| # taz.de -- Experimentelles Musiktheater: Fortsetzung folgt | |
| > Ein selten schönes Opernereignis ist das Projekt „Once to be realised“ an | |
| > der Deutschen Oper Berlin. Es beruht auf Skizzen des Griechen Janis | |
| > Christou. | |
| Bild: In „Once to be realised“ an der Deutschen Oper Berlin spielt auch die… | |
| Die Deutsche Oper in Berlin Charlottenburg hat den Ruf einer konservativen | |
| alten Dame im Schatten des Berliner Ostens, der mit seinen Stars an der | |
| Staatsoper und radikalen Regiekonzepten an der Komischen Oper eher für | |
| Schlagzeilen sorgt. Daran hat ihre Experimentierbühne in der ehemaligen | |
| Tischlerei wenig geändert. Uraufführungen unterschiedlichster Art stehen | |
| neben Kinderstücken und Jazzkonzerten ohne ein greifbares Programm erkennen | |
| zu lassen. | |
| Am 23. Januar jedoch kam ausgerechnet hier ein Projekt zur Uraufführung, | |
| das weit über alles hinausgeht, was Aufführungen neuer Musik gewöhnlich zu | |
| bieten haben, wo immer sie stattfinden. Es wird nach der Uraufführung in | |
| Berlin am 7. März auf der Münchener Biennale gezeigt und im April in Athen. | |
| Das Projekt „Once to be realised“ und beruht auf dem Nachlass von Jani | |
| Christou. Der Name ist seit der documenta 14 auch in Deutschland bekannt, | |
| aber die Schwierigkeiten beginnen schon mit Ort und Datum der Geburt dieses | |
| Mannes, der nur 44 Jahre alt wurde. Er starb 1970 bei einem Autounfall in | |
| der Nähe von Athen. Geboren wurde er 1926, wahrscheinlich am 8. Januar im | |
| ägyptischen Heliopolis, es könnte aber auch der 9. Januar in Alexandria | |
| gewesen sein, wo er zweifelsfrei eine englische Schule besuchte. | |
| Er lernte Klavier spielen, ging dann aber bald nach Cambridge, um sowohl | |
| bei Ludwig Wittgenstein als auch bei Bertrand Russel zu studieren. Er | |
| schloss mit einem Magister ab, die Schlüsse, die er aus den maximal | |
| konträren Denkstilen dieser beiden Fixsterne der modernen Philosophie zog, | |
| waren Ideen für Kunstwerke, die zunehmend alle Grenzen überschritten, auch | |
| die der Musik. | |
| Antike Tragödien, metaphysische Spekulationen und theatralische Aktionen | |
| überlagern sich in einer Reihe notierter Werke, die alle eher Konzepte als | |
| abgeschlossene Kompositionen sind. Heute sind darüber hinaus noch etwa 130 | |
| weitere Entwürfe und Skizzen für mögliche Stücke zugänglich geworden. | |
| ## „Neue Musik“ neu vermessen | |
| In Zusammenarbeit mit dem „Biennale“ genannten Münchener Festival für | |
| Musiktheater hat die Deutsche Oper versucht, diesen Schatz zu heben mit | |
| Kompositionsaufträgen für die Ausführung oder eigne Interpretation solcher | |
| Vorlagen. Eine Aufgabe für Generationen, mitgewirkt haben: [1][Christian | |
| Wolff], 1934 in Nizza geboren, seit 1941 in den USA lebend und noch im | |
| Umfeld von John Cage aufgewachsen, dann die 1945 geborene Koreanerin | |
| Younghi Pagh-Paan, gefolgt von [2][Beat Furrer], [3][Olga Neuwirth] und dem | |
| Palästinenser Samir Odeh-Tamimi, 1954, 1968 und 1970 geboren, und als | |
| Jüngste Barblina Meierhans, 1981 in der Schweiz geboren. | |
| Sie alle haben mit ihren Werken das Feld dessen abgesteckt, was heute „Neue | |
| Musik“ heißt, weil es keinen gemeinsamen Begriff für die Vielfalt dieses | |
