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# taz.de -- 100 Jahre Novemberrevolution: Die entgrenzte Gewalt
> Deutschland sollte sich an den 9. November 1918 und 1938 gemeinsam
> erinnern. Die beiden Daten verbindet die brachiale rechtsextreme Gewalt.
Bild: Ein im Krieg erbeuteter Panzer dient den Freikorps als Waffe gegen Revolu…
Berlin taz | Erna Rehtanz war 21 Jahre alt, Helene Slovek 12. Charlotte
Nagel und Martha Komorowski waren 17. Nagel war Näherin, Komorowski
Lehrling, Rehtanz arbeitete im Büro. Slovek ging noch zur Schule. Die vier
waren 1918 jung – und starben in den Monaten nach dem 9. November 1918. Sie
waren unschuldige, zivile Opfer der Gewalt der Deutschen Revolution.
Nagel wurde am 11. November 1918 auf dem Alexanderplatz versehentlich von
Revolutionssoldaten erschossen. Komorowski starb am 6. Dezember 1918 in
Berlin-Mitte in einer Straßenbahn, die in einen Kugelhagel geriet. Erna
Rehtanz wurde durch eine „verirrte Kugel“ getötet, als Regierungstruppen am
24. Dezember 1918 das Berliner Stadtschloss unter Feuer nahmen. Helen
Slovek starb in ihrem Haus nahe dem Ostbahnhof. Sie stand am Fenster, ihr
Mörder zielte und erschoss sie. Der Täter befehligte eine
Militärpatrouille, die die Straße nach linken Aufständischen durchkämmte.
Staatsanwälte sammelten sorgfältig die Beweise, um den Täter vor Gericht zu
bringen – vergeblich. Gustav Noske, der Sozialdemokrat und
Reichswehrminister, der mit den rechten Freicorps paktierte, sorgte dafür,
dass er auf freien Fuss kam.
Mehr Erfolg hatten die Ankläger im Fall Adler. Der Soldat wurde angeklagt,
weil er an der Bandenvergewaltigung der Arbeiterin Maria Lippert
teilgenommen hatte. Dieser sexuelle Angriff war so grotesk und brutal, dass
die körperliche Genesung von Maria Lippert mehrere Operationen erforderte.
Adler wurde verurteilt – doch im Gefängnis war er nur sehr kurz. Wie Kurt
Vogel, einer der Mörder von Rosa Luxemburg, „entkam“ er kurz nach Beginn
seiner Haftstrafe aus dem Gefängnis.
## Der Tag, an dem der Feind zur Bestie mutierte
Der Augenblick, in dem der Kampf brutaler und der Feind zur
entmenschlichten Fratze wurde, lässt sich genau angeben. Es war der 11.
Januar 1919, der Tag, als Regierungstruppen zum ersten Mal wehrlose
Gefangene exekutierten. Wolfgang Fernbach, 29 Jahre alt, gehörte zu den
linken Aufständischen, die das Gebäude der SPD-Zeitung Vorwärts besetzt
hielten. Fernbach sollte über die Kapitulation der Rebellen verhandeln. Er
war Parlamentär – Soldaten der Regierungstruppen ermordeten ihn in der
Dragoner-Kaserne. Fernbach stammte aus einer deutschjüdischen Familie und
war wohl eines der ersten jüdischen Opfer des deutschen Faschismus. Sein
Vater bemühte sich vergebens um die Bestrafung der Täter.
Zwanzig Jahre später, am 9. November 1938, brannten in Deutschland
Synagogen. Dem Pogrom fielen bis zu 2.000 Juden zum Opfer. Wenn das
politische Deutschland ernsthaft und kritisch über die Vergangenheit
nachdenken würde – heute wäre der Tag, um zu reflektieren, wie aus den
Hoffnungen des 9. November 1918 die Mordnacht des 9. November 1938 werden
konnte. Doch im offiziellen Gedenken sind die beiden Daten nahezu
unsichtbar. Das ist bemerkenswert. Des 500. Jahrestags der Reformation
wurde 2017 ausführlich gedacht, sogar mit einem einmaligen bundesweiten
Feiertag. Der 9. November 1918 und der 1938 werden offiziell nur mit einem
Bruchteil jener Aufmerksamkeit bedacht. Dass die SPD ausgerechnet 2018 ihre
Historische Kommission aufgelöst hat, ist ein bitterer Scherz.
Auch jenseits des Regierungsoffiziellen herrscht weitgehend Schweigen. Das
Deutsche Historische Museum zeigte anlässlich der Russischen Revolution
eine opulente Sonderausstellung – zu 1918 ist dort nur die übliche
Daueraustellung zu sehen (die, wie die SPD, einer gründlichen Erneuerung
bedarf.) Im Museum der Bundeswehr in Dresden sucht man eine
Sonderausstellung vergebens. Auch das Berliner Humboldt Forum „Geschichte
des Ortes“ hat keine Zeit, sich auf das hundertjährige Jubiläum der
Ereignisse vom 24. Dezember 1918 zu konzentrieren, als die Gardedivision
das Berliner Schloss stürmte (und dabei Erna Rehtanz tötete). Nur das
Berliner Stadtmuseum widmet 1918 eine kleine Ausstellung. Kurzum: Auch die
wichtigen Kulturinstitutionen tun erstaunlich wenig, um an diese Daten zu
erinnern.
