# taz.de -- Zur Duisburger Filmwoche: Selbstbestimmte Existenz | |
> Zum 43. Mal fand das Filmfestival für Dokumentarfilme statt. Die | |
> diesjährige Ausgabe widmet sich Werken über Menschen am Rande der | |
> Gesellschaft. | |
Bild: Filmszene aus „Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“ von Florian Kunert | |
Es ist noch dunkel, als sich die Familie ums Feuer versammelt. Ein wenig | |
Wärme tanken, ein gemeinsames Gebet, dann geht es hinauf in die Berge der | |
Karpaten. Langsam arbeiten sich Ioan und seine Frau in der Dämmerung den | |
Hang hinauf, den Blick auf den Boden gerichtet. Tag für Tag pendeln die | |
Collectori, die Pilzsammler, zwischen ihren improvisierten Zeltlagern im | |
Tal und den Bergen hin und her und sammeln kiloweise Steinpilze, | |
Pfifferlinge und Blaubeeren für den internationalen Markt. | |
Der Hamburger Dokumentarfilmer Bernd Schoch zeigt in „Olanda“ das Geschäft | |
mit den Pilzen und Beeren, das in Rumänien jährlich Scharen von Tagelöhnern | |
anlockt. Bevor die Familien sich im Herbst als Erntehelfer verdingen, sind | |
sie für eine kurze Zeit Unternehmer ihrer selbst, konkurrieren mit ihren | |
Zeltnachbarn, um am Ende des Tages wie diese von den Ciupercari, den | |
Aufkäufern, beim Preis geprellt zu werden. | |
Die nebelverhangene Bergidylle, die immer wieder in Totalen der Landschaft | |
anklingt, ist Anfangspunkt einer Ausbeutungskette, die sich entlang des | |
Vertriebswegs der Pilze fortsetzt. „Olanda“ ist einer der Preisträger der | |
diesjährigen Duisburger Filmwoche, die am Sonntag zu Ende ging. | |
Die [1][Duisburger Filmwoche] ist ein glücklicher Anachronismus unter den | |
deutschen Filmfestivals. Seit Jahrzehnten laufen eine Woche lang | |
Dokumentarfilme, einer nach dem anderen, kein Parallelprogramm zerstreut | |
die Aufmerksamkeit. Anschließend werden die Filme in knapp einstündigen | |
Diskussionen auf Stärken und Schwächen abgeklopft. Das Festival ist für | |
Filmemacher und Publikum immer wieder aufs Neue eine Schule des Sehens. | |
## Bühnenbilder des Alltags | |
Sebastian Brameshubers „Bewegungen eines nahen Berges“ blickt, wie schon | |
„Olanda“, ebenfalls auf eine Arbeitswelt. Der schwarze Automechaniker | |
Clifford „Cliff“ Agu betreibt eine Autowerkstatt in der Steiermark, in der | |
er Autos ausschlachtet und die Teile nach Nigeria verkauft. Einige der | |
Autos werden wieder fahrtüchtig gemacht und gebraucht ins angrenzende | |
Osteuropa verscherbelt. Die Werkstatt liegt am Fuß eines Berges, der durch | |
den Erzbergbau dort einst eines der Zentren der österreichischen | |
Stahlindustrie bildete. | |
Nach und nach weitet sich die vollgestellte Werkstatt, die der ehemaligen | |
Stahlproduktion als Lagerhalle diente, in einen Lebensraum aus. Wir sehen | |
Clifford beim Kochen und Wäschewaschen, Rasieren und Haareschneiden zu. In | |
diesen „Bühnenbildern des Alltags“, wie Brameshuber sie nennt, entwickelt | |
sich das Kammerspiel einer selbstbestimmten Existenz. „Bewegungen eines | |
nahen Berges“ gehört zu den prämierten Werken des Filmfestivals. | |
Brameshuber erhielt für seinen dritten Langfilm den | |
[2][3sat-Dokumentarfilmpreis]. | |
Die räumlichen Bedingungen selbstbestimmten Lebens stehen auch im Zentrum | |
eines der Höhepunkte des Festivals: Matthias Lintners „Träume von Räumen�… | |
