| # taz.de -- Sergei Loznitsa über Geschichte im Film: „Du bist Henne, Hahn un… | |
| > Sergei Loznitsa macht Filme ohne Helden. Der ukrainische Regisseur | |
| > spricht über Kritik, Russland und seinen Film „Maidan“. | |
| Bild: Filmstill aus Sergei Loznitsas „Maidan“. | |
| taz: Herr Loznitsa, stimmt es, dass Ihr Dokumentarfilm „Maidan“ von | |
| Aktivisten der Protestbewegung in der Ukraine als zu distanziert kritisiert | |
| wurde? | |
| Sergei Loznitsa: Einige haben ihn kritisiert, andere haben ihn gelobt. Das | |
| ist doch toll: Wir haben so lange in einem Land gelebt, in dem nur eine | |
| Meinung galt – alle anderen konnte man nur im Gefängnis vertreten. Jetzt | |
| darf diskutiert werden. | |
| Ihr Film besteht fast ausschließlich aus starren, unkommentierten Totalen, | |
| die Sie und ihr Kameramann Serhiy Stetsenko während der Proteste auf dem | |
| titelgebenden Platz in Kiew aufgenommen haben. Ging es Ihnen um | |
| Objektivität im Angesicht von aufgepeitschten Emotionen und Gewalt? | |
| Kann es eine objektive Position gegenüber der Geschichte geben? Fakten sind | |
| objektiv: Menschen wurden verletzt, Menschen starben, der Präsident der | |
| Ukraine verließ das Land. Das sind Fakten, der Rest sind Interpretationen. | |
| Man nimmt eine Position ein, aufgrund von Schlüssen, die man aus Fakten | |
| zieht. Aber Sie haben recht: Mit meinem Film will ich nicht interpretieren, | |
| das sollen die Zuschauer tun. Zugleich stimmt das natürlich nicht wirklich: | |
| Ich wähle ja den Bildausschnitt, bestimme die Struktur, zeige manche | |
| Episoden und schneide andere raus. | |
| Sie verzichten in „Maidan“ auf Protagonisten, Einzelne werden nicht aus der | |
| Masse hervorgehoben. Was ist der Grund dafür? | |
| Ich sehe die Ereignisse rund um den Maidan wie eine griechische Tragödie. | |
| Am Anfang steht eine Gruppe von Menschen, der Chor, aus dessen Gesang sich | |
| das Drama ja historisch entwickelt hat. Er nimmt gewissermaßen die | |
| objektive Position der Masse ein. Der Chor in „Maidan“ stellt die Frage | |
| nach der Würde des Volkes. Und er weigert sich, die Bühne zu verlassen, bis | |
| diese Frage geklärt ist – zwar nicht mit den Göttern, aber den herrschenden | |
| Autoritäten. So sehe ich das, weil ich die europäische Kultur gewissermaßen | |
| mit der Muttermilch aufgesogen habe. Ägyptische Filmemacher, die einen Film | |
| über die Ereignisse am Tahrirplatz machen, haben wahrscheinlich andere | |
| Referenzen. | |
| Sie gehen sehr weit in die Vergangenheit. | |
| Ein anderes Beispiel: Manchmal hatte ich auf dem Maidan das Gefühl, dass | |
| die Protestierenden intuitiv wussten, was zu tun ist. Warum? Vielleicht | |
| weil sie es aus Filmen kannten. Ukrainer sind sehr gut auf so eine | |
| Situation durch sowjetische Filme über Lenin und die Revolution von 1917 | |
| vorbereitet: Wie baut man einen Molotowcocktail? Wie erobert man einen | |
| Raum? Und nicht zuletzt: Wie wird man zum Helden? | |
| Durch die starren Einstellungen kommen einem auch Vergleiche mit der | |
| Geschichte der Malerei in den Sinn. | |
| Sicher. Delacroix und besonders auch die kleinteiligen Bilder von Brueghel. | |
| Ich hätte mir tatsächlich manchmal gewünscht, der Film wäre mit einer | |
| Kamera mit höchstmöglicher HD-Auflösung gedreht worden, damit man so viele | |
| Details wie möglich erkennt. | |
| Lieber hätte ich auf 35 oder gar 70 Millimeter gedreht. Das wäre großartig | |
| gewesen! Ich war übrigens überrascht, dass so gut wie keine professionellen | |
| Filmemacher außer mir auf dem Platz gedreht haben. Was für eine vertane | |
| Chance! „Maidan“ hat etwas mehr als 100.000 Euro gekostet; wenn man die | |
| Ereignisse im Nachhinein für einen Spielfilm rekonstruieren wollte, müsste | |
| man dutzende Millionen ausgeben: tausende Statisten, Explosionen in der | |
| Mitte einer europäischen Hauptstadt und so weiter. Das wäre teuer. Auch für | |
| Anthropologen und andere Wissenschaftler wäre es doch wahnsinnig spannend | |
| gewesen, zum Platz zu kommen. Ich meine, wann bekommt man das nächste Mal | |
| wieder die Gelegenheit, solch eine Revolution live zu beobachten? | |
| Wie ein Wissenschaftler versuchen Sie auch in ihren anderen | |
| Dokumentarfilmen eine Art übergeordnete, abstraktere Ebene zu finden. Sie | |
| verzichten ja nicht nur in „Maidan“ auf den subjektiven Blick eines | |
