Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Studien zur „Weißen Arbeiterklasse“: Stolz und Einzelkämpfert…
> Viel wird über die sogenannten einfachen Leute gesprochen. Wer sind sie
> und was sind ihre Werte? Eine Spurensuche.
Bild: Behelfsmäßig und unpräzise: der Begriff „weiße Arbeiterklasse“ im…
Kurz nach dem Wahlsieg von Donald Trump schrieb die amerikanische
Rechtswissenschaftlerin Joan C. Williams einen großen Essay mit dem Titel
„What so many people don’t get about the U.S. working class“. Lange habe
man die Bedrängnisse der Arbeiterklasse ignoriert, nun schleiche sich eine
Art gutmenschliche Besorgnis ein. „Diese Haltung“, so Williams später in
ihrem Buch „White Working Class“, in das weitere Recherchen und unzählige
Zuschriften eingeflossen sind, „wird sie aber noch wütender machen und die
ungesunde Klassenspaltung nur vergrößern“.
Williams weiter: „Sie wollen anerkannt werden für die Beiträge, die sie
leisten – und für ihre Art zu leben.“ Anders gesagt: Die Arbeiterklasse
will eben „nicht wie ein Stamm in einem Land behandelt werden, das weit
entfernt ist“.
Von den USA bis ins Ruhrgebiet, von Mittelengland bis zu den Wiener
Vorstädten, überall wird derzeit die Frage diskutiert, [1][warum sich die
„einfachen Leute“ als Verlierer fühlen und beklagen, keine Stimme mehr zu
haben]. Wobei es gleich mit der Frage beginnt, wer das denn überhaupt sein
mag, diese viel besprochenen „einfachen Leute“.
Das sind einmal, grob gesagt, jene, die im Leben nicht auf die Butterseite
gefallen sind – also eher Kleinverdiener, aber nicht nur. Es sind Arbeiter
und Arbeiterinnen, bis hin zur Mittelschichtsfamilie im Einfamilienhaus
mit zwei Autos vor der Tür. Leute, die sich als „die Normalen“ ansehen. Oft
ist das auch eine stolze Selbstzeichnung. „Da, wo ich lebe, bedeutet
‚einfacher Mensch‘ ‚anständiger Mensch‘, weil bescheidenes (oder wenig…
bescheidenes) Auskommen mit ehrlicher Arbeit (meist körperlich) erschaffen“
wurde, so beschreibt das eine Frau aus dem österreichischen Mühlviertel.
## Zupacken und nicht zu verkopft sein
Die „real existierenden“ Werte der arbeitenden Klassen sind über
Jahrhunderte entstanden, hatten ihre Quellen teilweise noch in der
vorindustriellen Handwerkskultur, mit ihrem Stolz auf die eigenen
Fertigkeiten, den Vorstellungen von einem gerechten Lohn und einem fairen
Preis. Hinzu kam ein Gemeinschaftsgeist mit einer starken Trennung in
Insider und Outsider. Man kann auch die heutigen Werthaltungen der
„populären Klassen“ nicht verstehen, ohne diese Geschichte zu verstehen.
Die alte Arbeiterklasse, so Joan C. Williams, habe einen Stolz gehabt und
sie habe sich Anerkennung verschafft – bis sie gewissermaßen als zentrale
soziale Schicht angesehen wurde oder sich zumindest so fühlen konnte. Diese
Arbeiterklasse habe aber auch bestimmte Werte hochgehalten: den Stolz
darauf, harte Arbeit zu leisten; die Vorstellung, dass man niemandem auf
der Tasche liegen darf; dass man es mit eigener Tüchtigkeit schafft; dass
man mit Handarbeit die Wirtschaft am Laufen hält, dass man zupackt, nicht
zu verkopft ist.
Dass man einfach „normal“ ist. Zugleich war dieser Stolz sehr verletzlich.
Dafür, respektlos behandelt zu werden, hatte man immer ein feines
Sensorium. Ein egalitärer Geist prägte die Arbeiterklassenmoral, und wer
sich für etwas Besseres hielt, war schnell unten durch. Die Angehörigen der
Arbeiterklasse schätzen rigide Selbstdisziplin, weil sie nötig ist, um
einen harten Job, den man hasst, vierzig Jahre lang machen zu können.
Weniger solidarisch, als romantisierende linke Intellektuelle gerne glauben
würden, ist die Arbeiterklasse mit „den Armen“, also mit jenen, die ihr
Einkommen aus staatlichen Sozialtöpfen beziehen, weil sie mit Arbeit nicht
über die Runden kommen, weil sie keine Jobs finden oder aus anderen Gründen
am Arbeitsmarkt keine Chance haben. Die sieht man schnell als Leute an, die
es sich leichtmachen, während man selbst jeden Tag aufstehen und rackern
muss, einem nichts geschenkt wird.
