# taz.de -- 69. Internationale Filmfestspiele Berlin: Letzter Aufzug für Diete… | |
> Heute beginnt die letzte Berlinale unter Dieter Kosslick. Er hat die | |
> Filmschau zum größten Publikumsfestival der Welt gemacht. | |
Bild: Ein Gemischtwarenladen namens Berlinale: Ticketschalter mit Ansturm | |
Es ist ein typischer Dienstagmorgen um neun Uhr, Anfang Februar in den | |
Potsdamer Platz Arkaden: Draußen schlägt einem das nasskalte Wetter ins | |
Gesicht, drinnen, auf den roten Teppichen vor den Ticketschaltern, herrscht | |
Kuschellaune. Noch eine Stunde, bis der Vorverkauf für die Filme am 8. | |
Februar losgeht. Am heutigen Donnerstag beginnt die 69. Berlinale, sie wird | |
zumindest die filmbegeisterten Teile dieser Stadt zehn Tage lang in Atem | |
halten. | |
In der Schlange stehen auf jeder Seite der Schalter etwa 50 Personen: Leute | |
in den Zwanzigern, ein Vater mit seinem halbwüchsigen Sohn, eine | |
Dreißigjährige mit großem Parker und unordentlichem Dutt. Die Kitaleiterin | |
Miriam Lasch, 47 Jahre alt, ist am Vortag um 21 Uhr in den Arkaden | |
angekommen und hat hier übernachtet. Das macht sie seit acht Jahren. | |
Der Softwareentwickler Bodo Petermann, 45 Jahre alt, hat seinen Schlafsack | |
gegen Mitternacht hier ausgerollt. Das macht er seit 20 Jahren. Hinter | |
ihnen steht die Kinderkrankenschwester Susanne Fröhlich, 57 Jahre alt und | |
Hertha-Strickmütze, sie steht seit 7 Uhr morgens hier. Das macht sie seit | |
30 Jahren. | |
Nun räumen sie alle ihre Sachen zusammen, wirken ein wenig fahrig. Die | |
Schlange wird länger, bald gehen die Jalousien am Schalter hoch. Auch wenn | |
sie die Ersten oder Zweiten sind: Es ist nicht garantiert, dass sie auch | |
Karten für die zwei bis vier Filme bekommen werden, die sie sich für heute | |
notiert haben. Alle drei haben sich Urlaub genommen für die Berlinale, | |
werden auch morgen wieder anstehen. Und übermorgen. Und dann, später am | |
Tag, Filme gucken, bis zum Ende des Festivals. | |
Die 69. Berlinale ist die 18. Berlinale unter Dieter Kosslicks Leitung. Es | |
ist auch die letzte, denn im letzten Sommer wurde bekannt, dass 2020 Carlo | |
Chatrian, der bisherige Leiter der Filmfestspiele in Locarno, und die | |
Münchener Filmmanagerin Mariette Rissenbeek die Berlinale leiten werden. | |
Immer wieder gab es Kritik an Kosslick, Ende 2017 sogar einen Brief von | |
Filmschaffenden. Anstatt dem Festival einen konstistenten künstlerischen | |
oder kontroversen Kern zu geben, habe Kosslick einen Gemischtwarenladen aus | |
der Berlinale gemacht, von Kulinarischem Kino bis Berlinale Classics immer | |
weitere Untersektionen und Reihen mit unscharfem Profil eingeführt. | |
Was diese Kritiker oft übersehen, ist die Publikumsnähe von Dieter | |
Kosslick. Ebenso oft, wie er sich mit Stars auf dem roten Teppich | |
fotografieren ließ, posierte er dort auch mit Fans und schenkte ihnen | |
Tickets. Nie wurde er müde, zu betonen, dass die Berlinale das größte | |
Publikumsfestival der Welt sei. | |
Das heißt genau: 2002, im Jahr nach Kosslicks Antritt , wurden bei der | |
Berlinale 174.000 Tickets verkauft. Seither wurden es stetig mehr, 2018 | |
waren es 334.000. Das ist zwar weniger als ein halbes Prozent dessen, was | |
in Deutschland jährlich an Kinokarten verkauft wird (2018 etwa 100 | |
Millionen), aber gerade im Vergleich mit anderen Festivals lässt es sich | |
sehr wohl sehen. | |
## Kinokarten für Normalsterbliche | |
Es gibt sogenannte A-Festivals, also Festivals mit Internationalem | |
