# taz.de -- Thriller „Nightmare Alley“ im Kino: Jahrmarkt der Ängste | |
> Guillermo del Toros „Nightmare Alley“ ist eine Hommage an den Film noir. | |
> Visuell gelingt das wunderbar, die Geschichte bleibt dahinter etwas | |
> zurück. | |
Bild: Dream Team? Psychiaterin Dr. Lilith Ritter (Cate Blanchett) und Stanton C… | |
Dass es [1][Guillermo del Toro („Shape of Water“)] früher oder später auf | |
den Jahrmarkt verschlagen würde, war eigentlich abzusehen. Dass er diesen | |
Ort genauso düster und bedrohlich inszenieren, ihn mit Schatten und | |
zwielichtigen Gestalten bevölkern würde wie [2][Tim Burton den Zirkus in | |
seiner Neuverfilmung von Disneys „Dumbo“], ebenso. Beide Regisseure | |
verwandeln in ihren Filmen altbewährte Stätten der Gelöstheit, der | |
oberflächlichen Freuden und Leichtigkeit in Areale des Grauens, in deren | |
Winkeln stets das Schreckliche lauert. | |
Und ebenso wie Tim Burton ist auch del Toro für eine ganz eigene visuelle | |
Sprache bekannt. Einer, der es gelingt, Horror in einer der Thematik | |
eigentlich unangemessenen, aber dennoch ästhetisch überaus ansprechenden | |
Hochglanzoptik zu präsentieren. Ganz wie beim 2015 erschienenen „Crimson | |
Peak“ um ein diabolisches Paar (Tom Hiddleston und Jessica Chastain), das | |
immer wieder junge Frauen in ihr dämmeriges Herrenhaus lockt, um sie zu | |
ermorden und so an ihr Vermögen zu kommen, bettet del Toro auch in | |
„Nightmare Alley“ menschliche Abgründe in eine bei all ihrer | |
Abscheulichkeit bestechend schöne Welt. | |
Neuankömmling Stanton „Stan“ Carlisle (Bradley Cooper), dessen Weg die eine | |
oder andere Leiche pflastert, erweist sich als hervorragend geeigneter | |
Türöffner zu ihr: Sein Charme ist die Fassade eines verschlagenen | |
Charakters. Er weiß um seine Wirkung, setzt sie geschickt ein, um seinen | |
Zielen Schritt für Schritt näher zu kommen. Damit macht er sich wie die | |
Schausteller*innen des Jahrmarkts, die Kartenleger*innen und | |
Wahrsager*innen, eine Illusion zunutze, um sein Publikum für sich zu | |
gewinnen. | |
Ein Wesenszug, der ihn gleichsam zum hervorragend geeigneten (Anti-) Helden | |
eines Film noir macht. „Nightmare Alley“, angesiedelt zwischen Großer | |
Depression und Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, kann man getrost | |
als eine Hommage an diese Stilrichtung verstehen. An ihren Pessimismus im | |
Hinblick auf die moralische Standhaftigkeit des Menschen, ihr Interesse für | |
abseitige Milieus, ihre meist schablonenhaften, wiederkehrenden Figuren. | |
Wie del Toro all diese Attribute konsequent auf seinen düsteren | |
Psychothriller anwendet, bereitet allein schon aus nostalgischen Gründen | |
große Freude. Der zugrundeliegende Stoff wird durch dieses Korsett | |
gleichsam seiner Vielschichtigkeit beraubt. | |
## Faszination und Furcht | |
Bereits bei Stans Ankunft auf dem Jahrmarkt wird, der Logik seiner | |
filmischen Vorbilder folgend, nicht nur die Saat für seinen Aufstieg, | |
sondern gleichsam auch für seinen unabwendbaren Fall ausgebracht. Die erste | |
Attraktion, der er sich gegenübersieht, soll sich als Menetekel erweisen: | |
Ein seltsames Mischwesen, das „halb Mensch, halb Tier“ sei, wird | |
angekündigt. Ein sogenannter „Geek“ kriecht in die Manege, das lange, | |
strähnige Haar im Gesicht klebend. Als der kurz darauf einem Huhn den Kopf | |
abbeißt, ist aus dem Gesicht des Helden ein Widerstreit aus Faszination und | |
Furcht zu lesen. | |
Der schmierige Vorsteher (Willem Dafoe) der Schau, der sich Stan zunächst | |