## City-Marketing statt Erinnerung
In manchen Erinnerungsinszenierungen erscheint der 9. November 1918 als
Triumph des guten Deutschlands über seinen hässlichen Zwilling, den 9.
November 1938. In anderen dient die Erinnerung an den 9. November 1918 eher
dazu, touristisch interessante Events zu schaffen – die Revolution als
Citymarketing.
Was fehlt, ist der Versuch, die unterirdischen Verbindungen zwischen den
beiden Daten freizulegen. 1918 durften, wie derzeit zu Recht hervorgehoben
wird, Frauen erstmals wählen. Doch nur ein paar Wochen später gaben die
neuen Machthaber den Militärs freie Hand, deutsche Frauen und Kinder
hinzurichten.
1919, im ersten Jahr der Weimarer Republik, starben mehr Menschen an den
Folgen politischer Gewalt als im ersten Jahr des Dritten Reiches. Auf der
Suche nach der positiven, demokratischen deutschen Geschichte werden die
Gewaltexzesse 1918/19 allzu schnell vergessen.
## Eine Waffe im Kampf gegen AfD und Rechtspopulisten
Die Gewalt der Jahre 1919, 1933 und 1938 zu vergleichen heißt nicht, eine
gerade Linie zwischen den Ereignissen zu ziehen. Das Ende der Weimarer
Republik war in ihrem Anfang nicht zwingend vorprogrammiert. 1919 war die
Zukunft offen. Auch deshalb ist es eine vertane Gelegenheit, dass das
offizielle Deutschland diese Daten eher schamvoll beschweigt.
Aus Revolution und Gründung der Weimarer Republik lassen sich Hinweise für
heutige Krisen filtern – jedenfalls weit mehr als aus Erinnerungen an
Luther und die Reformation. Um zu verstehen, warum die Weimarer Republik
unterging und auch unsere heutige Demokratie scheitern kann, brauchen wir
eine öffentliche Erinnerungskultur, die 1918/19 nicht bloß als den „wahren
Beginn unserer Demokratie“ (Wolfgang Niess) feiert.
Wir müssen vielmehr die positiven und negativen Aspekte der Gründung der
Weimarer Republik wahrnehmen und begreifen, wie es passieren konnte, dass
drei Viertel der Deutschen 1919 demokratische Parteien wählten – und nur 13
Jahre später die Mehrheit den Heilsversprechen von Kommunisten und
Nationalsozialisten folgte.
Wenn wir dies analysieren, fällt die zentrale Rolle von Fake News und
Legenden (wie die vom Dolchstoß in den Rücken der deutschen Soldaten) ins
Auge. Dies zu erkennen ist auch eine Waffe im Kampf gegen die AfD und ihre
Versuche („Es gab keine Hetzjagd“), mit Worten und Verdrehungen Politik zu
machen.
Deshalb ist der mangelnde Wille, sich an die Revolution von 1918/19 und
ihre langfristigen Folgen zu erinnern, mehr als historische Amnesie. Es ist
ein politischer Fehler. Die beiden Jahrestage November 1918 und November
1938 hätten Anlass sein können, sich mit den Mechanismen der Ausgrenzung
von Minderheiten zu befassen. Und zu beleuchten, wie kosmopolitische Eliten
für wirtschaftliche Probleme verantwortlich gemacht wurden und
Nationalismus und Antisemitismus schließlich zu entgrenzter Gewalt führten.
## Der Antisemitismus radikalisierte sich 1918
Die Radikalisierung des Antisemitismus, die im Völkermord an den
europäischen Juden gipfelte, begann mit der gegenrevolutionären Gewalt der
Freicorps. Der Schießbefehl, den Sozialdemokraten am 9. März 1919 erteilten
(„Jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen
kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen“), zog Gewaltexzesse
nach sich. Es sollte kein Tabu sein, darauf hinzuweisen, dass der von
Gustav Noske erteilte Schießbefehl auf gezielt lancierten Falschmeldungen
über Gräueltaten linksradikaler Aufständischer fußte. So wurde im März 1919
erprobt, was in den nächsten zwei Jahrzehnten zum oft benutzten Mittel
wurde: extreme Brutalität mit Fake News und Propaganda vorzubereiten.
Weimar war keine Republik ohne Republikaner. Es war eine Republik, in der
die Demokraten zu Beginn stark waren – und am Ende den Kampf um die
Demokratie doch verloren. Wenn wir 2018 die Populisten besiegen wollen,
sollten wir uns vergegenwärtigen, wie die Gründung der Republik mit deren
Untergang zusammenhing. Und vielleicht sollten wir 100 Jahre nach der
Ausrufung der Republik auch daran denken, was dies für Charlotte Nagel,
Martha Komorowski, Erna Rehtanz, Helene Slovek und Maria Lippert bedeutet.
Es ist das Mindeste, was sie verdienen.
Aus dem Englischen Stefan Reinecke
9 Nov 2018
## AUTOREN
Mark Jones
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