# taz.de -- Filmdebüt: Der Todesengel von Bremen | |
> Auf vielen Festivals ausgezeichnet: „Effigie – Das Gift und die Stadt“ | |
> findet eine neue Perspektive auf die Giftmörderin Gesche Gottfried | |
Bild: Im musealen Ambiente des Gesche-Gottfried-Films wurden Anachronismen stri… | |
Hannover hat seinen Serienmörder Fritz Haarman, Bremen hat Gesche | |
Gottfried. Die angebliche Wohltäterin der Stadt, die der „Engel von Bremen“ | |
genannt wurde, hat zwischen 1812 und 1828 fünfzehn Menschen vergiftet. 1831 | |
wurde sie bei der letzten öffentlichen Hinrichtung der Hansestadt auf dem | |
Marktplatz geköpft. An dieser Stelle ist immer noch ein „Spuckstein“ im | |
Pflaster vor dem Rathaus, und es war ein Ritual für die Bürger*innen der | |
Stadt, auf ihn zu spucken. | |
Das monströse Verbrechen hat seither viele Künstler*innen inspiriert. | |
Rainer Werner Fassbinder hat sein Theaterstück „Bremer Freiheit“ darüber | |
geschrieben. Es gibt zahlreiche Bücher und Hörspiele über den Kriminalfall, | |
[1][eine Schauerballade von Adalbert von Chamisso], ein Musical, eine Oper | |
und eine Graphic Novel. | |
Deren Szenario stammt vom Worpsweder Autor Peer Meter – und der hat auch | |
zusammen mit Regisseur Udo Flohr das Drehbuch für dessen Spielfilmdebüt | |
„Effigie – Das Gift und die Stadt“ geschrieben. Als Protagonistin fungiert | |
Cato Böhmer, eine junge Protokollantin am Bremer Gericht, die in den | |
Kriminalfall verwickelt wird. Ob es im frühen 19. Jahrhundert tatsächlich | |
Frauen gab, die an den Gerichten Protokoll führten, ist eher | |
unwahrscheinlich, und Cato Böhmer ist dann auch eine der wenigen erfundenen | |
Figuren in diesem Film, [2][der auf den Gerichtsakten des Falls basier]t. | |
Die im Film auftretenden Opfer, Zeugen, Richter, Senatoren und der | |
Bürgermeister Johann Smidt haben dagegen tatsächlich gelebt. Und wenn | |
Gesche Gottfried einige Male etwas antiquiert redet, während die anderen | |
Figuren in sauberstem modernen Hochdeutsch sprechen, dann sind ihre Sätze | |
jedenfalls wortwörtlich aus dem Verhörprotokoll übernommen: „Ans Abendessen | |
habe ich ihr ein wenig gemacht“, sagt sie oder: „Stück a zehn werden es | |
wohl gewesen sein.“ | |
Udo Flohr erzählt die Geschichte aus der Perspektive dieser 24-jährigen | |
Frau, weil dadurch ein Panoramablick auf die Stadt Bremen und die dort | |
damals herrschenden politischen und gesellschaftlichen Zustände möglich | |
wird. Die Stadt war damals im Umbruch. Die Exklave Bremerhaven war gerade | |
gegründet worden, damit Bremen einen direkten Zugang zur Nordsee hatte. Der | |
fortschrittliche Senator Droste plante, eine Eisenbahnstrecke zwischen den | |
beiden Städten zu bauen. Von alldem erzählt Flohr in Nebensträngen. Es gibt | |
sogar eine kleine Verschwörungsgeschichte mit einem Kapitän, der den Bau | |
der Eisenbahn verhindern will, weil er auf den Ausbau des traditionellen | |
Transports mit Schiffen auf der Weser spekuliert hat. | |
Die emanzipierte Cato Böhmer ist natürlich auch ein positiver Gegenentwurf | |
zur Verbrecherin Gesche Gottfried, [3][die sich ja durch ihre Taten | |
ebenfalls von den patriarchalen Machtverhältnissen befreien wollte]. | |
Fassbinders Stück heißt nicht umsonst „Bremer Freiheit“. | |
Flohr führt die beiden deshalb auch in den beiden Szenen zusammen, in denen | |
sein ansonsten erfreulich unaufgeregt inszenierter Film zu einem Thriller | |
wird: Einmal versucht Gesche Gottfried auch noch Cato Böhmer mit Arsenik im | |
Tee zu vergiften. Und schließlich greift Flohr tief in die Trickkiste des | |
Genrekinos, wenn Cato Böhmer schließlich Gesche Gottfried in einem Verhör | |
