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# taz.de -- Essayist Max Czollek über Chemnitz: „Eskalation mit Ansage“
> Max Czollek hält den Integrationsdiskurs für falsch. Die Gesellschaft
> brauche ein neues Modell. Er plädiert für eine „Gesellschaft der
> radikalen Vielfalt“.
Bild: Demonstrant mit Verständnisfrage
taz: Herr Czollek, [1][Spiegel Online titelte am Sonntagabend] zum
rechtsextremen Aufmarsch in Chemnitz: „Alternative für Deutschland: Wer sie
wählt, wählt Nazis“. Wie richtig finden Sie diese Formulierung?
Max Czollek: Die AfD ist keine Nazi-Partei im klassischen Sinne. Historisch
ist es unscharf, sie nationalsozialistisch zu nennen. Was ich aber sinnvoll
finde, ist, darüber nachzudenken, welche politischen Traditionen sich in
der AfD bahnbrechen. Und ich würde das als neovölkisches Programm
bezeichnen.
Was meinen Sie mit „neovölkisch“?
Es geht um Homogenität, aber diese Homogenität wird nicht mehr über „Rasse…
gedacht, wie zur NS-Zeit, sondern vielmehr über Kultur, über das Abendland,
über Religion – [2][über eine bestimmte Zuspitzung der Arroganz der
„Leitkultur“ gewissermaßen.]
Den „Leitkultur“-Begriff verwenden aber viele Politiker*innen, die nicht
der AfD angehören. Das kritisieren Sie auch [3][in Ihrem gerade
erschienenen Buch „Desintegriert euch“.] Indem Begriffe wie „Heimat“ und
„Leitkultur“ auch in linken Kontexten übernommen und normalisiert werden,
erfolgt eine Entsolidarisierung mit jenen, die von diesen Begriffen
ausgegrenzt werden, schreiben Sie. Was steht dieser Solidarität im Weg?
Ich glaube, die Antwort auf diese Frage erzählt viel über das Adjektiv
„deutsch“, welches ich in meinem Buch verwende, um die Position der
Dominanzkultur in diesem Land zu bezeichnen. Was bedeutet es, eine
„deutsche“ Perspektive zu haben? Es bedeutet, vor allem sich selbst zu
sehen und wie selbstverständlich davon auszugehen, das wäre die einzige
Perspektive, die es in diesem Land gibt. Und das betrifft nicht nur
Konservative und Rechte. Teil dieser deutschen Perspektive ist der Glaube,
man würde ohne Heimat und Leitkultur keine Mehrheiten gewinnen können.
Doch wenn man sich die demografische Entwicklung mal anschaut, stimmt das
nicht.
Meinen Sie, weil ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands einen
Migrationshintergrund hat?
Genau. [4][Das, was Sarrazin nervös macht, stimmt mich geradezu
optimistisch.] Dazu kommen noch die vielen Menschen ohne
Migrationsgeschichten oder entsprechende Diskriminierungserfahrungen, die
einfach keine Lust auf diese ganze „Heimat“-Sache haben. Es gibt ja keine
geschlossenen Blocks, deren politische Haltungen qua Identität vermittelt
sind. Ich bin überzeugt, dass ein erheblicher Teil der Gesellschaft
politisch aktivierbar wäre, wenn sich eine Linke dazu durchringen würde, zu
sagen: dies ist eine vielfältige Gesellschaft. Der Schutz der Staatsmacht
gilt für die ganze Bevölkerung. Alle gehören dazu, auch wenn sie keine Tore
schießen.
Glauben Sie, dass der rechtsextreme Aufmarsch der vergangenen Woche in
Chemnitz wenigstens helfen wird, den gesellschaftlichen Blick auf die AfD
nachhaltig zu verändern? Also weg von „besorgten Bürgern“ hin zu einer
ernsten Gefahr für unsere Demokratie?
