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# taz.de -- „Spuckstein“ in Bremen: Respekt für alle
> Auf die Stelle, an der die Giftmörderin Gesche Gottfried hingerichtet
> wurde, wird in Bremen gespuckt. Gegen diese Tradition regt sich
> Widerstand.
Bild: Juditha Friehe will der Mörderin ihre Würde zurückgeben
Bremen taz | Igitt. Wie ekelig. Und würdelos. Bremen! Was bilden sich die
Vermarkter:innen der gemütlichen Wesermetropole ein,
Verhaltensauffälligkeiten nur wenige Schritte von der Nordseite des Doms
entfernt als eine Tradition anzupreisen, die als Mitmachpraxis an Touristen
vermittelt werden kann?
Da kommt jedenfalls schon wieder eine Besucher:innengruppe
herbeigeschnattert, eine 7. Klasse auf Bremenfahrt. Der jugendlich wirken
wollende Lehrer stoppt und erzählt, dass hier auf dem Domshof am 21. April
1831 eine Bühne vor 35.000 Gaffern aufgebaut war, auf der die wegen
15-fachen Mordes „zum Tode mittels des Schwertes“ verurteilte [1][Gesche
Gottfried] enthauptet wurde.
Genau an der Stelle ließen Bremer später ins Granitpflaster einen
Basaltquader ein, in den ein Kreuz geritzt ist. Gedacht als Gedenkstein für
das blutrünstige Ritual staatlichen Mordens, denn es sollte das letzte
vollstreckte Todesurteil in Bremen sein. Irgendwann begannen Menschen aber
auf den Stein zu spucken, eine besonders rohe Art der Kommunikation, um
Verachtung für die Delinquentin möglichst demütigend auszudrücken.
Seither gelten die Speichelkanonaden offiziell als Brauchtumspflege.
„Haltet die Bremer bitte nicht für ungehobelte Menschen, wenn ihr mal
beobachtet, wie sie auf den Domshof spucken“, steht unter der Überschrift
„Bremen erleben!“ auf dem [2][Stadtportal der Wirtschaftsförderung]. So
animiert lädt auch der oben erwähnte Lehrer seine Schutzbefohlenen ein zum
öffentlichen Speien.
Auffällig: Nur Jungs nehmen das Angebot an. Ist Auf-den-Boden-Rotzen als
Männlichkeitsgehabe doch auch sonst beliebt, soll Stärke und Coolness
demonstrieren.
## Zivilisatorischer Reifeprozess
Dabei hat der Soziologe Norbert Elias bereits 1939, in seinem
[3][Standardwerk „Über den Prozess der Zivilisation“], die allmähliche
Tabuisierung des öffentlichen Spuckens beschrieben, für ein Zeichen des
zivilisatorischen Reifeprozesses. Heute, mit dem Wissen um Staub- und
Tröpfcheninfektionen, gilt Spucken nicht mehr nur als anstößiges Verhalten,
sondern auch als krankheitserregend. Nur nicht am Spuckstein in Bremen.
Wer von einer gegenüberliegenden Bank zuschaut, sieht nicht nur Urlaubende
in allen Gruppenstärken, sondern immer wieder auch einen Eingeborenen, der
mal eben fix seinen Glibber im Mund bündelt und strahlkräftig auf dem Stein
platziert. Es gibt auch Zeitgenoss:innen, die entsorgen Kaugummi auf den
Spuckstein oder treten ihre Zigarettenstummel dort aus. So ist die
Touristenattraktion meist von Dreck gerahmt und mit qualligen
Schleimpfützen bedeckt. Nur ein klitzekleines Grünpflänzchen reckt sich
tapfer in einer Pflasterfuge der Sonnen entgegen.
Doch die Spucksteinnutzung ist nicht nur aus ästhetischer, sondern auch aus
juristischer und menschlicher Perspektive ein Unsitte. Denn es wird ja auf
einen Menschen gespuckt. Jeder Fußballer weiß, Affekt- und Hassspuckerei
auf Kollegen gibt sofort die Rote Karte und bedeutet den Ausschluss aus der
Spielgemeinschaft. Müsste das auch für die Schändung der Erinnerung einer
Toten gelten?
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht in Artikel 1 des
Grundgesetzes. Das hat die Bremerin Juditha Friehe mit schwarzer Schrift
auf gelbes Papier geschrieben und neben den Stein geklebt. Sie sagt: „Der
Artikel gilt auch für Gesche Gottfried, unabhängig von dem, was sie
Grausames getan hat.“ Das Spuckgebot und die Tat selbst sind also Verstöße
gegen das Grundgesetz? Durchaus logisch, denn die Würde des Menschen ist
nach Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes unantastbar auch über den Tod
hinaus.
## Blumen und Kerzen
Zur Abschreckung von Spucker:innen schmückt Friehe den an Gesche
Gottfried erinnernden Stein immer mal wieder mit Blumen und Kerzen. Sie ist
sich sicher, um die speicheligen Auswürfe nachhaltig zu beenden, müsse der
Stein des Anstoßes ins Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte
ausgelagert werden, das bereits einen Abguss von Gesches Totenmaske
beherbergt. Am ursprünglichen Platz könnte ein Baum wachsen oder eine
Gedenktafel stehen.
