| # taz.de -- Gedenken an Anti-Atom-Aktivist: Auffällig unauffällig | |
| > An Hartmut Gründler, der sich 1977 in Hamburg verbrannte, erinnert eine | |
| > unscheinbare Tafel an St. Petri. Ist das wirklich besser als nichts? | |
| Bild: Ein eckiges Gesicht im Eckchen: Die Erinnerung an Hartmut Gründler bleib… | |
| Der Mann war zum Äußersten entschlossen. Es muss getickt haben hinter | |
| seiner Stirnhaut. Der Lehrer Hartmut Gründler aus Tübingen kam am 14. | |
| November 1977 nach Hamburg. Der Atomkraftgegner und Umweltaktivist | |
| verteilte Flugblätter, in denen er erklärte, dem Sachzwang der Profitgier, | |
| des Dummenfangs, der Überrumpelung einen Sachzwang des Gewissens | |
| entgegenzusetzen. Am Buß- und Bettag ging der Pfarrerssohn zur Hauptkirche | |
| St. Petri. Gegen 12.20 Uhr [1][übergoss er sich vor dem Gotteshaus in der | |
| Mönckebergstraße mit Benzin und zündete sich an]. Seine Kleidung hatte er | |
| zuvor mit Papier ausgestopft. Ein Mensch brennt – mitten in Hamburg. | |
| Seit 2015 ist eine unscheinbare Glastafel an die Kirchenfassade geschraubt. | |
| Die Gedenktafel informiert in weißer Schrift auf grauem Grund: „Vor dieser | |
| Kirche setzte HARTMUT GRÜNDLER (1939-1977) mit seiner Selbstverbrennung / | |
| ein Zeichen. Es war der 16. November 1977, am Buß- und Bettag, als er sich | |
| mit Benzin übergoss und selbst entzündete. Diese Tat war sein letzter | |
| Protest / gegen den Bau von Atomkraftwerken. Vor den Reaktorkatastrophen in | |
| Tschernobyl und Fukushima warnte er vor den tödlichen Gefahren der | |
| Atomenergie. Er starb am 21. November 1977 an den Folgen seiner | |
| Verbrennung.“ | |
| Eine Porträtzeichnung zeigt Gründlers markantes Gesicht, seinen | |
| durchdringenden Blick. Ein QR-Code führt zu [2][Frank Keils Text]: | |
| „Flammende Wahrheit. Die Geschichte des Hartmut Gründler, der sich 1977 aus | |
| Protest gegen die Lügen der Atomindustrie selbst verbrannte“ auf „ZEIT | |
| online“ vom April 2011. | |
| Unerbittlich hatte Gründler über Jahre gegen die Atomenergie gekämpft, | |
| gegen die SPD und ihren stellvertretenden Vorsitzenden, Bundeskanzler | |
| Helmut Schmidt, der sie vorantrieb. Die Hansestadt hatte er bewusst als Ort | |
| seines Feuertodes gewählt. Denn im Congress Centrum Hamburg fand vom 15. | |
| bis 19. November 1977 der Bundesparteitag der SPD statt. Gründlers | |
| Selbstverbrennung sollte ein Fanal – ein tatsächliches Feuerzeichen – sein. | |
| Der Pädagoge hatte 1971 den „Bund für Umweltschutz“ gegründet, der die | |
| Strahlenbelastung durch Kernkraftwerke ebenso thematisierte wie die | |
| Entsorgung kerntechnischer Anlagen. | |
| ## Hungerstreik und Selbstverbrennung | |
| Der Atomkraftgegner, der schließlich seinen Beruf aufgab, war bekannt in | |
| der Anti-AKW-Szene. In seinem „Wörterbuch des ZwieDenkens“ kritisierte er | |
| die schönfärberische Sprache der Atomlobby, die statt des Begriffs | |
| „Atomenergie“ den der „Kernenergie“ verwendete, weil er positiver | |
| konnotiert sei. „Nach Erschöpfung aller anderen Mittel, auch dem des | |
| Hungerstreiks, greife ich nun zur letzten äußersten Form des Protestes. Ich | |
| will um der seit Jahren geschändeten Würde des Menschen willen sterben“, | |
| schrieb Gründler in seinem Abschiedsbrief. | |
| Wohl noch unter dem Schock von Gründlers Selbstverbrennung hatten die | |
| Initiative Kirchlicher Mitarbeiter und die Gewaltfreie Aktion gegen | |
| Atomkraftwerke Hamburg ein großes Schild aufgehängt: „Hartmut Gründler | |
| verbrannte sich hier. Er wollte sein eine lebende Fackel des Protestes | |
| gegen den gewissenlosen Ausbau von lebenszerstörender Atomenergie. Wir sind | |
| betroffen.“ | |
| Was einen Menschen [3][im Jahr des deutschen Herbstes] zur politischen | |
| Unbedingtheit und unaufhaltsamen Radikalisierung, schließlich zur | |
| Selbsttötung trieb, verstörte. Welche Sache könnte überhaupt diesen | |
| Opfertod wert sein, und wie kann, wer gegen Lüge und Gewalt kämpft, sich | |
| selbst Gewalt antun? So fragte St. Petris damaliger Hauptpastor Carl | |
| Malsch, der bei der Hamburger Trauerfeier für Gründler gepredigt hatte: | |
| „Ist das Problem der atomaren Energie durch ein Fanal menschlicher | |
| Selbstzerstörung zu bewältigen?“ | |
| Auf dem Hamburger SPD-Parteitag, dem sogenannten „Atom-Parteitag“ | |
| jedenfalls fiel Gründlers Name nicht. Bundeskanzler Helmut Schmidt ließ | |