dazu bringt, ihre Taten zu gestehen. Da erinnert die junge Heldin deutlich | |
an Jodie Foster in „Das Schweigen der Lämmer“. | |
Mit Elisa Thiemann und Suzan Anbeh sind die beiden Hauptdarstellerinnen gut | |
besetzt: Thiemann immer rational und in sich gefestigt, Anbeh | |
leidenschaftlich, hinterhältig und mit einem bösen Funkeln in den Augen. | |
Und wenn sie stolz sagt „Ich kann mit Lust Böses tun“, bekommt sie ihren | |
Hannibal-Lecter-Moment. Auch sonst ist der Film passend mit weitgehend | |
unbekannten Schauspieler*innen besetzt. Nur Uwe Bohm („Nordsee ist | |
Mordsee“, „Tschick“) erkennt man sofort, wodurch sein Kommissar Tonjes als | |
bornierter und arroganter Büttel dann auch ein wenig wie ein Fremdkörper | |
wirkt. | |
Peer Meter kennt sich in der Bremer Geschichte gut aus. Und so ist der Film | |
gespickt mit historischen Details wie dem Blutregen, der damals, ausgelöst | |
von Sandpartikel aus der Sahara, auf die Stadt fiel. Auch bei der | |
Ausstattung hat sich Flohr um historische Authentizität bemüht. Kostüme, | |
Frisuren, Möbel und Requisiten sind Vorbildern aus den 1830er-Jahren | |
nachempfunden. Im Abspann steht sogar ein Dank an das Lippenstiftmuseum in | |
Berlin. Da fällt kein Anachronismus ins Auge, doch da alles blitzeblank und | |
nagelneu aussieht, bewegen sich die Filmfiguren nicht in Räumen, die so | |
aussehen, als würde in ihnen gelebt, sondern offensichtlich in Kulissen. | |
Gedreht wurde „Effigie“ vor allem in Mecklenburg Vorpommern, aber einige | |
Einstellungen wurden auch in der Bremer Altstadt aufgenommen. So kann man | |
im Film die Schlachte, den Schnoor, das Rathaus und den Dom erkennen. Diese | |
Aufnahmen wurden zum Teil digital bearbeitet, sodass nun etwa der Dom | |
historisch korrekt ein birnenförmiges Dach hat. Für Bremer*innen könnte | |
es dagegen unfreiwillig komisch wirken, wenn in einer anderen Sequenz, die | |
offensichtlich nicht in Bremen gedreht wurde, Cato Böhmer zum Spaziergang | |
durch die Stadt eingeladen wird. | |
„Effigie“ wurde schon 2019 fertiggestellt und feierte damals seine | |
Weltpremiere auf dem Bremer Filmfest. Der Kinostart verzögerte sich dann | |
wegen Corona, doch der Film wurde auf viele internationale Festivals | |
eingeladen und bekam dort Preise. [4][In Barcelona wurde er als „Bester | |
internationaler Film“ ausgezeichnet], in Houston als „Bester historischer | |
Film“ und in Beaufort bekam Suzan Anbeh den Preis als beste | |
Hauptdarstellerin. | |
Sogar die New York Times fand lobende Worte für „Effigy – Poison and the | |
City“, auch wenn die Kritikerin [5][Jeanette Catsoulis ihn als „a surreal | |
period drama“ sah] und somit einiges missverstanden haben dürfte. Recht hat | |
sie dagegen, wenn sie den Film „wordy and stilted“, also wortreich und | |
gestelzt nennt. Tatsächlich wird sehr viel geredet und Flohr konnte oder | |
wollte die Schauspieler*innen nicht so führen, dass sie auf der | |
Leinwand lebendig werden. Doch die stilisiert wirkende Distanz, die den | |
Film prägt, hat ihren eigenen Reiz und gibt auch dem Titel einen Sinn: Eine | |
Bestrafung „in effigie“ bedeutet, sie an einer Puppe stellvertretend zu | |
vollziehen. | |
23 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.projekt-gutenberg.org/antholog/balldeut/chap048.html | |
[2] /!536098/ | |
[3] https://www.projekt-gutenberg.org/alexis/kriminal/chap08.html | |
[4] https://www.lhifilmfestival.com/our-story | |
[5] https://www.nytimes.com/2020/12/17/movies/effigy-poison-and-the-city-review… | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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