| # taz.de -- Die Wahrheit: Doctor Heimlich meets Picasso | |
| > Die Freiheit der Dekadenz: Als ökologischer Bigfoot unterwegs in den | |
| > unendlichen Weiten Amerikas. Es lebe der Genuss im Überfluss! | |
| Bild: Auch in Las Vegas gibt es ein Klima – mit echten Blitzen | |
| Für zwei Dinge kann ein Mensch nichts: für seinen Geburtsnamen und für | |
| seinen Geburtsort. Für beides sind allein die Eltern verantwortlich. Aber | |
| einen Namen kann man sich im Laufe des Lebens machen, und seinen Sterbeort | |
| sollte man wenigstens versuchen, selbst zu bestimmen. Wenn bei Wikipedia an | |
| beiden Lebenseckpunkten zwei Käffer eingetragen sind, dann hat man es nur | |
| von Kleinkleckersdorf nach Hintertupfingen geschafft. Noch immer gilt die | |
| Devise: Neapel sehen und sterben. | |
| Als wir die Kante des Grand Canyon erreichen und sich rund 3.000 Fuß unter | |
| uns der kakao-braune Colorado River zu schlängeln beginnt, erlaubt sich der | |
| Pilot einen makabren Scherz. Musik setzt über die Kopfhörer ein: der | |
| Walkürenritt von Wagner. Wie in „Apokalypse Now“. Wenn acht Helikopter wie | |
| die acht Walküren im Morgengrauen einen Angriff fliegen. Nicht die letzte | |
| Gänsehaut des Tages. | |
| Erstaunlich langsam gleiten wir über die sonnendurchflutete Sierra Nevada | |
| hinweg. Mein erster Hubschrauberflug, und das wacklige Fluggerät bewegt | |
| sich verblüffend gemächlich durch den Himmel. Auch die Landung am Ufer des | |
| Colorado erweist sich als sehr sanft. Unter einem Tarnnetz, das als | |
| Sonnenschutz dient, steht ein Champagner-Picknick bereit. | |
| Vor zehn Jahren hatten wir im Neo-Neapel geheiratet. In derselben Kapelle | |
| wie Angelina Jolie und Billy Bob Thornton oder Cindy Crawford und Richard | |
| Gere. Und damals hatten wir uns versprochen: Wenn die Ehe zehn Jahre hält, | |
| feiern wir den zehnten Hochzeitstag wieder in Sin City. Bekanntlich sind | |
| Vegas-Ehen die kürzesten, aber wir haben es, anders als unsere Vorgänger, | |
| geschafft. Und deshalb fliegen wir jetzt auf dem Rückweg über den Las Vegas | |
| Strip, an dem rechts und links die großen Casinohotels liegen – bis zum | |
| Stratosphere Tower, dem höchsten Gebäude von Vegas. Im siebzehnten Stock | |
| liegen unsere Gemächer. | |
| ## Chauffeur mit Stretchlimo | |
| Zum wedding day gehört selbstverständlich ein Dinner in einem der besten | |
| Restaurants der Stadt: dem Picasso im Hotel Bellagio, in das uns der | |
| Chauffeur mit einer Stretchlimo kutschiert. Dorthin, wo Julia Roberts und | |
| Andy Garcia in „Ocean’s Eleven“ dinieren. Draußen tanzen im Rhythmus der | |
| Musik die Wasserfontänen, drinnen empfängt uns der blasierteste Ober der | |
| Welt. Er wäre gern Franzose und kriegt doch nur einen halben Belgier hin. | |
| Hercule Poirot für Arme. | |
| Über unserem Tisch hängt eines von drei tatsächlich echten Picasso-Gemälden | |
| im Restaurant, ein recht reizloses kubistisches Stillleben, das als Druck | |
| in jedes Gelsenkirchener Wohnzimmer passen würde. Die kostspieligen Bilder | |
| hat der Milliardär Steve Wynn für sein Luxushotel gekauft, allerdings hat | |
| Wynn nicht die besten Erfahrungen mit Picassos Werk gemacht. Im Jahr 1998 | |
| wollte er das Gemälde „Le Rêve“ (Der Traum) kaufen, rammte aber bei der | |
| Freudenfeier anlässlich des Erwerbs traumhaft angetrunken seinen Ellenbogen | |
| durch die Leinwand und riss ein Loch in den Unterarm der abgebildeten | |
| Picasso-Geliebten Marie-Thérèse Walter. „Gott sei Dank war ich das“, sagte | |
| Wynn, der als Erbauer des modernen Las Vegas gilt, und trat vom Kauf der | |
| beschädigten Kunstware zurück. | |
| Unendlich lang braucht der immer verblasener wirkende Ober, um die | |
| Bestellung aufzunehmen. Als erster Gang wird „Foie Gras au Torchon“ | |
| gereicht, als Hauptgang folgt ein „Roasted Milk-Fed Veal Chop“, also | |
| Lammsteak, und das Dessert wählt der Chefkoch: „Chef’s Choice“. Fassungs… | |
| nimmt Freund Ober unsere Kritik am vorgeschlagenen Champagner zur Kenntnis. | |
| Nein, da hätten wir gern eine andere Wahl: lieber den Rosé von Ruinart. In | |
| Reims wird immer noch der beste Champagner produziert. Rückkehr nach Reims? | |
| So heißt doch das Buch von Didier Eribon: „Retour à Reims“. Besser passt | |
| Joris-Karl Huysmans’ „À rebours“. Heute trinken wir auf dem Strip „geg… | |
| den Strich“. Dem falschen Belgier fällt fast die weich gewellte Zunge aus | |
| dem offenen Mund, er versteht nur Bahnhof und ordert den Sommelier herbei, | |
