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# taz.de -- Libanesischer Künstler in Hamburg: Der sprechende Ziegenhaarteppich
> In der Ausstellung „Fragments/Bruchstücke“ in Hamburg verknüpft der
> Libanese Rayyane Tabet Familienchronik mit Weltgeschichte.
Bild: Zettelwirtschaft: Rayyane Tabets gepauste Porträts namenloser Steine
HAMBURG taz | Rayyane Tabet ist ein Spurensucher. Einer, der planvoll
vorgeht und auch wieder nicht. Denn sein Plan besteht im Ertasten von
Spuren, Ab- und Umwegen, die er im Zuge seiner quasiarchäologischen
Recherchen findet. Und weil sich dieser 1983 geborene Libanese konsequent
auf den Pfaden künstlerischer Intuition bewegt, kann man nicht logisch
erklären, wie seine aktuelle Ausstellung im Hamburger Kunstverein
funktioniert.
Klar ist nur, dass diese Schau, die Privat- und Weltgeschichte verwebt, mit
Kolonialismus zu tun hat. Alles begann mit einem deutschsprachigen Buch,
das Tabet als Junge bei den Großeltern fand. Es hieß „Tell Halaf“, und
daneben lag das Foto eines Mannes mit Schlange in der Hand – sowie das
eines unbekannten Herrn.
Später erfuhr er, dass der eine Tabets Urgroßvater Faek Borkhoche war und
der andere ein deutscher Diplomat und Archäologe namens Max von Oppenheim.
Den sollte Borkhoche im Auftrag der französischen Besatzer ab 1929 bei
seinen Ausgrabungen in Syrien ausspionieren, damit er nicht heimlich für
die Deutschen Militärkarten zeichne. Ein halbes Jahr hat Faek Borkhoche mit
Oppenheim gearbeitet, hat Tagebuch geschrieben und von Oppenheim Bücher und
Fotos geschenkt bekommen, die den Ausstellungsbesucher so unvermittelt
treffen wie einst den jungen Tabet.
Und Tabet erzählt mehr: Die Geschichte vom Ziegenhaarteppich, den Beduinen
seinem Urgroßvater damals schenkten und der so lange geteilt und
weitervererbt werden sollte, bis er verschwände. So geschah es: Kinderlose
behielten größere Stücke, Kinderreiche kleine, und was er sich
zusammenleihen konnte, hat Rayyane Tabet als Genealogie an die Wand
gehängt.
Für den 34-jährigen Tabet symbolisiert der einst 20 Meter lange Teppich
zugleich den Pfad seiner Recherche, der auch zu den „Bisht“-Mänteln der
Beduinen führt, die man durch Stangen in Zelte verwandeln kann. Diese
Falttechnik hatten Ende des 19. Jahrhunderts Russen, Franzosen, Deutsche,
Amerikaner übernommen, als sie im Maghreb und der Levante wüteten und –
zynische Wendung – auch die Freiheit der Beduinen bedrohten.
## Koloniales Denken
Einige dieser Militärzelte hat Tabet als riesige Vorhänge ins Kunsthaus
gehängt. Und ob nun assoziiert oder real: Die Parallele zwischen ihnen und
den Bisht-Mänteln ist frappierend. Dazu hat er Bücher und Karten aus der
Feder Oppenheims gelegt, der die grenzüberschreitenden Streifgebiete der
Beduinen erforschte.
Dabei blieb auch der Beduinen und der arabischen Kultur so gewogene Max von
Oppenheim dem kolonialistischen Denken verhaftet. Denn als er 1899 einen
3.000 Jahre alten aramäischen Palast am syrischen Siedlungshügel „Tell
Halaf“ fand – darunter 40 Basaltfiguren nebst „Venus-Göttin sowie fast 2…
Orthostaten“, erlag er der Versuchung, nur die Hälfte der Originale in
Aleppo zu belassen und von den anderen, nach Berlin entführten Werken nur
Abgüsse.
Das Berliner Pergamonmuseum wollte die Sachen dann aber nicht haben, sodass
Oppenheim ein eigenes Museum baute. Das wurde 1943 von Bomben zerstört,
wobei die Basaltskulpturen in 27.000 Splitter zerbarsten – ausgerechnet im
angeblich sicheren Europa. Die Splitter wanderten in den Keller des
Pergamonmuseums, wurden von 1990 bis 2001 restauriert, wobei die Kopien des
bis heute intakten Museums in Aleppo halfen.
## Berührende Galerie der Namenlosen
Übrig blieben Steine, die man nicht zuordnen konnte. Um diesen Relikten
verlorenen Wissens Würde und Bedeutung zu verleihen, hat Tabet sie jetzt
mit Kohlestift auf Papier gepaust und eine deckenhohe, eigenartig
anrührende Galerie der Namenlosen geschaffen.
Davor liegen Basaltplatten, die zusammen das Volumen besagter
„Venus“-Skulptur ergäben. Die Steine stammen aus der letzten Basalt-Mine
Syriens und wurden illegal aus dem Kriegsgebiet gebracht, und ja,
Bestechung gab es auch; hat alles ein ungenannter Sponsor bezahlt.
In einer klugen Mimikry ist Tabet hier in den Mantel des Kolonisatoren
geschlüpft, hat dem Nahen Osten Material gestohlen und die Praktiken der
einstigen Kolonialherrn gespiegelt. Und da das ganze Projekt eins „in
progress“ ist, bleibt die Zukunft offen: Ja, der Basalt solle zurück nach
Beirut geschmuggelt werden, ist zu hören.
Aber danach? Tabet lässt es offen. Erst mal will er die Orthostaten-Reliefs
weiterbearbeiten. Etliche von ihnen sind – abermals zu Unrecht – auf
verschiedene Museen des Westens verteilt, sodass keins den Fries im Ganzen
zeigt.
## Hand konkret ans Material gelegt
Also hat sich Tabet aufgemacht, alle einzeln in London, Paris, den USA mit
besagtem Kohlestift durchzupausen. Und das nicht etwa, um Fotos zu
ersetzen. Sondern um die Hand ganz konkret ans Material zu legen, einen
Moment lang die zeitliche Distanz auf null zu setzen und in Tuchfühlung zu
gehen mit dem Bildhauer von einst.
Und was als unauffällige, der individuellen künstlerischen Erfahrung
dienende Arbeit gedacht war, entwickelt sich unversehens zur
gesellschaftspolitisch relevanten Intervention. Denn am Resultat – den
weichgezeichneten Silhouetten – sind ausgerechnet die normalerweise auf
Original-Artefakte fixierten archäologischen Museen interessiert.
Und zwar deshalb, weil sie den in alle Welt versprengten Orthostaten-Fries
nur in dieser künstlerisch überformten Version komplett zeigen können. Die
nächste Station der Schau wird daher die Abteilung für antike Kunst des
Nahen Ostens des New Yorker Metropolitan Museum of Art sein.
12 Jan 2018
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Beduinen
Schwerpunkt Syrien
Kolonialismus
Eurozentrismus
Hebron
Kunsthaus Hamburg
Kunstverein Hamburg
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Kunst
St. Petersburg
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