Einmal wurde der Stein bereits entfernt. 1931 hatte jemand gegen den
loswütenden Faschismus mit Hammer und Meißel aus dem Steinkreuz ein
Hakenkreuz gemacht, damit darauf gespuckt werde. In der Folge verschwand
der Stein jahrelang im Landesmuseum, wurde dort wohl abgeschliffen und
später mit neu eingekerbtem Kreuz auf den Domshof zurückgebracht.
Eine weitere Verunzierung fand kürzlich keine Sympathie bei Juditha Friehe.
Klebte ein Künstler doch das Antlitz Putins auf den Stein. „Wer das macht,
hat nichts von meiner Aktion verstanden“, klagt sie. Es gehe eben nicht um
das richtige menschliche Objekt fürs Bespucken, sondern darum, dass das
grundgesetzlich nicht in Ordnung sei.
Genauso erklären das auch viele Gästeführer:innen und bitten ihre
Stadtrundgangs-Teilnehmer:innen, vom Spucken abzusehen. Was Friehe sehr
freut. „Da merke ich, bereits was erreicht zu haben.“ Im Internet wird ihr
Anliegen allerdings schon mal als woker Wahn beschimpft, in Leserbriefen
der Lokalzeitung regt sich Widerstand, diese „harmlose Tradition“ verbieten
zu wollen, „weil jemand Moralin rüberkippt“. Der Stein müsse als Teil der
Bremer Geschichte bleiben, wo er ist.
Bremen hat seinen Gästen halt wenig Spektakuläres zu bieten, das
Marktplatzsetting als Unesco-Weltkulturerbe, plus Böttcherstraße,
Schnoor-Viertel und Weser-Bummel ist an einem halben Tag erledigt. Für
dieses Basispaket eines Bremenbesuchs gehören Spuckstein und Gesches
Geschichte einfach dazu, PR-mäßig angepriesen mit Adjektiven wie „schaurig�…
oder „gruselig“.
## In Spiritus eingelegter Kopf
Zu Gesches Lebzeiten reichten Schausteller sogar den Antrag ein, die
Inhaftierte in persona auf dem Freimarkt ausstellen zu dürfen. Ihr in
Spiritus eingelegter Kopf und das Skelett waren später im
Kuriositätenkabinett des naturwissenschaftlich-völkerkundlichen Museums am
Domshof zu sehen.
Menschen lassen sich gern mal einen Schrecken zu Unterhaltungszwecken
einjagen. So wie in Hamburg das Dungeon ein bisschen Horrorkitzel mit
Stadtgeschichte verbindet, in Hannover „Fritz Haarmann – Die Mördertour“
gebucht werden kann, Jack-the-Ripper-Wanderungen durchs Londoner East End
führen, ist in an der Weser Gesche Gottfried eine Protagonistin für
Führungen mit Titeln wie „Bremens düstere Seiten“ oder „Hexen, Geister,
dunkle Gassen – Schauergeschichten der Bremer Altstadt“.
Im Ratskeller geistert Gesche gar durch das „Nachts in Bremen“-Musical, das
mit einem 4-Gänge-Menü serviert wird. Allerdings ohne Mäusebutter – die
einst gegen Nagerplagen helfende Vermengung von Schmalz und Arsen hatte die
Serienmörderin ihren Opfern aufs Brot geschmiert.
Warum wurde Gesche Gottfried zur Mörderin? Ihr Anwalt stellte sie als
kaltblütige Mörderin dar, die Richter sahen sie aus niederen Beweggründen
morden: für Erbschaften, Erlass von Schulden und ungehemmten Zugang zu
wechselnden Sexpartnern. Allerdings galt sie bis zur Verhaftung als „Engel
von Bremen“, weil sie sich stets rührend um die vergiftet Dahinsiechenden
gekümmert hat. Ein Ablenkungsmanöver? Anzeichen des
Münchhausen-Stellvertretersyndroms? Ausdruck einer psychisch haltlosen
Frau?
Eine ganz andere Perspektive lieferte Rainer Werner Fassbinder bereits 1972
mit seinem später auch verfilmten Theaterstück „Bremer Freiheit“, das im
Bremer „Concordia“ uraufgeführt wurde. Darin gleicht die Mordserie einer
Emanzipationsbewegung – ein Befreiungsakt gegen saufende, gewalttätige
Männer, patriarchale Machtverhältnisse und Verklemmtheiten einer
calvinistischen Gesellschaft.
„Das Emanzipatorische sehe ich auch, aber vor allem eine kranke Frau“, sagt
Juditha Friehe. „Ich möchte, dass Bremen in Zukunft damit prahlt, dass es
eine Stadt ist, die sich ihre Würde zurückholt, indem sie die Würde einer
Gesche Gottfried respektiert.“
7 Apr 2023
## LINKS
[1] /Filmdebuet/!5825989
[2] https://www.bremen.de/tourismus/spuckstein
[3] https://www.suhrkamp.de/buch/norbert-elias-ueber-den-prozess-der-zivilisati…
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
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