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# taz.de -- Armut trotz Arbeit: Zwei, drei, viele Jobs
> Die Zahl der Multijobber hat sich seit 2003 verdoppelt. Es zeigt sich:
> Rassismus und Sexismus manifestieren sich auch in ökonomischer
> Benachteiligung.
Bild: Armes Deutschland: immer häufiger kommt es zu Mehrfachbeschäftigungen
Es gibt einen alten Witz aus der Zeit der Präsidentschaft Bill Clintons.
Während der Demokrat sich rühmte, mehrere Millionen neuer Jobs geschaffen
zu haben, antwortete ihm eine alleinerziehende Mutter: „Ja dankeschön, ich
hab davon drei.“ Die working poor, also jene Menschen, die trotz
Erwerbsarbeit kaum über das Existenzminimum hinauskommen, sind aber
[1][schon lange kein exklusives Phänomen des angelsächsischen
Kapitalismus]. Auch in Deutschland ist für immer mehr Berufstätige das
Einkommen aus einem Job zu wenig zum Überleben.
Eine Anfrage der [2][Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann (Linke)]
befasst sich nun mit diesen Mehrfachbeschäftigten. Deren Zahl hat sich nach
Auskunft der Bundesagentur für Arbeit von 2003 bis 2019 auf ungefähr 3,5
Millionen verdoppelt. Im selben Zeitraum stieg die Gesamtzahl der abhängig
Beschäftigten lediglich um gut 20 Prozent. Den rasantesten anteiligen
Anstieg der Mehrfachbeschäftigung dokumentiert die Bundesagentur dabei für
die Jahre bis 2011 von 4,4 Prozent aller Arbeitnehmer*innen auf 8
Prozent.
Dieses reichlich ambivalente deutsche Jobwunder hat seine Eltern in der
damaligen rot-grünen Bundesregierung und deren Agenda 2010. Die brachte
nämlich neben der obrigkeitsstaatlichen Disziplinierung der
Arbeitssuchenden im Hartz-IV-Regime auch die Einführung der Ich-AGs und vor
allem der sogenannten Minijobs. Der damit geschaffene Niedriglohnsektor
war, wenn man so will, ein durchschlagender Erfolg. Fragt sich nur, für
wen. Die gewerkschaftsnahe [3][Hans-Böckler-Stiftung analysierte bereits im
vergangenen Jahr die Sozialstruktur der Mehrfachbeschäftigten], deren
größter Teil am unteren Ende der Lohnskala schaffen muss.
Das Datenmaterial der Stiftung bestätigt die Vermutung, dass Frauen und
Menschen mit Migrationshintergrund überproportional häufig in prekärer
Mehrfachbeschäftigung tätig sind. In der Folge müssen diese mit geringeren
Qualifizierungs- und Aufstiegschancen und einem niedrigeren Rentenniveau
als besser bezahlte Vollzeitbeschäftigte rechnen. Dass der
Organisationsgrad von Teilzeitbeschäftigten, noch dazu mit mehreren
Arbeitgebern, eher gering ist, überrascht nicht. Entsprechend schwach ist
auch der zu entfaltende Druck in Tarifverhandlungen, sofern diese überhaupt
stattfinden.
## Neue Bündnisse
Die Forderung von Sabine Zimmermann, den Mindestlohn in einem ersten
Schritt zeitnah auf 12 Euro anzuheben, ist so von überzeugender Logik.
Dasselbe gilt für die Notwendigkeit der gesetzlichen Erzwingung der
Überführung von geringfügiger Beschäftigung in ein
sozialversicherungspflichtiges und existenzsicherndes Arbeitsverhältnis.
Staatliche Eingriffe haben die aktuelle Situation erst geschaffen, und auf
derselben Ebene müssen die Korrekturen erfolgen.
Das alles ersetzt aber keine langfristige Strategie zur Durchsetzung der
Interessen der lohnabhängig beschäftigten Bevölkerungsmehrheit. Dafür wäre
es sicher nötig, nicht zuletzt die Kritikansätze aus den viel geschmähten
Identitätspolitiken nicht weiter als antagonistischen Popanz aufzubauen,
sondern ernstzunehmen und einzubinden. Denn dass zum Beispiel Rassismus und
Sexismus sich auch in handfester ökonomischer Benachteiligung
manifestieren, ist nun mal ein empirischer Fakt. Es ist also keine Frage,
wo die Subjekte sozialer Kämpfe zu finden sind.
Für diese Menschen eine Ansprache zu finden und Angebote zu entwickeln, die
eine solidarische Perspektive für alle aufzeigen, gerade für die
Marginalisiertesten, wäre vornehmste Aufgabe für Gewerkschaften und sich
links gerierende Parteien gleichermaßen. Deshalb: An die Arbeit,
Kolleg*innen und Genoss*innen. Es gibt viel zu tun.
21 Jan 2020
## LINKS
[1] /Minijobs-und-der-Mindestlohn/!5650220
[2] https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/Z/zimmermann_sabine-524804
[3] https://www.boeckler.de/wsi-mitteilungen_121090_121104.htm
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
## TAGS
Minijob
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