| Protagonisten, sondern nehmen eine gewissermaßen „objektive“ Position ein. | |
| Ich habe das selbst erst nach einem halben Dutzend Filmen bemerkt. Filme | |
| ohne Helden zu drehen, war gar nicht mein Plan. Vielleicht liegt das daran, | |
| dass ich mit meinen Werken etwas über die gesamte Bevölkerung aussagen | |
| will. Wenn ich einen einzelnen Protagonisten habe oder auch eine Gruppe von | |
| Menschen, geht es immer um spezifische Meinungen. Mir geht es aber um den | |
| Sprung in eine andere Dimension, eine andere Qualität. Das Problem ist | |
| auch: Wenn ich einen einzelnen Protagonisten habe, einen Helden, dem ich | |
| folge, dann beeinflusse ich ihn dadurch und er beeinflusst mich. Wie kann | |
| man da wahrhaftig bleiben? | |
| Inhaltlich geht es in vielen Ihrer Werke, auch in den beiden Spielfilmen, | |
| um die Geschichte und ihren Einfluss auf die Gegenwart. Ich musste immer | |
| wieder an einen berühmter Satz von Faulkner denken: „Das Vergangene ist | |
| nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“ Das scheint mir fast so etwas | |
| wie ein Motto Ihrer Arbeit zu sein. | |
| Absolut. Die Vergangenheit ist immer präsent. Das gilt besonders für | |
| Russland beziehungsweise die ehemalige Sowjetunion, wo 1945 anders als in | |
| Deutschland ja keine Aufarbeitung der Geschichte eingesetzt hat. In | |
| gewisser Weise ist die Zeit hier seit 1917 eingefroren: Es gibt immer noch | |
| keine Mittelklasse, keine Rechtssicherheit, als Person bist du nichts, es | |
| zählt nur die Nation. Alle diese Ideen aus der Zeit Stalins kommen in den | |
| letzten Jahren wieder, wo Russland sich wieder stärker fühlt und durch die | |
| Einnahmen aus den Bodenschätzen mehr Geld hat. | |
| Gerade beschäftigen Sie allerdings die historischen Verbrechen | |
| Deutschlands. Sie wollen einen Film drehen über das Massaker von Babi Jar, | |
| bei dem 1941 in Kiew 33.000 Juden von Sondereinheiten der SS ermordet | |
| wurden. Wie auch schon in Ihrem letzten Spielfilm, „Im Nebel“, geht es also | |
| um jene „Bloodlands“ zwischen Hitlers Deutschland und der Sowjetunion | |
| Stalins, über die der Historiker Timothy Snyder 2010 sein vielbeachtetes | |
| gleichnamiges Buch geschrieben hat. Haben Sie es gelesen? | |
| Ich habe Snyder sogar schon mein Script geschickt. Er hat es gelesen und | |
| Anmerkungen gemacht. Mir ist es wichtig, historisch korrekt zu arbeiten. | |
| Ich stehe auch in Kontakt mit Jonathan Littell. Wir interessieren uns für | |
| die gleichen Themen. Ich glaube, in dieser Region geschieht gerade wieder | |
| etwas Gefährliches für die Welt. Wir müssen verstehen lernen, wie es im 20. | |
| Jahrhundert zu den unvorstellbaren Grausamkeiten auf diesem Boden kommen | |
| konnte. Wie Schritt für Schritt der Weg in die Barbarei gegangen wurde, von | |
| der es irgendwann kein Zurück mehr gab. Es ist wichtig, jetzt darüber | |
| nachzudenken, wenn gerade etwa im Donezk die Situation kippt. Jetzt kann | |
| man vielleicht noch mit klarem Kopf denken. Es geht auch um die Frage der | |
| Verantwortung: Ist der Arbeiter in der Firma, die das Gas für die | |
| Konzentrationslager herstellte, mitverantwortlich am Holocaust? Die Antwort | |
| auf diese Frage beantwortet auch, warum meine Filme keine Protagonisten | |
| haben: Wir leben in einer Welt, in der es immer diese Art von Diffusion von | |
| Verantwortung gibt. Wo man Teil einer Kette ist, bei der man nicht | |
| unbedingt weiß, was am Ende steht. Also muss man auf eine höhere Ebene | |
| springen, um überblicken zu können, was passiert. | |
| Das ist schwierig bei einem so konkreten Medium wie Film. Ist es nicht | |
| einfacher, einer Figur zu folgen? | |
| Das glauben wir nur, weil die Filmgeschichte das so vorgibt. Wir sind es | |
| gewohnt, im Kino wie ein Küken der Henne hinterherzulaufen beziehungsweise | |
| dem Helden oder der Heldin. Vergiss diese Henne. Du bist als Zuschauer | |
| selber die Henne, der Hahn und Gott! Du musst nur der Linie folgen, die ich | |
| als Filmemacher gezeichnet habe. Das ist wie bei einer Schnitzeljagd. Mich | |
| interessiert es, diese Fährten zu legen. Ich denke auch, dass das Kino sich | |
| in diese Richtung entwickelt. Es gibt genug alte, langweilige Geschichten | |
| über Helden. Es ist Zeit für komplexere Erzählungen. | |
| 7 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Sven von Reden | |
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