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# taz.de -- Debatte Meinungsfreiheit: Lob der Selbstzensur
> Nein, man sollte nicht alles in der Öffentlichkeit sagen dürfen. Gerade
> in Deutschland weiß man: Tabus haben eine zivilisierende Wirkung.
Es gibt nicht viele Gründe, die Bild-Zeitung zu loben. Aber in einem Punkt
hat der Axel-Springer-Verlag zweifellos einen großen Beitrag zur
Zivilisierung der Bundesrepublik geleistet. Früh schon hat er sich in
seiner Satzung die "Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen" auf die Fahnen
geschrieben. Mitarbeiter und Redakteure des Hauses sind angewiesen, daran
aktiv mitzuwirken. Mit anderen Worten: Mag Bild noch so oft gegen linke
Studenten, "Sozialschmarotzer" oder "kriminelle Ausländer" gehetzt und
viele niedrige Instinkte ihrer Leser bedient haben: Antisemitismus war dort
stets tabu.
Zum Glück steht die Bild-Zeitung damit nicht allein, denn aus der Erfahrung
des Nazi-Terrors heraus ist man in Deutschland sensibel gegenüber jeder
Form von Antisemitismus geworden. So konnte das Theaterstück "Die Stadt,
der Müll und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder über 30 Jahre lang nicht
in Deutschland aufgeführt werden, weil es Proteste gab; erst im vergangenen
Jahr feierte es hierzulande Premiere. Der CDU-Parlamentspräsident Philipp
Jenninger musste 1988 von seinem Amt zurücktreten, weil er sich bei einer
Rede zum Novemberpogrom der Nazis im Ton vergriffen hatte. Die Politiker
Jürgen Möllemann (FDP) und Martin Hohmann (CDU) wurden aus ihren Parteien
gedrängt, weil man ihnen Antisemitismus vorwarf. Und weil er Martin Walsers
Roman "Tod eines Kritikers" für antisemitisch hielt, verweigerte FAZ-Chef
Frank Schirrmacher im Jahr 2002 dessen Vorabdruck im Feuilleton seiner
Zeitung. Je nach Blickwinkel konnte man all dies als Form der Selbstzensur
in Politik und Medien beklagen - oder als Beitrag zur politischen Hygiene
begrüßen.
Preis der sozialen Ächtung
Der Antisemitismus ist damit noch lange nicht aus Deutschland verschwunden.
Umfragen belegen, dass er nach wie vor existiert, und in der Anonymität des
Internets blüht auch das antijüdische Ressentiment. Nur: allzu öffentlich
darf es sich nicht mehr äußern - oder bestenfalls verdruckst und um den
Preis der sozialen Ächtung. Und das ist auch gut so.
Herrscht in Deutschland deshalb keine Meinungsfreiheit? Doch. Aber diese
Freiheit stößt dort an ihre Grenzen, wo sie die Grundrechte anderer
berührt. Deshalb gibt es Gesetze, die etwa die Leugnung des Holocausts,
Aufrufe zur Gewalt, die Verleumdung oder rassistische Hetze unter Strafe
stellen. Wer "die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der
Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird
mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft", heißt es
etwa zum Tatbestand der Volksverhetzung im deutschen Strafgesetzbuch. Man
weiß, dass der Nationalsozialismus durch antijüdische Hetzpropaganda
ermöglicht wurde. Eine zivilisierte Gesellschaft braucht deshalb
Benimmregeln, will sie nicht in die Barbarei abgleiten. Ob man das
Political Correctness oder "Leitkultur" nennt, ist zweitrangig. Wichtig ist
nur: Nicht jedes Tabu ist falsch, manches Sprechverbot durchaus angebracht.
Skandalöses Medienversagen
Es ist erstaunlich, wie diese Selbstverständlichkeit im Zuge der
Sarrazin-Debatte in Vergessenheit geraten konnte. Statt dessen ging das
rechte "Das-wird-man-doch-mal-sagen-dürfen"-Ressentiment mit dem
linksliberalen "Man-muss-doch-über-alles-reden-können"-Credo eine seltsame
Liason ein. So kam es zum skandalösen Versagen deutscher Medien angesichts
einer höchst professionellen PR-Kampagne, mit der hier ein Buch in die
Öffentlichkeit gedrückt wurde.
Erschreckend war nicht nur die Skrupellosigkeit, mit der Spiegel und Bild
zunächst die (um die Gen-Theorie entschärfte) Vorab-Auszüge aus dem Buch
von Thilo Sarrazin präsentierten. Erschreckend war auch die Naivität, mit
der öffentlich-rechtliche Talkshows dem Autor und seinen offen
rassistischen Thesen ein Forum boten. Obwohl die Bezüge zu Rassentheorien
und Mutterkreuz-Ideologie der Nazis ("mehr arische Kinder!") mehr als
offensichtlich waren, bot man ihnen ein breites Forum. Das ist Journalismus
ohne Gewissen. Als Franz Schönhuber, der Gründer der rechten Republikaner,
vor zwanzig Jahren viel vorsichtiger gegen Türken und andere Einwanderer
wetterte, konnte er noch nicht mit so viel Entgegenkommen rechnen. Insofern
markiert der Fall Sarrazin eine Zäsur.
Man sollte das Ressentiment gegen Muslime, dem Thilo Sarrazin das Wort
redet, nicht mit rationaler Religionskritik verwechseln. Wenn demnächst ein
deutscher Geert Wilders und eine neue Rechtspartei mit dezidiert
antimuslimischem Drall antreten, sollte man sich daran erinnern, wer ihnen
die Steigbügel gehalten hat.
Zähmung der Leidenschaften
Es geht in dieser Debatte beileibe nicht allein um Muslime. Sondern darum,
welche Werte diese Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhalten. Denn ein
Ressentiment kommt selten allein. Wenn öffentlich gegen eine Minderheit
gehetzt werden darf, erhalten auch andere Formen der Menschenfeindlichkeit
Auftrieb - davor warnt das Bielefelder Institut für Konflikt- und
Gewaltforschung seit Jahren. Und welche Kollateralschäden auftreten, wenn
die Dämme erst einmal brechen, auch das hat die Sarrazin-Debatte vor Augen
geführt. Plötzlich wurde da auch über "schwule Politiker" in Berlin geklagt
oder die deutsche Vergangenheit relativiert.
Dass man eine gewisse Verantwortung für den Fortgang der Debatte hat, weiß
man auch bei manchen der Medien, die sie befördert haben. Beim Spiegel
zeigte man sich zuletzt ganz erschrocken über die "sarrazinsche
Schlammflut" im Internet und den "Mob", der den Autor bei seinen Lesungen
bejubelt. Ein wenig erinnert das Magazin dabei an Goethes "Zauberlehrling",
der die Geister, die er rief, gerne wieder loswürde.
Und noch etwas: Ob Spiegel Online oder zeit.de, welt.de oder faz.net - noch
nie haben die Online-Portale der großen Zeitungen so oft davon abgesehen,
die Kommentare ihrer Leser freizuschalten, weil deren Wortwahl zu krass und
rassistisch ausfiel; viele kappten ihre Debattenforen gleich ganz. Von
"Zensur" oder "Meinungsfreiheit" war da plötzlich keine Rede mehr. Sondern
von der Verantwortung, die Leidenschaften zu zähmen. Eine späte Einsicht.
30 Sep 2010
## AUTOREN
Daniel Bax
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