| # taz.de -- Russische Avantgarde in Berlin: Ein Jahrzehnt der Utopie | |
| > Abheben war erwünscht, Mut zur Abweichung auch. In Berlin erinnert eine | |
| > Ausstellung an „WChUTEMAS“, ein Labor der Moderne in Moskau. | |
| Bild: Ein Entwurf von A.Wesnin zur Fassadengestaltung des WChUTEMAS-Gebäudes a… | |
| Eine „Fliegende Stadt“ in den Wolken, ein 56-stöckiges Hochhaus, das als | |
| „Denkmal für Ch. Kolumbus in Santo Domingo“ gedacht war, oder auch die | |
| „Architektonische Erscheinung eines Gemeinschaftshauses“, das sich in | |
| verwickelter Schachtelung wie eine Sichel in den Himmel bäumt. Solch | |
| fantastische Visionen einer neuen Architektur konnten ab 1920 nur in | |
| Russland erdacht werden. | |
| Das postrevolutionäre Land der Sowjets war auf Utopie gepolt und einer | |
| hoffnungsfrohen Zukunft zugewandt. Der gesellschaftliche Umbruch erzeugte | |
| eine geradezu überschäumende Fantasie bei Architekten und | |
| Architekturschülern. Alles schien möglich, irgendwann, irgendwie – selbst | |
| eine Stadt in den Wolken. | |
| Der Ort, wo diese kühnen Visionen eines neuen Bauens entwickelt wurden, | |
| hieß WChUTEMAS. Es ist die Kurzformel für „Höhere Künstlerisch-technische | |
| Werkstätten“. 1920 durch Dekret der Sowjetregierung in Moskau gegründet, | |
| sammelte sich an der Schule so gut wie alles, was in der russischen | |
| Avantgarde Rang und Name hatte: El Lissitzky, Naum Gabo, Moissej Ginsburg, | |
| Gustav Klucis, Wassily Kandinsky, Ljubow Popowa, Alexander Rodtschenko, | |
| Wladimir Tatlin oder Alexander Wesnin und andere mehr. | |
| ## Architekten der Zukunft | |
| Die WChUTEMAS gliederten sich in acht Fakultäten. Der Martin-Gropius-Bau in | |
| Berlin zeigt nun Einblicke in die Architekturausbildung. Die Entwürfe – vor | |
| allem Zeichnungen und einige Modelle – stammen aus dem Staatlichen | |
| Schtschussew-Museum für Architektur in Moskau. Hier wurde die Ausstellung | |
| entwickelt. Auch der Namensgeber des Museums, Alexej Schtschussew, der | |
| Schöpfer des Lenin-Mausoleums, unterrichtete an den WChUTEMAS. | |
| Die Ausrichtung der Schulen war nicht durchweg aufs Avantgardistische oder | |
| streng Konstruktivistische festgelegt. Vielmehr gab es permanent Streit, | |
| welche Rolle die Kunst in der neuen Gesellschaftsordnung denn nun haben | |
| sollte. Die Fronten liefen zwischen den Anhängern der Produktionskunst, die | |
| die Totalgestaltung der Umwelt als Aufgabe sahen, und den Vertretern der | |
| „reinen“ Kunst. | |
| ## Zehnmal größer als das Bauhaus | |
| Die WChUTEMAS sind immer wieder mit dem deutschen Bauhaus verglichen | |
| worden. Der Vergleich hinkt, aber beiden Schulen gemeinsam ist, dass es | |
| einen für alle Studenten gemeinsamen ein- bis zweijährigen Grundkurs gab, | |
| bevor es sich zu spezialisieren galt. Anders als beim Bauhaus, waren die | |
| WChUTEMAS eine ungleich größere Institution. Mit 2.000 Studenten fing der | |
| Unterricht an, in Weimar am Bauhaus waren es 1919 gerade einmal 120. | |
| Außerdem fanden die WChUTEMAS in der Sowjetunion bald Nachahmer – etwa in | |
| St. Petersburg (Leningrad). | |
| Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zeigt vor allem Schülerarbeiten. Doch | |
| sind diese Materialien aus dem Unterricht – ob abstrakte Übungen zu Farbe | |
| und Form, Volumen und Gewicht oder die ausgefeilten Diplomarbeiten – von | |
| erstaunlicher Qualität und Eingebungsgabe. Die Arbeiten der Lehrer fallen | |
| in ihrer Machart sicher professioneller aus, haben aber nicht die Fantastik | |
| der Schüler, die bisweilen Architekturen und Städte entwerfen, die sich um | |
| ihre Unbaubarkeit nicht scheren und – etwa bei G. Krutikow – wie | |
| Raumschiffe im All schweben. | |
| Zwar entstanden auch an den WChUTEMAS recht traditionelle Entwürfe zu | |
| Gartenstädten oder klassizistischen Prunkbauten. Aber den Avantgardisten | |
| unter den Lehrern ging es mit Radikalität darum, die Grundlagen des Bauens | |
| neu zu entdecken. Dementsprechend hieß ein von Nikolaj Ladowski | |
| entwickeltes Propädeutikum an der Architekturfakultät auch schlicht „Raum�… | |
| ## Sport und Propaganda | |
| Von den Grundlagen bis zu Planungen für konkrete Bauaufgaben durch die | |
| Studenten reichte die Spanne der Entwicklung innerhalb der Ausbildung an | |
| den WChUTEMAS. Das Paradebeispiel in der Ausstellung ist das Bauprojekt | |
| „Internationales Rotes Stadion“ an den Moskauer Sperlingsbergen (später | |
| Leninbergen), eines der ambitioniertesten Projekte für Sport, Volksfeste | |
| und Propaganda während der 20er Jahre in Russland. Am siegreichen | |
| Wettbewerbsentwurf von Nikolaj Ladowski hatten seine Studenten | |
| mitgearbeitet. | |
| Ein interessanter Aspekt am Projekt des Roten Stadions ist, wie die | |
| Studentenarbeiten bewertet wurden. Exemplarisch zeigen die ausgestellten | |
| Unterlagen des Studenten Michail Petrowitsch Korshew, dass sein Entwurf im | |
| Kollektiv diskutiert und beurteilt wurde. Das frühere | |
| Meister-Schüler-Verhältnis der Akademieausbildung wurde also vom | |
| kollektiven Urteil der Lehrer abgelöst. Korshews Entwürfe sind recht | |
| geometrisch vom Grundriss her gedacht. Details und Wirkung auf die Massen | |
| sind zu wenig bedacht, erfährt man aus den dokumentierten Protokollen der | |
| Diskussionen. | |
| Das Stadion wurde schließlich nie gebaut. Der unsichere Baugrund und | |
| Geldprobleme stoppten das Projekt. Auch die WChUTEMAS (ab 1927 WChUTEIN, | |
| -IN für Institut) wurden 1930 aufgelöst und die Fakultäten auf andere | |
| Schulen verteilt. Fortan war der stalinistische Zuckerbäckerstil im Bauen | |
| oberste Maxime. Ähnlich wie beim Bauhaus war es die Politik, die den | |
| WChUTEMAS den Garaus machte. Die Architekturentwürfe an den WChUTEMAS | |
| zeigen jetzt noch einmal, was alles möglich ist, wenn man Architektur sich | |
| neu erfinden lässt. | |
| 8 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Ronald Berg | |
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