einer | |
| Party meines Kommilitonen Gunnar Kwisinski wieder. Wie sich herausstellte, | |
| hatten wir an der Freien Universität Berlin beim selben Professor, dem | |
| Raabe-Forscher Horst Denkler, studiert, ohne uns dort je begegnet zu sein. | |
| Henschel etablierte sich gerade als Autor, wir freundeten uns an und trafen | |
| uns von da an regelmäßig. | |
| ## Pathos muss mit Ironie gekontert werden | |
| Vor allem aber traf ich Fritz Weigle – oft auf Bahnhöfen, war er doch wie | |
| ich ein „Bahnhofshysteriker“, der Angst hatte, Züge zu verpassen. Meist war | |
| er eine Stunde vor Abfahrt auf dem Bahnsteig und beobachtete die Wartenden. | |
| Auf Zugfahrten nach Frankfurt, Greiz oder Kassel zu Buchmessen, | |
| Ausstellungen oder Lesungen unterhielten wir uns über abseitige Phänomene | |
| wie zum Beispiel Aggressionslinien in der Kunst, die immer von links nach | |
| rechts wiesen, weil Zeichner überwiegend Rechtshänder sind. Und er | |
| vermittelte die Grundlehre einer vom brutalen Geschrei der Nazis | |
| mitgeprägten Nachkriegsgeneration: Pathos ist immer falsch und muss mit | |
| Ironie gekontert werden. | |
| Einmal begegneten wir uns überraschend auf einer Vernissage in der | |
| britischen Botschaft in Berlin, bei der sich Fritz früh verabschiedete, um | |
| mit dem Botschafter und ein paar ausgewählten Künstlern in der Residenz | |
| Seiner Exzellenz Muscheln und Rehrücken zu speisen. Wäre Fritz Brite | |
| gewesen, hätte ihn die Queen längst zum Ritter geschlagen und er hätte sich | |
| „Sir Fritz“ nennen dürfen. | |
| So sehr das Signet „Neue Frankfurter Schule“ ironisch gemeint war, so sehr | |
| war Fritz Weigle tatsächlich Lehrer. Er hatte nicht nur die pädagogische | |
| Ausbildung, er lehrte, nach seiner Zeit als Redakteur bei Pardon und | |
| Titanic, von 1984 bis 1999 als Professor für Karikatur und Bildgeschichte | |
| an der Berliner Hochschule der Künste und bei Seminaren der Kasseler | |
| Caricatura oder in der 1990 von ihm gegründeten „Zeichenschule an der | |
| Eider“ in Rendsburg. | |
| In den Zeichenseminaren wies er auf grundlegende Fehler hin: Oft haben | |
| Cartoon-Figuren zu kleine Hände und Füße. Lange, unförmige, knollenartig | |
| überzeichnete Nasen – ja, aber auch komische Figuren müssen proportional | |
| stimmig sein. | |
| ## Demnächst werde er wieder ein Gedicht schicken | |
| Ich kannte einige seiner Schüler, und je tiefer ich in diesen Kosmos | |
| hineingezogen wurde, desto klarer wurde mir, dass ich kein Fan, Forscher | |
| oder Epigone mehr sein wollte, sondern selbst schreiben. Damals hätte ich | |
| nicht zu träumen gewagt, dass ich eines Tages sein Redakteur sein durfte. | |
| Rund neunzig Bücher umfasst sein Werk. Darunter sind Klassiker wie „Die | |
| Wahrheit über Arnold Hau“, Schätze wie „Bernsteins Buch der Zeichnerei“ | |
| oder Ewigkeitsbegleiter wie die Bände mit seinen Gedichten. Sein | |
| feinsinniger Witz und seine inspirierende Ironie werden uns noch lange | |
| lachen lassen: „In mir erwacht das Tier, / es ähnelt einem Stier. / Das ist | |
| ja gar nicht wahr, / in mir sind Tiere rar. // In mir ist’s nicht geheuer, | |
| / da schläft ein Zuckerstreuer. / Und wenn der mal erwacht, / dann Gute | |
| Nacht!“ | |
| Vor ein paar Monaten sah ich Fritz Weigle ein letztes Mal in Berlin vor dem | |
| „Medusa“, einem griechischen Restaurant im Friedenauer Dichterviertel, in | |
| dem er immer donnerstags einen Zeichnerstammtisch besuchte. Nun stand er, | |
| buchstäblich gezeichnet von einem Sturz, auf seinen breiten Stock gestützt | |
| da und war sofort hellwach: Er habe doch kürzlich Post von mir bekommen mit | |
| der Bitte um einen Text, demnächst werde er wieder ein Gedicht schicken, | |
| versicherte er. Dazu kam es leider nicht mehr. | |
| Vor rund 25 Jahren schrieb ich kurz nach dem Henscheid/Böll-Prozess meinen | |
| allerersten Artikel für die FAZ und ihren damaligen Redakteur Gustav Seibt. | |
| Und damit begann eine neue Geschichte. Auch dank Fritz Weigle. Meine. | |
| 21 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Ringel | |
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