als Handlanger anschließt, erklärt ihm, wie man eine solche Kreatur | |
erschafft: Man suche sich einfach einen Säufer und bezahlt ihn mit Schnaps. | |
Ziert der sich zunächst, droht man ihm mit dem Rauswurf. Die schiere Angst | |
vor dem Nüchternsein wird ihn die Aufgabe künftig mit vollkommener Hingabe | |
erfüllen lassen. Man hat ihn in der Hand. | |
Die Worte wecken die Neugier des Helden, die Faszination obsiegt. Aus ihnen | |
lässt sich ein Leitfaden zur Manipulation destillieren: Seine Angst ist der | |
Schlüssel zu jedem Menschen. Kennt man sie, erlangt man Macht über ihn. Um | |
diese zunächst sehr banal anmutende, aber doch treffende Wahrheit – ein | |
Blick in die Menschheitsgeschichte genügt, um sich ihrer zu versichern – | |
kreist „Nightmare Alley“ immer wieder. | |
Zusammengenommen mit der anderen Seite der Medaille, der Hoffnung als nicht | |
weniger wirksamem Köder, mit dem sich die Menschen locken und lenken | |
lassen, wird sie zu einem wiederkehrenden Motiv der Erzählung – und zu | |
Stans Hybris. Der nämlich schärft auf dem Jahrmarkt sein Talent zur | |
Täuschung und entdeckt damit eine Möglichkeit, emporzukommen. | |
## Spektakuläre Schauwerte | |
Mehr als einmal wünscht man sich, das Drehbuch, das del Toro gemeinsam mit | |
Kim Morgan verfasste, würde sich ein wenig mehr auf die durchaus fesselnden | |
Betrachtungen über das menschliche Wesen der gleichnamigen literarischen | |
Vorlage von William Lindsay Gresham als auf ihre Übersetzung in | |
spektakuläre Schauwerte konzentrieren. | |
Diese Betrachtungen liefern auch heute noch aufschlussreiche Denkanstöße | |
zum Boom, den Astrologie und Tarot, durch zahlreiche Apps und hippe | |
Ratgeberliteratur ins 21. Jahrhundert gehoben, zuletzt erfuhren. Die | |
Menschen wünschen sich nichts mehr, als gesehen zu werden. Und dafür sind | |
sie sogar bereit, sich hinters Licht führen zu lassen, selbst Deutungen | |
anzunehmen, die eigentlich nicht richtig passen wollen, wie es sinngemäß an | |
einer Stelle heißt. | |
Wenn Stan auf seine Mentor*innen, Hellseherin Zeena Krumbein (Toni | |
Collette) und ihren Ehemann Pete (David Strathairn) trifft, die mit | |
erstaunlicher Treffsicherheit die Fragen ihres Publikums beantworten, in | |
ihre Gedanken vordringen können, interessiert sich „Nightmare Alley“ vor | |
allem für die doppelten Böden, die aufwendige Kulisse ihrer Bühne, das | |
Schauspiel. | |
Dass es, neben einigen Tricks und Codes, dafür statt übersinnlicher | |
Fähigkeiten aber nur die Gabe braucht, die Menschen zu lesen und ihre | |
Ängste zu erkennen und sie mit ein paar Hoffnung spendenden Worten zu | |
trösten, um sie auf die eigene Seite zu ziehen, geht dabei fast unter. | |
## Vielschichtige Buchvorlage | |
Dan Laustsens („Shape of Water“) Kamera sucht vor allem Kuriositäten und | |
Absonderliches. Sie fängt lieber einmal mehr in Formalin eingelegte | |
fehlgebildete Föten ein, als potenziell aufschlussreiche Dialoge | |
abzubilden. Visuell beeindruckend ist das zweifellos, vor dem Hintergrund | |
der vielschichtigen Buchvorlage – bereits 1947 von Edmund Goulding als „Der | |
Scharlatan“ adaptiert – aber ein unnötig schaler Budenzauber. | |
Mit seiner Geliebten Molly (Rooney Mara), einer intellektuell unterlegenen | |
Schaustellerkollegin und damit ein besonders leichtes Opfer seiner | |
Manipulationen, bricht Stan schließlich auf, um eine eigene Show auf die | |
Beine zu stellen. Mit einem Zeitsprung von zwei Jahren taucht „Nightmare | |
Alley“ in den zweiten Akt und damit in ein völlig neues Setting ein. Nun | |
