| # taz.de -- Hamburger Film über Ausbeutung: Moderne Menschmaschinen | |
| > Mit „Der marktgerechte Mensch“ nehmen die Hamburger FilmemacherInnen | |
| > Leslie Franke und Herolor Lorenz die Auswüchse heutigen Arbeitens in den | |
| > Blick. | |
| Bild: Zombies des Kapitalismus? Die Performance „1.000 Gestalten“ | |
| Bremen taz | Auf den ersten Blick scheinen einen jungen Kurierfahrer mit | |
| Migrationshintergrund und eine promovierte deutsche Akademikerin nicht viel | |
| zu verbinden. Zu erwarten wäre, dass der eine in prekären Verhältnissen | |
| lebt, die andere dagegen in gesicherten; Proletariat und | |
| Bildungskleinbürgertum wären früher vielleicht die Schlagworte gewesen. Der | |
| Dokumentarfilm „Der marktgerechte Mensch“, der heute in zahlreiche Kinos | |
| kommt, macht jedoch gleich in den ersten Minuten deutlich: Solche | |
| Unterscheidungen sind inzwischen obsolet. | |
| Denn der Fahrradkurier wie auch die Akademikerin wurden in die | |
| Selbstständigkeit gezwungen und können nicht länger davon ausgehen, dass | |
| sie einen sicheren Arbeitsplatz haben. | |
| Zugegeben: Beim Kurierfahrer geht es um Tage, bei der wissenschaftlichen | |
| Angestellten um Monate: Er arbeitet als Freelancer, seine Entlohnung | |
| berechnet ein Algorithmus, der jeden Auftrag bewertet und weitere davon | |
| vergibt. Unser Kurier war ein paar Tage lang krank; nicht nur verdiente er | |
| weniger, er rutschte auch in der Bewertung nach unten und bekam nur noch | |
| weniger attraktive Aufträge. | |
| Die Akademikerin muss sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangeln. Sie | |
| arbeitet schon mal als vollwertige Dozentin, bekommt dafür aber erstaunlich | |
| wenig Geld und lebt zudem in ständiger Konkurrenz mit ihren KollegInnen. | |
| Eine „Entsolidarisierungsmaschinerie“ nennt sie dieses System, das sich an | |
| deutschen Universitäten inzwischen durchgesetzt hat. | |
| ## Das Risiko tragen die ArbeitnehmerInnen | |
| Bei Firmen wie H & M bekommen Angestellte nur noch „Flexverträge“, das | |
| bedeutet statt geregelter nur minimale Arbeitszeiten. CrowdworkerInnen | |
| dagegen schreiben zuhause am Computer Texte für Onlinefirmen, werden dafür | |
| mit wenigen Euros abgespeist und müssen sich kontrollieren lassen: wenn | |
| nicht gleich per Webcam, dann durch eine Software, die ihre Anschläge auf | |
| der Laptoptastatur registriert. | |
| In all diesen Fällen lastet das Risiko auf den Beschäftigten; der Mensch | |
| soll so funktionieren, dass er eine möglichst optimale Profitmaximierung | |
| für die Unternehmen ermöglicht. Diese Zustandsanalyse liefern die | |
| FilmemacherInnnen Leslie Franke und Herolor Lorenz – kurz und pointiert, | |
| immer anhand konkreter Beispiele und mit ProtagonistInnen, die gut und | |
| eloquent ihre Lebensverhältnisse beschreiben. | |
| In einer Art Parallelmontage berichten etwa zwei Frauen von den chronischen | |
| psychischen Belastungen, die das Arbeiten unter solchen Bedingungen mit | |
| sich bringt. Für die eine war die Kündigung die Konsequenz, für die andere | |
| eine Diagnose: Burnout. | |
| „Der marktgerechte Mensch“ ist aufklärerisches Kino, aber keine Filmkunst. | |
| Die würde wohl nur ablenken von der Aussage. Und so haben Franke und Lorenz | |
| auch keinerlei Ambitionen in diese Richtung. Einen Filmpreis werden sie | |
| nicht gewinnen, genauso wenig wie mit den früheren Projekten ihrer | |
| Produktionsfirma Kernfilm: „[1][Der marktgerechte Patient]“, „Wer rettet | |
| wen?“ und „Bahn unterm Hammer“ behandelten jeweils aktuelle | |
| gesellschaftliche und ökonomische Probleme – und das aus einer dezidiert | |