## Der Lehrling in Simmering, die junge Frau im Callcenter
Genau das klingt bei Lorraine, einer Gabelstaplerfahrerin, an, die im Zuge
einer großen britischen Studie interviewt wurde. Sie ist alleinerziehend,
Mutter zweier Buben, wohnt zur Miete, kennt die Stereotypisierungen, denen
sie ausgesetzt ist, und sagt: „Ich bin unten, klar.“ Fügt dann aber hinzu:
„Ich nenne mich Arbeiterklasse, aber ich glaube nicht, dass ich mich in der
gleichen Klasse sehe wie jemand, der sich krallt, was er kann […].
Verstehst du, ich bin stolz auf das, was ich tue, ich stehe jeden Morgen
auf […]. Ich kann mir nichts Ärgeres vorstellen, als jeden Tag daheim zu
sein und nichts zu tun zu haben. Weißt du, die werden dann fett, oder? Und
wundern sich, warum. Aber darf man das überhaupt sagen?“
Die weiße Arbeiterklasse habe das Gefühl, „aus dem Zentrum an den Rand des
Bewusstseins ihres Landes gerückt worden zu sein“, formuliert auch der
US-Politikwissenschaftler Justin Gest. Viele, so sagt er, fühlten sich
außerstande, dagegen irgendetwas zu unternehmen. Gest hat für eine große
Studie mehrere Monate erst in einem Arbeiterklassenbezirk in East London
und danach eine Zeit in Youngtown, Ohio verbracht, Dutzende lange Gespräche
geführt und die Ergebnisse in seinem Buch „The New Minority“
zusammengefasst.
Auch wenn hier bisher provisorisch von der „weißen Arbeiterklasse“
gesprochen wurde, ist dieser Begriff eher behelfsmäßig und unpräzise. Man
sollte sich möglichst konkret vor Augen führen, wer eigentlich alles
gemeint sein könnte, wenn man heutzutage, im postindustiellen Zeitalter,
von Arbeiterklasse spricht.
Arbeiter bei Mercedes in Stuttgart oder bei MAN in Steyr. Die Köche in
unserem Lieblingsrestaurant. Die Kindergärtnerin. Verkäuferinnen im
Supermarkt, die Frauen, die die Regale auffüllen. Das Pflegepersonal im
Spital. Der Mann, der unsere Heizung wartet. Die Beschäftigten am Bau, vom
Maurer bis zum Polier. Der Mechatroniker im mittelständischen
Exportunternehmen. Die Leute von der Müllabfuhr und die Busfahrer. Die
junge Frau im Callcenter. Die Technikerin bei der Mobilfunkfirma. Die
Burschen, die die elektrischen Tretroller einsammeln und aufladen. Die
unter prekären Bedingungen arbeitende Datenverarbeiterin und der
Freelance-Programmierer.
Der Lehrling in Simmering. Der Lkw-Fahrer. Die junge Teilzeitkraft im
Fast-Food-Restaurant. Gabelstaplerfahrer. Dachdecker. Die Leute vom E-Werk,
die die Leitungen legen, die Frauen und Männer von der Telekom, die das
Breitbandkabel in den Häusern hochziehen. Die Verpackerin bei Amazon. Die
Sekretärin. Die Zugbegleiterin bei der Deutschen Bahn. Der Monteur mit
Eigenheim. Der Erntehelfer. Die Ganztagspflegerin aus Bulgarien. Der
arbeitslose Fiftysomething, der in seiner dritten sinnlosen
Umschulungsmaßnahme steckt. Der prekär Beschäftigte, der sich durchkämpft.
Alles Arbeiterklasse – aber ohne gemeinsame Geschichte und Geschichten, die
man sich erzählen könnte.
## Resigniertes Einzelkämpfertum
Dennoch sind die Gefühlslagen oft frappierend ähnlich. Die Angehörigen der
früheren Arbeiterklasse spüren allzu oft, dass sie andauernd kulturell
beleidigt werden. „Du wirst permanent daran erinnert, dass du jederzeit
ersetzt werden kannst von einem, der weniger Geld fordert“, sagt ein
Krankenhausangestellter. Es macht sich etwas breit, was man beinahe eine
resignative Neoliberalisierung nennen könnte.
