# taz.de -- Regisseurin über Heranwachsende: „Ich mag Teenagerfilme“ | |
> In „Knives and Skin“ greift US-Regisseurin Jennifer Reeder mit dem | |
> Verschwinden einer Schülerin ein typisches Teen-Thriller-Sujet auf. | |
Bild: „Ich würde gern mehr komplizierte Männer in Filmen sehen“: Jennifer… | |
Potsdamer Platz, der Nachmittag vor der Premiere von „Knives and Skin“. | |
Begeistert bemerkt Jennifer Reeder den Ausblick auf Augenhöhe mit den | |
Stahlstreben, die das Zelt über dem Sonycenter aufgespannt halten. Das | |
Gespräch mit der US-Regisseurin findet im Plauderton statt, aber sie wirkt | |
dennoch konzentriert. Wir sprechen über ihr Interesse für Teenager und | |
Musik, die Auswahl der Requisite und Nahaufnahmen. | |
taz: Frau Reeder, in vielen Ihrer Filme geht es um Fragen der Sichtbarkeit | |
und des Verschwindens. Was fasziniert Sie daran? | |
Jennifer Reeder: Die Vorstellung, unsichtbar oder aber die sichtbarste | |
Person im ganzen Raum zu sein, ist für mich das, was die Zeit als | |
Heranwachsende ausmacht. Man findet zu sich selbst, man will gesehen und | |
wahrgenommen werden, aber zugleich ist das eine Zeit, in der man sich von | |
Minute zu Minute verändert. Meiner Erfahrung nach fühlt man sich manchmal | |
wie ein Monster, und dann möchte man anonym sein und in der Welt | |
verschwinden. | |
In Ihrem neuen Film „Knives and Skin“ drehen Sie das um in den gewaltsamen | |
Akt, jemanden verschwinden zu lassen. | |
Ich wollte, dass der neue Film mit dem Motiv des „vermissten Mädchens“ | |
arbeitet, das sich in vielen Teen-Thrillern findet. Aber der Körper von | |
Carolyn [der von Raven Whitley verkörperten Protagonistin in „Knives and | |
Skin“; Anm. d. Red.], hat einen eigenen Willen und kämpft sich zurück in | |
die Sichtbarkeit, ein bisschen wie ein Geist, ein bisschen wie ein Zombie. | |
Die meisten Ihrer Figuren entstammen dem Leben an High Schools, es gibt | |
Cheerleader, Footballspieler, Maskottchen, die Marching Band. | |
Das geht zurück auf die erste Frage: Die Zeit des Heranwachsens ist eine | |
Zeit einer dauernden Entwicklung. Junge Leute experimentieren mit Musik, | |
mit Kultur, mit Mode. Die Cheerleader, das Maskottchen, das Goth Girl, die | |
einzelgängerische Feministin sind für mich Ikonen, die man als Teenager | |
durchprobiert, ich zumindest habe das gemacht. Gemeinsam mit meiner | |
Kostümbildnerin habe ich meine Figuren verpflichtet, die ganze Zeit im | |
Kostüm zu bleiben: die Cheerleaderin in ihrem Outfit, den Sheriff in | |
Uniform, die Footballer tragen immer ihre Teamshirts. Einen Film darüber zu | |
machen, bietet so viele Möglichkeiten, um großartige Musik einzubauen, um | |
mit Kostümen zu experimentieren, um kulturelle und soziale Fragen zu | |
verhandeln, wie man das in nur wenigen anderen Genres kann. Ich mag | |
Teenagerfilme. Es gibt noch ein paar weitere Teenagerfilme, die ich „in | |
mir“ habe. | |
„Knives and Skin“ ist seit langer Zeit der erste Langfilm, den Sie selbst | |
geschrieben haben. Wie hat sich die Arbeit an einem Langfilm von den | |
Kurzfilmen unterschieden? | |
Ich habe einige Jahre an „Knives and Skin“ geschrieben und währenddessen in | |
Kurzfilmen einige der Figuren und einige Szenen ausprobiert. Einen längeren | |
Film zu schreiben war einfacher. Das Drehbuch war viel länger als der | |
fertige Film. Wir haben aus der ersten Arbeitskopie große Szenen und eine | |
ganze Figur wieder rausgeschnitten. Niemand wird diese Szenen je sehen, | |
aber ich werde sie in anderen Filmen verwenden. | |
Sie haben eine Vorliebe für Nahaufnahmen. In Ihrem neuen Film nutzen Sie | |
dies, um dem Film einen Dreh in Richtung Horror/Thriller zu geben. Was | |
fasziniert Sie so an Nahaufnahmen? | |
Ich möchte, dass das Publikum eine Figur über Details aus deren Leben | |
kennenlernt. Ein Weg, das zu machen, ist durch Nahaufnahmen. Die Kamera hat | |
die Möglichkeit, Personen unmittelbar körperlich nahezukommen und uns die | |
Macken der Fingernägel zu zeigen oder Eigenheiten der Haut, die uns etwas | |
verraten. Außerdem ist es rein vom Kinoerlebnis großartig, ein Detail einer | |
Person riesengroß auf der Leinwand zu sehen. | |