| linken Position heraus. | |
| ## Das Geld kommt in kleinen Scheinen | |
| Ihre erklärtermaßen „von unten“ kommenden Filme finanzieren die beiden zu | |
| einem großen Teil, indem sie Tausende von Subskribenten werben; die | |
| schießen dann 20 Euro oder mehr zu und bekommen nach Fertigstellung eine | |
| DVD und die Lizenz zur Aufführung des jeweiligen Films. Man könnte auch | |
| „crowdfunding“ dazu sagen. | |
| Durch diese MultiplikatorInnen entsteht Interesse an den Filmen schon lange | |
| bevor die abgedreht sind. „Der marktgerechte Mensch“ nun hat mit Salzgeber | |
| zwar auch einen richtigen Verleih, aber parallel [2][dazu rief Kernfilm | |
| selbst online auf]: „Der 16. 01. 2020 soll ein weithin hörbares Signal | |
| werden! Deshalb: Organisieren Sie an diesem Tag in allen Ecken der Republik | |
| eine Filmveranstaltung.“ | |
| Wie die erwähnten früheren Filme Frankes und Lorenz’ ist auch „Der | |
| marktgerechte Mensch“ eine filmhandwerklich solide Arbeit, mit der sie aber | |
| vor allem informieren wollen. So treten viele sprechende Köpfe auf, und | |
| wenn etwa ein US-amerikanischer Analytiker nur per Skype zu befragen war, | |
| dann sieht man ihn halt auch nur in schlechter Auflösung auf einem | |
| Bildschirm. Ein paar GesprächspartnerInnen wurden vor einem Blue Screen | |
| interviewt, sodass Bilder ihrer Arbeitsplätze – etwa dem Hamburger | |
| Containerhafen – in den Hintergrund montiert werden konnten. | |
| Nur ein Element des Films ist eher sinnbildlich, und diese Sequenzen wirken | |
| wie kleine Ruhepausen zwischen den kompakt geschnittenen | |
| Informationsblöcken: Mit Lehm überzogene, graue Menschen wanken wie Zombies | |
| träge und teilnahmslos durch die Straßen – Aufnahmen von der | |
| Kunstperformance „1.000 Gestalten“, aufgeführt im Juli 2017 anlässlich des | |
| G20-Gipfels in Hamburg. Das wirkt nicht zuletzt wie inspiriert von den | |
| „grauen Männern“ aus dem Roman „Momo“ von Michael Ende, doch hier sind… | |
| monochromen Menschen die Opfer, die viel von ihrer Lebendigkeit und | |
| Individualität verloren haben. | |
| ## Strahlende Augen, schlechte Reime | |
| Davon abgesehen ist der Grundton der Dokumentation betont sachlich. Nur | |
| einmal leisten sich Franke und Lorenz eine boshaft ironische Spitze: Weil | |
| der marktgerechte Mensch ja selbst dafür verantwortlich ist, sich zu | |
| optimieren, besteht großer Bedarf an Ratgeberbüchern, und neben einer | |
| gnadenlos positiv plappernden Bestsellerautorin aus den USA tritt so auch | |
| Veit Lindau auf, Verfasser des erfolgreichen Sachbuchs „Heirate dich | |
| selbst“, in dem er dafür plädiert, die Menschen sollten „radikal“, aber… | |
| allem sich selbst lieben. | |
| Im Film nun ist eine enthusiastische Leserin zu sehen, die nicht nur, gemäß | |
| Lindaus Anweisungen, einen „Ehering“ für sich selbst trägt, sondern auch | |
| noch ein Hochzeitslied komponiert hat, das sie mit strahlenden Augen und | |
| schlechten Reimen vorsingt. | |
| So wie die „[3][1.000 Gestalten]“ am Schluss der Performance aus ihrem | |
| Stupor erwachen und den Lehm von sich abbröckeln lassen, zeigt auch der | |
| Film am Ende Lösungsansätze: Fahrradkuriere wie auch Beschäftigte bei H & M | |
| gründeten Betriebsräte, auch stellen die FilmemacherInnen Projekte des | |
| kooperativen Wirtschaftens vor, die Sparda Bank München etwa oder die | |
| Uhlenspiegel Druckerei. Und so lautet das Fazit: Nicht der Mensch soll und | |
| kann verändert werden – sondern der Markt. | |
| 16 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
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