# taz.de -- Film „Charlatan“ von Agnieszka Holland: Alles für das Wohl der… | |
> Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland erzählt in „Charlatan“ von | |
> einem Heiler. Es ist auch eine Geschichte über Gewalt und totalitäre | |
> Systeme. | |
Bild: Tief ins Glas blicken: Der Heiler Jan Mikolášek (Ivan Trojan) bei der A… | |
Golden leuchtet die Flüssigkeit im Glas, aufmerksam beobachtet der Arzt die | |
Sedimente, die im Sonnenlicht glitzern. Binnen Sekunden fällt er seine | |
Diagnose: ob Nierensteine, Infektion der Atemwege oder auch Pankreaskrebs. | |
Die Wahrheit liegt im Urin, zumindest für Jan Mikolášek (als älterer Mann | |
gespielt von Ivan Trojan, in jüngeren Jahren von dessen Sohn Josef Trojan), | |
Hauptfigur im neuen Film der [1][polnischen Regisseurin Agnieszka | |
Holland]. Ist dieser Mann, der hier Ende der 50er Jahre in der | |
tschechischen Provinz praktiziert, ein Scharlatan, wie es der Titel | |
suggeriert, oder ein Mann mit besonderen Fähigkeiten? | |
Hunderttausende Patienten sollen im Lauf seines Lebens den Rat von Jan | |
Mikolášek gesucht haben, vielen dürfte er mit seinen zumindest | |
ungewöhnlichen Methoden geholfen haben, daran lässt Hollands Film keinen | |
Zweifel. Dass zu Mikolášeks Patienten auch Martin Bormann, der | |
Privatsekretär Adolf Hitlers, gehörte, erlaubte es Mikolášek, den Zweiten | |
Weltkrieg und die Besatzung der Tschechoslowakei unbeschadet zu überstehen. | |
Dass er den späteren Präsidenten Antonín Zápotocký nach dessen | |
Gefangenschaft im Konzentrationslager Sachsenhausen behandelte, bewahrte | |
Mikolášek vor Verfolgung in der zunehmend restriktiveren kommunistischen | |
Tschechoslowakei. Nur die Behandlung durch Mikolášek bewahrte Zápotocký | |
davor, dass sein Penis amputiert werden musste, so weiß zumindest die | |
tschechische Wikipedia-Version zu berichten. (Wenn die Google-Übersetzung | |
richtig liegt …) | |
Dass es zu Mikolášek weder einen deutschen noch einen englischen | |
Wikipedia-Eintrag gibt, verrät, um welch obskure Figur es in diesem | |
biografischen Film geht. Unweigerlich drängt sich ein Vergleich zu | |
[2][Hollands vorherigem Film „Mr. Jones“] auf. Dort hatte sie den | |
britischen Journalisten Gareth Jones porträtiert, der mit großen Sympathien | |
für den Kommunismus in die Sowjetunion reiste, in den frühen 30er Jahren | |
aber erkennen musste, dass Stalins Politik zur katastrophalen Hungersnot in | |
der Ukraine führte, die Millionen Menschen das Leben kostete. | |
## Um Politik scherte er sich nicht | |
Während Jones die Exzesse des Stalinismus unmittelbar erlebte und aktiv | |
versuchte, etwas zu ändern, nahm Mikolášek eine dezidiert zurückhaltende | |
Position ein. Um Politik scherte er sich nicht, allein das Wohl seiner | |
Patienten lag ihm am Herzen. Wohlgemerkt nur das Wohl seiner Patienten, | |
denn als Mensch scheint Mikolášek gelinde gesagt schwierig gewesen zu sein. | |
In langen Rückblenden erzählt Holland von Mikolášeks Leben, das Drehbuch | |
von Marek Epstein nimmt sich viele Freiheiten. | |
Erfunden ist vor allem eine homosexuelle Affäre, die Mikolášek mit seinem | |
langjährigen Assistenten František Palko (Juraj Loj) beginnt und die vor | |
allem dazu dient, die egozentrischen, auch brutalen Verhaltensweisen des | |
Arztes zu verdeutlichen. Der erste Sex der Männer mutet wie ein Übergriff | |
des älteren an, zumal der jüngere in der sozial schwächeren Position und | |
zudem verheiratet ist. Zumindest in dieser filmischen Erzählung zeichnen | |
Holland und Epstein Mikolášek als gefühlskalten Mann, der die Zuneigung | |
seines Liebhabers auch dann für sich auszunutzen weiß, als er selbst vor | |
Gericht steht. | |
Noch frappierender mutet eine Episode aus der Lehrzeit Mikolášeks an. Bei | |
der Heilerin Mülbacherová (Jaroslava Pokorná) geht er in die Lehre, lernt | |
von ihr über Pflanzen und Kräuter, bekommt die Feinheiten des Urin-Lesens | |
gezeigt, aber auch den Rat, sich nicht für unfehlbar zu halten. Es ist | |
Zwischenkriegszeit, der Erste Weltkrieg hat Spuren hinterlassen, auch wenn | |
Mikolášek sie hinter seiner stoischen Fassade zu verstecken vermag. | |
Doch als er einen Wurf Kätzchen im Bach ertränken soll, kommt seine dunkle | |
Seite zum Vorschein: Statt die Kätzchen auf diesem halbwegs humanen Weg zu | |
töten (zumindest nach den Maßstäben eines Lebens auf dem Dorf in den 20er | |
Jahren), nimmt er den Sack und zerschlägt die Kätzchen an einem | |
Felsbrocken. | |
## Unter dem Radar totalitärer Systeme | |
Seltsam isoliert bleibt dieser Moment der Gewalt stehen, fügt sich in ein | |
loses Porträt eines Mannes, der sich zeit seines Lebens mit den jeweiligen | |
Machthabern arrangierte, ohne dass er deswegen zum Teil des Systems wurde. | |
Ob er sich deswegen schuldig gemacht hat oder sich gar schuldig fühlte? | |
Diese Frage lässt Holland offen, weniger jedoch die im Titel angedeutete: | |
War Mikolášek ein Scharlatan, der sich mit seinen esoterisch anmutenden | |
Diagnosen an leichtgläubigen Patienten bereicherte? | |
Ganz im Gegenteil, so die Antwort des Films, stets agiert Mikolášek | |
selbstlos, hilft Patientin auch mit Geld aus, wo er kann, lebt nur für die | |
Medizin und das Wohl der Kranken. Die Brüche, die die Figuren bei Agnieszka | |
Holland sonst so komplex und allzu menschlich machen, finden sich hier nur | |
im Privaten, im Versuch, ein Leben unter dem Radar totalitärer Systeme zu | |
leben. | |
Bei den tschechischen Filmpreisen war „Charlatan“ ein großer Erfolg, vier | |
Auszeichnungen erhielt der biografische Film, was vielleicht auch etwas | |
über die Bedeutung aussagt, die Jan Mikolášek in Tschechien besitzt. | |
20 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Michael Meyns | |
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