| erkennen, er lasse sich eine Politik, die zahlreiche Arbeitsplätze schaffe, | |
| nicht von einem „wohlmeinenden Idealisten“ kaputt machen. Schmidts Buch | |
| „Als Christ in der politischen Entscheidung“ hatte Gründler am 16. November | |
| 1977 bei sich getragen und verfügt, es möge auf seinen Sarg genagelt | |
| werden. Das angesengte Buch lag dort dann tatsächlich. | |
| ## Gedenktafel erst nach Fukushima-Katastrophe | |
| Erst 2015, vier Jahre nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima, | |
| wurde an St. Petri eine Gedenktafel angebracht. Sie fällt auf durch ihre | |
| Unauffälligkeit. Der verantwortliche Hauptpastor Christoph Störmer sagte | |
| damals gegenüber dem Hamburger Abendblatt, er und der Kirchenvorstand | |
| hätten sich dafür eingesetzt, dass Hartmut Gründler auch in Hamburg in | |
| Erinnerung bleibe. Die Tafel sei bewusst so platziert worden, dass der | |
| Betrachter dem Aktivisten ins Gesicht schaue und dabei auf das Rathaus | |
| blicke. | |
| Das, so Störmer, sei ein Hinweis auch darauf, dass Kirche sich in Politik | |
| einmischen müsse. Störmer, der vehemente Atomkraftgegner, hatte übrigens | |
| 1979 zusammen mit 400 Gleichgesinnten St. Petri besetzt, deren Hauptpastor | |
| er 2002 wurde. | |
| St. Petri versteht sich als „City-Kirche im Herzen Hamburgs – aufrecht und | |
| mittendrin.“ Zur Gedenktafel schreibt die Kirchen-Website gnadenvoll: | |
| „Unsere Gemeinde hat beschlossen, Hartmut Gründler ein Gesicht und ein | |
| Gedenken zu geben.“ Der Politologe und Bewegungsforscher Wolfgang Hertle | |
| schrieb anlässlich der Tafel-Anbringung, die Selbstverbrennung von Hartmut | |
| Gründler solle nicht zur Märtyreraktion hochstilisiert werden. Als nicht | |
| rückgängig zu machende Steigerung des Hungerstreiks sei sie keine | |
| wegweisende Aktion für das Leben. Wie ambivalent Gründlers | |
| Selbstverbrennung bis heute gesehen wird, erweist sich beim Gespräch im – | |
| privat betriebenen – Buch-Café von St. Petri. | |
| Die Frau ist sofort voller Abwehr. Sie finde Gründlers Tat märtyrerhaft. Es | |
| sei nicht richtig, seiner an der Kirche überhaupt zu gedenken. Zehn | |
| Schritte entfernt steht von der Gründler-Gedenktafel seit 1979 die Statue | |
| des Theologen Dietrich Bonhoeffer, der sich den Nationalsozialisten | |
| widersetzte und von ihnen ermordet wurde. Bonhoeffer, dieser „evangelische | |
| Heilige“, hat Wege gewusst: „Es gibt zwei Möglichkeiten, einem Menschen, | |
| der von einer Last gedrückt wird, zu helfen. Entweder man nimmt ihm die | |
| ganze Last ab, sodass er künftig nichts mehr zu tragen hat. Oder man hilft | |
| ihm tragen.“ | |
| Den Einzelkämpfer Gründler hat diese Zugewandtheit nicht erreichen können, | |
| er beendete sein Leben entsetzlich konsequent. Wie aktuell aber Hartmut | |
| Gründlers Rigorismus gerade heute wirkt, angesichts von Klima-Aktivisten, | |
| die zu allem bereit scheinen – und wie enttäuschend dagegen das verhaltene, | |
| gleichgültig anmutende Gedenken von St. Petri. | |
| 3 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /40-Jahre-Anti-AKW-Selbstverbrennung/!5461228 | |
| [2] https://www.zeit.de/2011/17/Hartmut-Gruendler | |
| [3] /Umgang-mit-40-Jahren-Deutscher-Herbst/!5440972 | |
| ## AUTOREN | |
| Frauke Hamann | |
| ## TAGS | |
| Anti-Atom-Bewegung | |
| Anti-Atom-Bewegung | |
| Gedenken | |
| Atom | |
| Soziale Bewegungen | |
| Anti-Atom-Initiativen | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Holocaust | |
| Kurden | |
| wochentaz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Anti-Atom-Aktivist über Widerstand: „Es ging gemeinsam ums Ganze“ | |
| Die BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg machte Gorleben zum Synonym für den | |
| Kampf gegen Atomkraft. Wolfgang Ehmke kennt diese 50 Jahre Widerstand. | |
| Gedenkstein im Deutschen Technikmuseum: Eindrückliche Erinnerung | |
| Mit einem 100 Jahre alten Stein begann die Recherche zur Druckerei Paul | |
| Pittius. Heute erinnert dieser an die NS-Verfolgung der Gebrüder Gerson. | |
| Polizeiopfer Halim Dener: Ein kleines bisschen Erinnerung | |
| Lange schon wird in Hannover um das Gedenken an den erschossenen Halim | |
| Dener gerungen. In einem Jahr, zum 30. Todestag, soll es eine Infotafel | |
| geben. | |
| „Spuckstein“ in Bremen: Respekt für alle | |
| Auf die Stelle, an der die Giftmörderin Gesche Gottfried hingerichtet | |
| wurde, wird in Bremen gespuckt. Gegen diese Tradition regt sich Widerstand. |