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# taz.de -- Politologe über Brexit und US-Wahl: „Es kommt alles wieder zurü…
> Die Arbeiterklasse ist verunsichert, sagt der britische Politologe Colin
> Crouch. Warum Rechte plötzlich den Wertebegriff entdecken.
Bild: Außenminister Boris Johnson sagt in Abwandlung einer bekannten britische…
taz: Herr Crouch, Sie haben das Wort von der „Postdemokratie“ geprägt, der
Entleerung der Politik durch ökonomische Zwänge. In allen westlichen
Gesellschaften erleben wir nun den Aufstieg eines neuen Rechtspopulismus.
Ist das ein Aufstand gegen diese Postdemokratie?
Colin Crouch: Ja, auch wenn die fremdenfeindliche Rechte lieber von
„abgehobenen Eliten“ spricht.
Kann das zu einer Wiederbelebung der Demokratie führen?
Diese Bewegungen gründen auf Gefühlen wie Wut, Hass und Intoleranz. Das ist
destruktiv und kann die Demokratie nicht stärken. Wenn es aber andere
Bewegungen auf den Plan ruft, die dieser fremdenfeindlichen Rechten
entgegentreten, dann kann das wiederum durchaus zu einer Erneuerung der
Demokratie führen.
Die Debatte konzentriert sich derzeit auf die abgehängte „weiße
Arbeiterklasse“ – die Menschen in den alten Industriegebieten Nordenglands,
die für den Brexit gestimmt haben, oder im Rust Belt der USA, die Donald
Trump gewählt haben. Zu Recht?
Diese Regionen sind vergleichbar. Aber tatsächlich stellen diese Leute nur
eine kleine Minderheit dar. Man darf nicht vergessen, dass auch eine ganze
Menge wohlhabender Leute für den Brexit oder für Trump gestimmt haben. Zum
Teil waren es die alten Industriegebiete, aber auch Kleinstädte und
ländliche Regionen außerhalb der großen Städte und der dynamischen Zonen
der New Economy. Es geht um viel mehr als nur um den Neoliberalismus: um
die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen jung und alt.
Manche Linke sehen den Aufstieg des Rechtspopulismus als Reaktion auf den
Neoliberalismus der Sozialdemokraten, die die Arbeiterklasse vernachlässigt
hätten.
Natürlich äußert sich darin auch eine Enttäuschung über die neoliberale
Politik der Blair-Regierung, der Clintons oder an den neoliberalen Reformen
wie Hartz IV in Deutschland. Sie haben die Verunsicherung in der
Arbeiterklasse verschärft. Aber die extreme Rechte feiert auch in
Nordeuropa große Erfolge, in den Niederlanden, Dänemark, Finnland und
Norwegen, die zu den stärksten Wohlfahrtsstaaten und egalitärsten Ländern
der Welt gehören. Da geht es viel mehr um kulturelle Fragen, etwa um die
Angst vor dem Islam.
Keine ökonomische, sondern eine kulturelle Verunsicherung?
Die nordischen Länder waren kulturell lange Zeit sehr homogen, erst in den
vergangenen Jahren sind mehr Menschen aus anderen Teilen der Welt
zugewandert. Und die Fragen, die durch die Präsenz des Islam aufgeworfen
werden, bereiten vielen Leuten Unbehagen. Da gibt es ein Wechselspiel
zwischen zwei Spielarten des Konservatismus: Auf der einen Seite ziehen
sich manche Muslime verstärkt in ihre religiöse Identität zurück. Auf der
anderen Seite reagieren Teile der Mehrheitsgesellschaft darauf, indem sie
konservativer werden.
Manche Linke halten den Brexit für eine gute Sache und hoffen, dass Trump
das Ende des Neoliberalismus einläutet, weil er gegen den Freihandel und
für Protektionismus ist.
Sie hegen nostalgische Gefühle für souveräne Nationalstaaten. Es stimmt ja,
dass der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ein nationales Projekt war.
Aber wenn man sich in eine größere Welt integriert und in mehreren Fragen
seine Souveränität teilt, dann kann man nicht mehr zum ursprünglichen
Zustand zurückkehren, ohne nationalistisch zu werden.
Was ist die Alternative?
Die Linke hat keine andere Wahl, als den Prozess der Internationalisierung
zu gestalten. Es stimmt, dass die EU ein neoliberales Projekt geworden ist,
und manche Dinge gehen in die falsche Richtung. Aber die EU ist mehr als
das, wenn wir etwa an die Hilfe für Infrastrukturprojekte in Osteuropa
denken. Und wenn der Binnenmarkt mit hohen Produktstandards einhergeht, die
für eine hohe Qualität bürgen, dann ist er ein gutes Beispiel dafür, wie
man Freihandel mit einem Bündel an Regeln verbinden kann.
Sie haben nicht prinzipiell etwas gegen Freihandelsabkommen?
Ein Handelsabkommen mit den USA, in dem wir die amerikanischen Regeln für
den Finanzmarkt übernehmen, die viel strenger sind als in Europa, und wir
es schaffen, dass sie unsere Lebensmittelbestimmungen akzeptieren – wenn
man das beste aus beiden Welten verbindet, ist das viel besser als eine
Rückkehr zum Protektionismus. Das Freihandelsabkommen mit Kanada geht in
diese Richtung.
Die Rechtspopulisten wollen die Vorteile der Globalisierung genießen, ohne
deren Konsequenzen in Kauf zu nehmen, wie etwa die Immigration?
Unser Außenminister Boris Johnson sagte neulich, in Abwandlung einer
bekannten britischen Redensart: Wir werden unseren Kuchen behalten – und
ihn essen.
Wie will er das machen?