Ihre Figuren wappnen sich mittels Routinen und Tier-T-Shirts gegen die | |
Welt. | |
In meinen ersten Drehbuchentwürfen sind das meist nur Kostümüberlegungen. | |
Für mich gibt es einen speziellen Typus Frau, der solche T-Shirts mit | |
riesigen Tierdrucken trägt. In den nächsten Drehbuchphasen frage ich mich | |
dann oft, wo in Filmen magischer Realismus stattfinden könnte, in denen die | |
Objekte lebendig werden. In „Knives and Skin“ beispielsweise ist das | |
Tiger-T-Shirt an einem Punkt rationaler als die Person, die es trägt. Das | |
ist eines der Dinge, was mich an Film als Kunstform interessiert. Ich habe | |
an einer Kunsthochschule studiert, nicht an einer Filmschule, und mich | |
reizt die Vorstellung, dass das Publikum solche Momente visueller Kunst | |
mitmacht. Vor allem für meine weiblichen Figuren ist das das Lieblingsshirt | |
oder alltägliche Routinen sind ein Mechanismus, um das Leben zu ertragen. | |
Wenn ich auf überraschende Weise etwas Feminismus und Empowerment für | |
Frauen in meine Filme einbauen kann, dann tue ich das. | |
Wie kommt es, dass es mit einem Mal Männer in Ihrem Film gibt? | |
Ich mag Männer. In den Kurzfilmen ist die Zeit begrenzt und ich wollte das | |
da nicht, aber im Langfilm konnte ich männliche Figuren einbauen, junge und | |
alte, und versuchen, sie so interessant, kompliziert oder zart zu machen | |
wie möglich. Ich fand, das könnte ein guter Moment sein, um ein Gespräch | |
mit Jungs zu beginnen. Ich habe selbst drei Söhne und interessiere mich | |
sehr für das Jungssein. In dem Drehbuch, an dem ich derzeit sitze, geht es | |
um einen Jungen. Ich bin zwar besessen davon, wie kompliziert | |
heranwachsende Frauen sind, aber mir ist klar, dass heranwachsende Jungs | |
das auch sind. Das gilt auch für Männer, ich würde gern mehr komplizierte | |
Männer in Filmen sehen. | |
Wann haben Sie damit angefangen, die Handlung des Films durch Details der | |
Ausstattung zu kommentieren? | |
Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber vermutlich als ich angefangen | |
habe, narrativere Filme zu drehen. Vorher habe ich Filme gemacht, die in | |
Galerien und Museen liefen, in denen es keine Dialoge gab. Als ich anfing, | |
narrative Filme zu drehen, hatte ich kein großes Vertrauen in meine | |
Fähigkeiten, Dialoge zu schreiben. Also verließ ich mich auf das Set und | |
die Ausstattung, um Informationen zu transportieren. Das war so etwa | |
2003/2004. Im neuen Film waren wir so vorsichtig mit Rechtefragen, dass wir | |
alles selbst gemacht haben. Bei dem Buch „The History of Suffrage in Ohio“, | |
das im Film auftaucht, verwende ich zum Beispiel den Namen meiner | |
Großmutter als Autorinnennamen – es ist also kein „echtes“ Buch, aber es | |
bringt etwas feministische Geschichte in den Film. Erfreulicherweise | |
mussten wir das Tiger-T-Shirt nicht selbst machen, aber alles andere haben | |
wir selbst gemacht: die Schuluniformen, das Maskottchenkostüm. | |
Was hat es mit dem Singen in Ihren Filmen auf sich? | |
Die Figuren in meinen Filmen singen jetzt schon eine ganze Weile. In | |
„Knives and Skin“ wollte ich Gesangsszenen, die sich in die Erzählung | |
einfügen, wie den Chorunterricht, aber auch magischere Szenen wie die in | |
der Mitte, in der alle Figuren in Überblendungen gemeinsam mit der | |
Verschwundenen singen. Seit ich eine ähnliche Szene in „Magnolia“ gesehen | |
habe, wollte ich so etwas immer einmal verwenden. Beim Schreiben des | |
Drehbuchs dachte ich dann: Hier kann ich das versuchen. Es ist eine meiner | |
Lieblingsszenen geworden. | |
Gibt es in den Kinos in den USA zwischen all den Superheldenfilmen noch | |
Platz für einen Film wie den Ihren? | |
Ich hoffe. Wenn man derzeit keinen Superheldenfilm dreht, kann man sich | |
eigentlich auch gleich einen Job in einem Donut-Laden suchen. Aber ich | |
glaube trotzdem, dass es mit dem richtigen Verleiher ein Publikum für einen | |
Film wie meinen gibt. Vielleicht nicht auf Anhieb, aber irgendwann singen | |
sich die Leute dann mit „Girls Just Wanna Have Fun“ in den Schlaf. | |
11 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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