Lintner verdichtet in seinem Film das Zusammenleben der wenigen | |
verbliebenen Bewohner der „Kleinen Bremer Höhe“, einer ehemaligen | |
Wohnsiedlung für Eisenbahner in Berlin-Mitte. | |
Bevor das Zusammenleben durch eine Sanierung ihr Ende fand, bildete sich in | |
der Wohnanlage eine Insel der Zeitlosigkeit heraus. In einer Art Dokument | |
der Sehnsucht gibt Lintner einen Einblick in das Leben der Bewohner voller | |
Zärtlichkeit für ihre Schrullen und Respekt für ihre Rückzugsräume. In | |
„Träume von Räumen“ ist kein Platz für leere Formalismen, und so verfäl… | |
der Film nie in bloßes Rumgefilme, wie es schnell einmal bei sozial | |
engagierten Dokumentarfilmen passiert kann. | |
## Ohne Ziel und Struktur | |
Auch die Protagonistinnen von Therese Koppes „Im Stillen laut“, die | |
Künstlerin Erika Stürmer-Alex und ihre Partnerin Christine Müller-Stosch, | |
haben sich ihren Freiraum selbst geschaffen. Stürmer-Alex’ Kunst war den | |
Behörden der DDR suspekt. | |
Durch einen Auftrag für eine Skulptur hatte sie schließlich dennoch das | |
Geld beisammen, um sich einen Hof im brandenburgischen Lietzen zu kaufen. | |
Gemeinsam baute das Paar den Hof zu einem Künstlertreff aus. Koppes Film | |
wird getragen von den beiden Protagonistinnen. Leider dehnen sich über die | |
Ziel- und Strukturlosigkeit des Films die knappen 74 Minuten Laufzeit zu | |
einer gefühlten Ewigkeit aus. | |
Den Duisburger Diskussionen mangelt es bisweilen nicht an Direktheit. Nach | |
der Vorführung von Florian Kunerts „Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“ | |
brach die Unzufriedenheit schreiend aus einem Diskussionsteilnehmer heraus. | |
In der folgenden Diskussion vertiefte Kunert durch fehlende Reflexion alle | |
Bedenken in Bezug auf seinen Film. Darin instrumentalisiert er eine Gruppe | |
syrischer Geflüchteter für Rollenspiele mit Bewohnern einer sächsischen | |
Kleinstadt, in denen sie DDR-Geschichte, aber auch Kriegstraumen der | |
Geflüchteten nachstellen. Jedwede Erkenntnis bleibt dabei aus. | |
Ganz anders Ute Adamczewskis „Zustand und Gelände“, der bereits auf den | |
Filmfestivals in Marseille und Leipzig prämiert wurde. Adamczewski | |
kombiniert in ihrem Film Textquellen aus der Frühzeit des | |
nationalsozialistischen Terrors in Sachsen mit Aufnahmen der jeweiligen | |
Orte in der Gegenwart. Durch diese Kombination gibt der Film einen | |
verstörenden Eindruck von der Allgegenwart der Gewalt und der | |
Brutalisierung. Einzelne Quellen schlagen Brücken in die Gedenkkulturen der | |
Nachkriegszeit. | |
Das Wechselspiel zwischen Filmvorführungen und Diskussionen, die überdies | |
protokolliert werden, macht die Duisburger Filmwoche jedes Jahr aufs Neue | |
zu einer intensiven Erfahrung. Die diesjährige Ausgabe des Festivals | |
markierte eine Zäsur in der Geschichte des Festivals: Es war die erste nach | |
dem Rückzug des langjährigen Festivalleiters Werner Ružicka. Der | |
Grundansatz ist geblieben: Der ernsthafte Umgang mit den Filmen zeugt vor | |
einem seltenen Respekt vor der Kraft der Werke. Der Duisburger | |
Anachronismus ist wegweisend. | |
11 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /40-Duisburger-Filmwoche/!5353967 | |
[2] http://www.ard.de/home/die-ard/fakten/462632/index.html | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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