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# taz.de -- Ausstellung im Hamburger Kunstverein: Der Herzschlag der Blockade
> Das Projekt „900 und etwa 26.000 Tage“ verhandelt die Blockade Leningrads
> im Zweiten Weltkrieg. Dabei fiel den russischen Künstlern mehr ein als
> den deutschen.
Bild: Nicht durchweg zwingend: Blick in die deutsch-russische Ausstellung „90…
HAMBURG taz | Der Schlag des Metronoms ist das Schlimmste: Wie ein
Herzschlag, tickender Wächter über Leben und Tod, hallt er durch den Raum;
und offenbart, wie Wissen ein harmloses Geräusch verwandeln kann: An jeder
Blindenampel kann man dieses Ticken hören, wer Klavier lernt, kennt es. Und
doch: Wer durch das Projekt „[1][900 und etwa 26.000 Tage]“ erfährt, dass
dieser Schlag während der Belagerung von 1941 bis 1943 Leningrad beschallte
und sich bei drohendem deutschen Bombardement beschleunigte, der wird auch
70 Jahre später hineingerissen ins Grauen dieses systematischen Aushungerns
einer 2,5-Millionen-Stadt.
Rund die Hälfte der Bewohner, 1,2 Millionen Menschen starben in jenen drei
Jahren, denn über den zugefrorenen Ladoga-See kamen viel zu wenig
Lebensmittel. Ob die Sowjetunion genug tat, um die eigene Bevölkerung zu
retten, ist nicht ausdiskutiert, auch in Russland nicht. So sagt mancher
russische Historiker, Hitler hätte einer etwaigen Kapitulation Leningrads
niemals stattgegeben. Die Hamburger Ausstellung, Resultat einer Begegnung
von Künstlern aus St. Petersburg, Moskau und Hamburg, spricht aber teils
eine andere Sprache.
## Helden ohne Leidensgeschichte
Wie kann modernes Gedenken aussehen? Darüber sollten die Beteiligten
nachdenken, und das aus gutem Grund: In Russland gelten die
Leningrad-Überlebenden offiziell immer noch als Helden ohne individuelle
Leidensgeschichte. In Deutschland dagegen spricht man wenig über diese
Facette des verbrecherischen Krieges. In der Folge formuliert die russische
Seite in der Ausstellung vor allem Zweifel an der eigenen
Geschichtsschreibung. Die verschwieg beispielsweise, wie knapp bemessen die
Essensrationen für die Durchschnittsbevölkerung waren: 125 Gramm Brot gab
es pro Tag, die Leute aßen Tapetenkleister oder kochten Suppe aus Vaseline
und Glyzerin.
Von solchen Hunger-Exzessen erzählt Anastasia Kizilovas fiktives
Leningrad-Tagebuch, das immer wieder das Wort „Hunger“ buchstabiert. Es
liegt auf einem Tisch neben den kärglichen Blättern, Körnern, Schalen und
Ölen, wie sie die Leute damals aßen; Kizilova schlägt vor, das alles in
einer performativen Arbeit auf seinen Nährstoffgehalt zu untersuchen.
Auch dass die genaue Zahl derjenigen, die der „Blokada“ zum Opfer fielen,
immer noch unklar ist, schockiert: Akribisch hat Natalia Tikhonova die in
den Nürnberger Prozessen genannten Zahlen mit Schätzungen moderner
Historiker verglichen und so das durchschnittliche Sterbetempo errechnet:
Jede Stunde 50 Tote, kam dabei heraus, alle 72 Sekunden einer. Die nun so
lässig an die Wand des Hamburger Kunstvereins geschmierte Rechnung könnte
die Kluft zwischen Zahl und Individuum nicht klarer zeigen.
## Unter Tränen erzählt
Wie als Antwort haben Alexandr Androsov und Vadim Zaitcev ein
Video-Interview mit einer Überlebenden in die Nähe gehängt: 1941 war Vera
Romkina sieben Jahre alt. Unter Tränen erzählt sie nun, dass sie nur
überlebte, weil ihre Mutter sie hinderte, die ganze Brotration auf einmal
zu essen. Sie spricht in Antworten, und der Betrachter steht, wo man den
Fragenden vermuten würde – dialogisches, interaktives Gedenken, das packt.
Hunger und Kälte: Das waren die beiden Todesengel im belagerten Leningrad,
dazu die Dunkelheit, bis auf wenige Stunden täglich von den Behörden
befohlen: zum Schutz vor den Kanonen der Wehrmacht. Um einander nicht
ständig anzurempeln, hefteten die Leute sich mit Leuchtfarbe bemalte Knöpfe
an die Mäntel.
Vadim Leukhin hat sie nachgebildet und Fotos gemacht, so poetisch wie
gespenstisch. Androsow und Zaitcev wiederum plädieren für die Beschallung
des öffentlichen Raums mit den Fakten jedes Belagerungstages. Dzina Zhuk,
Semen Katz und Nicola Spesivtsev haben ein Theaterstück über Sowjet- und
Nachsowjet-Kader verfasst, das man unter anderem auf Hamburgs größtem
Friedhof in Ohlsdorf spielen könnte.
Gedacht ist das Projekt als künstlerische Initialzündung für ein
entmumifiziertes Gedenken. In Russland, sagt Haim Sokol, Dozent an der
Moskauer Rodschenko-Kunstschule, sei das undenkbar: Da werde der
Heldenmythos wieder hervorgeholt. Im geschützten Raum von Kunstakademien
werde man die Schau aber zeigen.
## Unterentwickeltes Wissen auf deutscher Seite
In Hamburg ist interventionistische Kunst zwar möglich, aber das Interesse
am Thema fehlt: Weder in Hamburg, Partnerstadt St. Petersburgs, noch
anderswo in Deutschland existiert etwa ein Mahnmal für die Leningrader
Hungertoten. Das Wissen ist hierzulande unterentwickelt, fast
gleichgültig-abstrakt – wie die Beiträge deutschen Künstler, die oft auf
der Meta-Ebene verharren.
Alice Peragine zum Beispiel hat die russische Dolmetscherin gebeten, die
beim Vorab-Treffen der Künstler übersetzten Gespräche zu rekapitulieren und
ins Englische zu übersetzen; ein formalistischer Ansatz ebenso wie das
virtuelle Archiv von Clara Wellner Bou: professionell, fast lieblos ist da
von lokalem Durchqueren und der Dekonstruktion von Historizität die Rede.
Auch Judith Raus Versuch, das Musical „Das Wunder von Bern“ mit der
Geschichte der Blockade zu überlagern, wirkt seltsam ungebrochen, ja:
flach.
Keine der deutschen Arbeiten spricht über das eigene Entsetzen, das der
Besuch des Leningrader Piskarjowskoje-Gedenkfriedhofs ausgelöst haben mag.
Keiner thematisiert das eigene Unwissen und dessen Ursachen. Die deutschen
Beiträge zu „900 und etwa 26.000 Tage“ wirken, als ob es um ein beliebiges
Thema gegangen wäre.
Das wäre in einer Ausstellung mit elitär-konzeptueller Kunst nicht weiter
aufgefallen. Angesichts der russischen Künstler aber, die mit starken
Appellen, Vereinnahmungen und Symbolen arbeiten, wirkt der deutsche Part
umso schwächer.
28 Oct 2015
## LINKS
[1] http://www.kunstverein.de/ausstellungen/aktuell/20151016_LB.php
## AUTOREN
Petra Schellen
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