| minoritären Segments öffentlich geförderter Kultur gibt. Die dafür | |
| reservierten Preise und Festivals sind kaum noch zu zählen, was fehlt, ist | |
| ein verbindlicher Rahmen ästhetischer Kategorien, über die sich produktiv | |
| streiten ließe. Der Nachlass von Jani Christou füllt diese Lücke aus. „Once | |
| to be realised“ ist kein Wettbewerb, sondern eine fast drei Stunden lange | |
| Reise ins Innere unserer Wahrnehmung der Welt. | |
| Sie verlangt viel. Für Christou gab es auch die Grenze zwischen Publikum | |
| und Ausführenden nicht mehr. Man muss nachts im kalten Nieselregen vor dem | |
| Restaurant der Oper stehen und einer Frau zusehen, die einen Gedanken von | |
| Christou über Anfang und Ende der Zeit dirigiert, auf Englisch zu hören aus | |
| zwei Lautsprechern, beleuchtet vom Licht eines Mobiltelefons. Danach | |
| Aufwärmen im Restaurant, vor den Fenstern winken Passanten hinein, am | |
| Barklavier keucht eine Tänzerin, ein Schlagzeuger drischt auf eine Trommel | |
| ein, ein Kammerensemble spielt ein paar verzagte Töne. | |
| ## Wir wandern durch labyrinthische Gänge | |
| Es lohnt sich nicht, im Programmzettel nachzuschauen, wessen Stück gerade | |
| gespielt wird. Alles ist im Fluss, auf individuelle Absichten und | |
| künstlerische Motive kommt es nicht mehr an. Wir wandern durch | |
| labyrinthische Gänge in den technischen Teilen des Gebäudes, das vor 60 | |
| Jahren nach den Plänen des Architekten Fritz Bornemann gebaut wurde. Auch | |
| er spielt mit, es ist sein Schauplatz, aus einer Toreinfahrt für schwere | |
| Lastwagen rennen schreiend Leute auf uns zu, Männer in schwarzen Anzügen | |
| blasen in schaurig dröhnende Stahlrohre, dirigiert von der Dirigentin des | |
| Anfangs. | |
| Touristinnen schwatzen und lesen sich vor, was auf Aushängen an der Mauer | |
| steht, dann erreichen wir die Tischlerei. Zikaden zirpen, man kann sich auf | |
| einer breiten Treppe hinsetzen und Bornemanns Architektur betrachten. Auch | |
| das gehört zur Aufführung, die hier fortgesetzt wird. | |
| ## Einfach schön | |
| Frauen und Männer treten auf, mal elegant, mal gewöhnlich gekleidet. Schon | |
| der Klang ihrer Schritte ist ein Ereignis. Es sind die Mitglieder des | |
| Ensembles „dissonArt“ aus Thessaloniki, des Kammerchores „Cantando Amont�… | |
| aus Graz und der Tanzgruppe „Xorus/Plain People.“ Sie sprechen Sätze, | |
| singen Töne, spielen Instrumente, tanzen und posieren. Hörbare und | |
| sichtbare Elemente theatralischer Szenen stellen immer neue, überraschende | |
| Beziehungen her, die keine Botschaften verbreiten, sondern einfach nur | |
| schön sind. Es gibt kein besseres Wort dafür. | |
| Der griechische Regisseur Michail Marmarinos hat dieses sehr unterhaltsame | |
| Spiel inszeniert. In Bornemanns Tischlerei hört es deswegen irgendwann mal | |
| auf. Es gibt Applaus, zu Ende ist es damit jedoch nicht. Die Fortsetzung | |
| folgt auf dem Heimweg. Die Lichter fahrender Autos, das Quietschen der | |
| Rolltreppe und das Rumpeln der U-Bahn: Auch sie sind jetzt ein Denkmal für | |
| Jani Christou, just to be realised. | |
| 28 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Niklaus Hablützel | |
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