Wettbewerb, auf denen man als Normalsterblicher gar nicht an Karten | |
rankommt. Das ist in Cannes der Fall. Und in Venedig kosten die Karten bis | |
zu viermal so viel wie in Berlin. Die Tickets bei der Berlinale sind teurer | |
geworden. Bezahlte man 2001 für ein Ticket im Berlinale-Palast umgerechnet | |
noch etwa 10 Euro, so sind es heute 16. Doch das entspricht der allgemeinen | |
Preisentwicklung für Kinokarten. Die sind laut Filmförderanstalt im | |
Zeitraum 2001 bis 2017 um knapp 54 Prozent teurer geworden. | |
Auf der Berlinale werden alle Beiträge im Wettbewerb in mehreren | |
Wiederholungen gezeigt. Der letzte Tag, in diesem Jahr der 17. Februar, ist | |
traditionell der Publikumstag, für den jeder bereits jetzt Kinokarten | |
erwerben kann. Sogar einen Berlinale-Kindergarten gibt es, wo Eltern | |
zwischen 10 und 19 Uhr für wenig Geld ihren Nachwuchs abgeben können, um | |
dann in Ruhe Filme zu schauen. | |
Auch die Anzahl der Filme ist in jedem Jahr gestiegen. In diesem Jahr sind | |
es 400, also 15 mehr als im Vorjahr. Das kann natürlich kein Mensch auch | |
nur ansatzweise bewältigen. Trotzdem sind die meisten Filme ausverkauft. | |
Wer sich nicht täglich um 10 Uhr morgens kümmert, wird nicht mal für den | |
sonderbarsten, dunkelsten und längsten Film aus einem Land auf der anderen | |
Seite der Welt eine Karte bekommen. | |
Miriam Lasch, Bodo Petermann und Susanne Fröhlich gehen außerhalb der | |
Berlinale ein- bis dreimal im Monat ins Kino. Öfter als mancher Cineast, | |
aber deutlich seltener als der durchschnittliche Berliner, der sich nur | |
zwei- bis dreimal jährlich ins Kino verirrt. 2018 hatten die Kinos wegen | |
des heißen Sommers und der WM zwar deutlich weniger Besucher als sonst, | |
aber betrachtet man die Zahlen der letzten zehn Jahre auch in Berlin, geht | |
es den Kinos trotz der Streamingkonkurrenz erstaunlich gut. | |
## Keine Kinonation | |
Trotzdem: Deutschland ist keine Kinonation, dies beklagte in dieser Woche | |
auch ein deutsches Nachrichtenmagazin. Die Deutschen gehen im Schnitt nur | |
1,3-mal im Jahr ins Kino. In Frankreich kommt man dagegen auf 3,1 | |
Kinobesuche, in Paris sogar auf 11,8. Der Kinokultur in dieser Stadt kann | |
es also nur guttun, dass es jedes Jahr ein Festival wie die Berlinale gibt. | |
Miriam Lasch, Bodo Petermann und Susanne Fröhlich jedenfalls mögen die | |
Linie, die Dieter Kosslick in all den Jahren auf der Berlinale gefahren | |
ist. Sie haben sich jedes Jahr gefreut, wenn die Auswahl wieder größer | |
wurde. „Jedes Jahr, wenn das Programm kam“, sagt Fröhlich, „habe ich mich | |
erst einmal ins Café gesetzt und bin in aller Ruhe alle Filme | |
durchgegangen.“ Schwer zu sagen, nach welchen Kriterien sie die Filme am | |
Ende ausgesucht hat. Stars sind ihr egal, sie mag eher Problemfilme. Sie | |
ist in einer Kinofamilie groß geworden, wie sie sagt, und kauft bis heute | |
auch immer gleich für ihren Bruder Karten ein. | |
„Filme, die es vielleicht nicht ins Kino schaffen, sind viel | |
interessanter“, pflichtet Miriam Lasch bei. Sechs Karten hat sie am Ende | |
bekommen, acht hatte sie sich aufgeschrieben. Sie ist enttäuscht. Und wird | |
ihren Schlafsack trotzdem in einem Schließfach der Deutschen Bahn am | |
Potsdamer Platz lassen, um heute noch einmal hier zu übernachten. Dann ist | |
sie morgen wieder die Erste am Schalter. | |
6 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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