Die Briten glauben, sie seien so wichtig, dass der Rest der Welt für uns
eine Ausnahme machen werde. Sie träumen von der Wiedererrichtung des
britischen Empires als Handelsunion. Das erste Land außerhalb Europas, das
Theresa May nach dem Brexit-Referendum besucht hat, war Indien – in der
Hoffnung, dort ein Handelsabkommen schließen zu können.
Die Rückkehr zu vergangener Größe ist eine starkes Motiv, wie der Slogan
„Make America Great Again“ zeigt.
Es gibt dieses weitverbreitete Gefühl, nicht mehr die Herren der Welt zu
sein. Diesen Phantomschmerz haben die Briten auch. Es war eine der großen
Errungenschaften der 1950er und 1960er Jahre, dass wir unser Empire unter
weniger großen Schmerzen aufgegeben haben als die Franzosen oder Belgier.
Aber es kommt alles wieder zurück.
Auch die Debatten um Immigration?
Ja. In den 1950er Jahren gab es große Spannungen und Leute wie Enoch
Powell, die versucht haben, Stimmung gegen Einwanderer zu machen. Aber wir
haben große Fortschritte gemacht, wie man etwa an der Zahl bikultureller
Ehen ablesen kann. In den Wochen nach dem Brexit-Referendum kam es in
vielen Familien zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kindern und
Enkeln, die ihren Eltern und Großeltern vorwarfen, sie um ihre Zukunft
gebracht zu haben. Im ganzen Land gab es einen Ausbruch der Wut darüber,
dass ihre multikulturelle Identität infrage gestellt wurde.
Wieso haben gerade die Einwanderer aus Osteuropa diese Debatte ausgelöst?
Man würde denken, sie könnten den Engländern näherstehen als die
Einwanderer aus Indien und der Karibik?
Die Zuwanderung aus Europa, im Kontext der EU, hat es ermöglicht, das Thema
wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Und das hat zu einer Reihe von
anderen Debatten geführt, über die anderen Minderheiten aus Pakistan oder
der Karibik. Der Brexit hat einen Diskurs legitimiert und Dinge an die
Oberfläche gebracht, die lange unter der Oberfläche geschlummert haben.
Trump spricht von den „vergessenen Amerikanern“, die nicht länger vergessen
sein werden, und meint damit die weiße untere Mittelschicht. Dabei kann man
nicht behaupten, dass Weiße in den USA gegenüber Schwarzen oder Latinos
benachteiligt wären, oder?
Es gibt eine Reihe von Ungleichheiten, über die regelmäßig gesprochen wird:
ethnische Herkunft, Geschlecht und sexuelle Orientierung. Aber wenn du ein
weißer männlicher Arbeiter warst, hat sich niemand für deine Probleme
interessiert. Leute, denen es nicht allzu gut geht, nehmen zur Kenntnis,
dass es bestimmte Fördermaßnahmen für Schwarze oder Latinos gibt, und
fragen sich: Wo bleibe ich? Der Eindruck ist: Alles dreht sich um diese
Minderheiten.
Also geht es in erster Linie um Anerkennung und nicht um ökonomische
Umverteilung?
Ja, so würde ich das ausdrücken.
Die britische Premierministerin Theresa May scheint das verstanden zu
haben: Sie hat versprochen, sich den Sorgen und Nöten der britischen
Arbeiter zuzuwenden.
In ihrer Rede hat sie sogar das Wort „Arbeiterklasse“ benutzt! Tony Blair
hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als dieses Wort in den Mund zu
nehmen!
Auch Donald Trump klingt manchmal wie ein Arbeiterführer, wenn er gegen den
Freihandel wettert und Infrastrukturprojekte verspricht, aber er steht für
eine unsoziale Politik. Wählen die Leute gegen ihre ökonomischen
Interessen?
Gefühle sind nicht notwendigerweise irrational. Es gab dieses interessante
TV-Interview mit Nigel Farrage, dem Ukip-Chef, zum Brexit, in dem er mit
all diesen Prognosen über den drohenden ökonomischen Niedergang
konfrontiert wurde. Er hat nur gesagt: Geld ist nicht alles. Wichtiger sind
Werte wie der, eine homogene Nation zu sein. Das stellt alle bisherigen
Debatten auf den Kopf. Denn früher waren es die Linken, die mit Werten
argumentiert haben, während die Rechten immer auf die ökonomischen Vorteile
hingewiesen haben.
Was ist die Antwort auf den Rechtspopulismus? Manche sagen, wir bräuchten
mehr plebiszitäre Elemente, mehr Referenden.
Referenden sind eine komische Sache. Die Leute antworten oft nicht auf die
Fragen, die du ihnen stellst, sondern belohnen oder bestrafen ihre
Regierung. Die Referenden werden auf eine Art und Weise genutzt, die oft
nichts mehr mit der Frage zu tun hat. Aber man kann die Demokratie auf
lokaler Ebene stärken. Die große Herausforderung ist, wie man mit den
extremen Rechten umgeht. Je mehr die anderen Parteien ihnen entgegenkommen,
desto salonfähiger wird ihre Rhetorik.
Droht den USA die Gefahr eines Autoritarismus, wie wir ihn schon aus
Ungarn, Polen oder der Türkei kennen?
Trump hat seine Unternehmen an seine Kinder vermacht, aber sie sind
zugleich Teil seines Regierungsteams. Das hat schon jetzt etwas von einem
Mafia-Clan, einer Kleptokratie. Aber das Problem ist: Wenn die
republikanische Mehrheit im Kongress auf seiner Seite ist, dann wird er das
oberste Gericht neu besetzen, Abtreibungen verbieten, Obamas
Gesundheitsreform abschaffen. Aber was genau die Ideologie des Trumpismus
ist, muss sich noch zeigen.
29 Nov 2016
## AUTOREN
Daniel Bax
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