Während der Individualismus und die neoliberale Erfolgskultur bei den
selbst erklärten „High-Performern“ in den oberen Etagen als Chance
betrachtet werden, nehmen sie unten das Erscheinungsbild resignierten
Einzelkämpfertums an. Einen Satz hört Gest bei seinen Gesprächen immer
wieder: „Ich kümmere mich nur um mich selbst.“
Eine Ablehnung von Zuwanderung oder ethnischer Diversität ist in all diesen
Milieus häufig anzutreffen. Schließlich zieht mit den MigrantInnen oft
Armut in die entsprechenden Viertel. Die Anwesenheit von ZuwandererInnen
wird dann gewissermaßen zum Marker des eigenen Abstiegs. „Menschen aus der
‚weißen Arbeiterklasse‘ tendieren in Gesprächen dazu, als Vorwort
gewissermaßen hinzuzufügen, dass sie keine Rassisten seien und keine
Vorurteile haben. […] Sie haben Angst, dass ihre Ansichten disqualifiziert
werden könnten, obwohl diese Ansichten in der Realität ja authentische
Ausdrücke dessen sind, was sie erleben, wie sie leben und wie sich ihre
Leben verändern“, resümiert Justin Gest.
Der Vorwurf des Rassismus wird sogar als ein weiteres Mittel verstanden,
die Artikulation der Arbeiterklasse zu kontrollieren und ihre Empfindungen
als bedeutungslos hinzustellen. Einer sagt: „Ich arbeite seit 38 Jahren und
sehe immer mehr Leute auf der Straße, bei denen ich das Gefühl habe, dass
ich die mit durchziehe.“
Die arbeitenden Klassen sind ökonomischer Konkurrenz ausgesetzt, machen
Abstiegserfahrungen, erleben sich als austauschbar und sehen ihre
Lebensweisen kulturell abgewertet. Weit verbreitete Haltungen finden ihre
Begründungen teilweise sogar in den Traditionen und Werten der historischen
Arbeiterklassenkultur, die immer schon eine seltsame Kultur war, eine
rebellische, aber zugleich sehr traditionelle Kultur, wie es der britische
Historiker E. P. Thompson einmal formulierte.
Dazu gehört das Bewusstsein, „dass man nichts geschenkt bekommt im Leben“
oder dass, wer „dazugehört“, bevorzugt behandelt werden sollte. Die
egalitären Instinkte und die lebendigen Gerechtigkeitsgefühle der
arbeitenden Klassen sind genauso ein Produkt einer langen Geschichte wie
etwa das Gefühl, dass sich, wer neu dazukommt, hinten anstellen muss, und
ein beinahe legendärer Lokalpatriotismus. Man muss das nicht und schon gar
nicht jeden Aspekt davon gutheißen, aber man wird die psychopolitischen
Vorgänge der Gegenwart nicht begreifen, wenn man die Gefühle der
Arbeiterklasse nicht wenigstens zu verstehen versucht.
Man wird aber auch die grundlegende verbreitete Unzufriedenheit nicht
verstehen, wenn man nicht die Werte und Normen versteht, die sich in den
letzten 200 Jahren in den „real existierenden“ arbeitenden Klassen
durchgesetzt haben.
10 Nov 2019
## LINKS
[1] /Politologe-ueber-Brexit-und-US-Wahl/!5357739
## AUTOREN
Robert Misik
## TAGS
Arbeiterklasse
Diversität
Milieu
soziale Ungleichheit
Lesestück Meinung und Analyse
Nach Geburt
Minijob
Arbeiterklasse
Donald Trump
## ARTIKEL ZUM THEMA
Arme Eltern, benachteiligte Kinder: Papa rockt ein Wochenende
Jeder Dritte, der in einem Alleinerziehenden-Haushalt lebt, ist
armutsgefährdet. Darüber wird deutlich weniger geredet als über fleißige
Väter.
Armut trotz Arbeit: Zwei, drei, viele Jobs
Die Zahl der Multijobber hat sich seit 2003 verdoppelt. Es zeigt sich:
Rassismus und Sexismus manifestieren sich auch in ökonomischer
Benachteiligung.
Buch zum US-Klassenkampf: Weder-noch statt Entweder-oder
In den USA ist wegen Trump ein linker Deutungsstreit ausgebrochen. In ihm
werden „class“ und „race“ allzu schnell gegeneinander ausgespielt.
Politologe über Brexit und US-Wahl: „Es kommt alles wieder zurück“
Die Arbeiterklasse ist verunsichert, sagt der britische Politologe Colin
Crouch. Warum Rechte plötzlich den Wertebegriff entdecken.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.