auf exklusiven Bühnen vor der New Yorker Oberschicht auftretend, nächtigt | |
das Paar in teuren Art-déco-Hotels. | |
Dass der Niedergang des Antihelden nun unmittelbar bevorsteht, gibt das | |
Schema des Film noir vor. Dass er durch eine Femme fatale herbeigeführt | |
wird, ist naheliegend. Dennoch lässt sich „Nightmare Alley“ mit seiner | |
zweieinhalbstündigen Spieldauer viel Zeit, um ihn vorzubereiten. | |
Psychoanalytikerin Lilith Ritter (Cate Blanchett), an einem Abend zufällig | |
im Publikum, kooperiert zunächst mit ihm, versorgt ihn mit Informationen | |
von Klient*innen, damit er die Elite der Metropole in Seáncen von seinen | |
vermeintlichen spiritistischen Fähigkeiten überzeugen und um beträchtliche | |
Summen erleichtern kann. Dass sie – von Berufswegen schließlich so etwas | |
wie Fachfrau für Ängste und Hoffnungen – ihm in seinem eigenen Spiel | |
überlegen ist, vermag er in seinem Hochmut nicht zu erkennen. | |
Ob der Vorhersehbarkeit dieser Entwicklung und der recht stereotyp | |
innerhalb ihrer Zuschreibungen verharrenden Figuren, die sie vorantreiben, | |
besitzt „Nightmare Alley“ einige Längen und finale Enthüllungen gestalten | |
sich wenig überraschend. Die auf dem Weg vorgebrachten Ideen und mehr noch | |
ihre formidable visuelle Einbettung, dazu die großartigen | |
schauspielerischen Darbietungen, verfehlen trotzdem nicht ihre Wirkung. Der | |
Illusion, dass hier nicht doch viel mehr möglich gewesen wäre als ein | |
wunderschön anzusehender Blockbuster, sollte man sich allerdings nicht | |
hingeben. | |
19 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Kinostart-von-Shape-of-Water/!5481480 | |
[2] /Zeichentrickklassiker-Dumbo-recycelt/!5583497 | |
## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
## TAGS | |
Film noir | |
Literatur | |
Thriller | |
GNS | |
Spielfilm | |
Film | |
Film noir | |
Thriller | |
Film | |
Frauen im Film | |
Spielfilm | |
Disney | |
Horrorfilm | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Film „Maestro“ von Bradley Cooper: Szenen einer fast perfekten Ehe | |
Der Star spielt den Star – und führt Regie. Bradley Cooper schnappt sich in | |
„Maestro“ den Überdirigenten Leonard Bernstein. | |
Autor über den „Film Noir“: „Ein Spiegel der Krise“ | |
Der Bremer Christian Keßler hat ein Buch über den „Film Noir“ geschrieben… | |
ein Kino der Krise, in dem immer alles schief läuft. | |
Thriller „Hinterland“ auf DVD: Das Trauma einer verdrehten Welt | |
Im Film „Hinterland“ von Stefan Ruzowitzky jagt ein Weltkriegsveteran einen | |
Serienmörder. Die schiefe Kulisse stammt aus dem Computer. | |
Kenneth Anger wird 95: Luzifer sorgt für Technicolor | |
Kenneth Anger bringt seit Jahrzehnten mühelos Pop, Film, Underground und | |
Satanismus zusammen. Am 3. Februar wird der Regisseur 95 Jahre alt. | |
Filmdebüt: Der Todesengel von Bremen | |
Auf vielen Festivals ausgezeichnet: „Effigie – Das Gift und die Stadt“ | |
findet eine neue Perspektive auf die Giftmörderin Gesche Gottfried | |
Regisseur Moll über „Die Verschwundene“: „Sie kannten diese Welt“ | |
Dominik Moll spricht über die Arbeit mit Internetbetrügern im Thriller „Die | |
Verschwundene“. Sein Film hat eine vertrackte Erzählstruktur. | |
Zeichentrickklassiker „Dumbo“ recycelt: Düsteres Dreamland | |
Außenseiter müssen zusammenhalten: Die Geschichte vom fliegenden Elefanten | |
„Dumbo“ kleidet Tim Burton in bewährt morbide Bilder | |
Kinostart von „Shape of Water“: Untertauchen als zweite Natur | |
Vom Glauben an Monster, die Liebe und das Kino: Der Film „Shape of Water“ | |
von Guillermo del Toro verzaubert in vielen Details. |