| der diese hergelaufenen Hochzeiter kundig beim Wine Pairing berät. | |
| Einen Sternekoch und seine Entscheidungen darf man nie vorher in Frage | |
| stellen. Deshalb habe ich ausnahmsweise beim Lamm auf das bewährte „Well | |
| done“ verzichtet und bemerke gleich, das Steak ist alles andere als durch, | |
| eher zäh wie Leder. Unsere Tischrunde – wir sind zu viert, da unsere | |
| Trauzeugen den Abstecher nach Las Vegas mitgemacht haben – plaudert | |
| derweil, und ich rede und kaue und rede zu viel und kaue zu wenig, bis | |
| kommt, was kommen muss: das „Steakhouse-Syndrom“, wie Mediziner es nennen. | |
| Ich verschlucke mich an einem Bissen Lamm, und es steckt fest. In der | |
| Speiseröhre. Röchel … Keine Luft! Luft! Luft! O my god! Jetzt soll ich also | |
| doch noch in Neapel sterben. Oder war es Vegas? Arrivederci! Auf | |
| Wiedersehen! Good bye … | |
| ## Todesnaher Moment | |
| Es gibt ja die Legende, dass in todesnahen Momenten das ganze Leben an | |
| einem vorbeizieht. Ich kann das so nicht bestätigen. Nichts gleitet vorbei. | |
| Zäh wie ein Lammsteak steht die Zeit still. Ich sehe in den weit | |
| aufgerissenen Augen meiner Gattin das Entsetzen, sehe den Picasso ungerührt | |
| an der Wand hängen, sehe die Gäste an den Nachbartischen gleichgültig vor | |
| sich hin tafeln und ergebe mich beinah schon in mein Schicksal, als ich | |
| eine Epiphanie habe … | |
| Mitten auf dem hell erleuchteten Las Vegas Strip materialisiert sich Greta | |
| Thunberg. Die kleine Schwedin. Ihre Zöpfe heißen Siegfried und Roy und | |
| zittern vor Wut über das Lichtermeer, die Musikwellen, die Wasserspiele und | |
| all die Verschwendung um sie herum. Besonders wütend aber ist die | |
| Prinzessin des Puritanismus auf mich. „Klima! Klima! Klima!“, knöttert sie, | |
| ist sie doch eigens mit der Töff-Töff-Eisenbahn von Stockholm nach Las | |
| Vegas getuckert, um mir ins Gewissen zu reden. Was ich denn da tue in | |
| diesen Tagen einer Reise quer durch einen Kontinent: 22.000 Kilometer, acht | |
| Flugzeuge, ein Hubschrauber, drei Schiffe, ein paar Fähren, Bahnen, Autos … | |
| Ob ich denn noch bei Sinnen sei, mahnt die Klimakämpferin mit den zornigen | |
| Zöpfen. | |
| Mit einem Plopp kehre ich in die Realität zurück. Wozu hat man schließlich | |
| einen Arztneffen dabei? Der als Einziger im Raum geistesgegenwärtig die | |
| Situation erfasst hat, aufspringt, hinter mich tritt, mir die Arme um die | |
| Brust legt und den aus Film, Funk und Fernsehen weltberühmten | |
| Heimlich-Griff anwendet. Plopp! Das Stück Steak plumpst auf den Teller. | |
| Und was tut der gestählte Genießer von Welt, den nichts aus der | |
| schnurrenden Ruhe bringen kann? Er schneidet das Corpus Delicti mit Messer | |
| und Gabel zurecht und verspeist es erneut. Das Wort „Fassungslosigkeit“ ist | |
| fast zu spärlich für die Reaktion der Tischrunde. Und die latinische | |
| Hilfskellnerin fragt besorgt: „Are you okay, Sir?“ | |
| ## Verdauungsbummel über den Strip | |
| Selbstverständlich schäme ich mich anschließend ein wenig für die | |
| unpassende Show-Einlage. Die heilige Greta aber lässt mich beim | |
| Verdauungsbummel über den strahlenden Strip nicht mehr los. Überall sehe | |
| ich die Bezopfte vor mir und höre ihre quengelnde Stimme: Das sei die | |
| gerechte Strafe für einen ökologischen Bigfoot wie mich. | |
| Wo bleibt da die Freiheit?, wehre ich mich mit der Kraft der sieben Leben | |
| eines unbezwingbaren Katers gegen die Über-Gretel in mir. Ich lasse mir | |
| doch keine Vorschriften machen von der Prophetin einer Ökodiktatur. Als ob | |
| wir nicht bereits in der Geschichte genug Diktaturen gehabt hätten, die | |
| sämtliche Freiheit unterdrückt haben: Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, | |
| Reisefreiheit … | |
| Und ich wiederhole meine Credo: Verschwendung ist der Beginn aller Kultur. | |
| Hätten in der Steinzeithöhle die puritanischen Geizhälse den Ton angegeben, | |
| wäre das Feuer niemals fürs Kochen verwendet worden und wir würden noch | |
| heute Rinden von den Bäumen knabbern. Erst mit der Verschwendung beginnt | |
| das Abenteuer Zivilisation. Es lebe der Genuss im Überfluss! Dekadenz ist | |
| die höchste Form der Freiheit. Freedom’s just another word for nothing left | |
| to lose. | |
| Im nächsten Leben sterbe ich dann in Kyritz an der Knatter. | |
| 24 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Ringel | |
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