Schön wär’s. Aber diese Gefahr hätte auch schon früher erkannt werden
können. Und wurde es nicht. Ich frage mich, warum Leute über die
Hetzjagden in Chemnitz so überrascht sind. Das ist doch eine Eskalation
mit Ansage. Nicht nur der NSU, auch die regelmäßigen Angriffe auf
Geflüchtetenunterkünfte und ihre Bewohner und Bewohnerinnen – allein 2017
wurden gut 250 solcher Angriffe verzeichnet, das ist fast ein Angriff pro
Tag.
Wird die Dimension dieses strukturellen Problems nicht auch
heruntergespielt, indem Rechtsextremismus zu einer sächsischen Sache
gemacht wird?
Rechtsextremismus ist ein gesamtdeutsches Problem. Aber speziell in Sachsen
organisieren sich Rechte seit Jahrzehnten und die regierende CDU sieht weg
oder macht sogar mit wie in Bautzen. Dieses Problem muss konkret benannt
werden. Angesichts dessen von Rufschädigung seines Bundeslandes zu
sprechen, [5][wie es Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer tut,]
halte ich für zynisch. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um über
Imageprobleme zu sprechen, sorry. Das Thema ist: Rechte machen Jagd auf
Menschen, die anders aussehen, als sie sich in ihrem rassistischen Weltbild
Deutsche vorstellen. In Sachsen.
Welche Rolle spielen bei der Radikalisierung in Sachsen soziale Probleme?
Die spielen eine immense Rolle. Gleichzeitig muss man aber auch die nicht
bewältigten politische Denktraditionen reflektieren. Und zwar nicht nur in
Ostdeutschland. Das Schockierende ist doch, dass man mit neovölkischer
Propaganda ein Fünftel der Bevölkerung mobilisieren kann. Die AfD ist in
derzeitigen Umfragen zweitstärkste Kraft in Sachsen! Frustration hin oder
her. Die Wähler*innen der NSDAP waren zum Teil sicherlich auch frustriert.
Na und? Das zentrale Problem ist, dass es für viele Deutsche offenbar keine
Scham und keine Barrieren gibt, ihr Kreuz hinter so einem Konzept zu
machen.
Als einen ersten Schritt, dieses Denken zu überwinden, nennen Sie in Ihrem
Buch die Emanzipation vom Integrationsdiskurs – die Desintegration. Würden
Sie sagen, dass dieser Diskurs, der ja ganz klar ein „Wir“ und „die
Anderen“ konstruiert, den Boden bereitet für Vorfälle wie in Chemnitz?
Ja, das Integrationsdenken kann das völkische Denken nicht verhindern. Es
erzeugt keinerlei Barriere in diese Richtung. Das zeigt sich auch am Umgang
des demokratischen Parteienspektrums mit der AfD. Es ist kein Zufall, dass
die Gegenstrategien äußerst bescheiden ausfallen.
Welche Gegenstrategien erkennen Sie da?
Auf der einen Seite gibt es die Strategie der Bagatellisierung,
Kretschmer-Style: „Das sind nur ein paar Chaoten, damit haben wir nichts zu
tun.“ Die andere Strategie ist die der Eingemeindung. Anstatt sich
konzeptionell abzugrenzen von der AfD, sollen ihre Wähler*innen nun über
ein Heimatministerium und eine linke Sammelbewegung reingeholt werden.
Ist so was überhaupt möglich?
Es braucht sehr viel Optimismus, um so etwas zu glauben. Historisch ist das
jedenfalls sehr unwahrscheinlich. KPD und SPD haben schon in den zwanziger
Jahren probiert, das völkische Denken der NSDAP in ihr eigenes Programm
einzubinden – und waren damit maximal erfolglos.
Wie könnte eine erfolgreiche Strategie aussehen?
Wir müssen die Grundpfeiler des neovölkischen Denkens weghauen –
Homogenisierung, kulturelle Dominanz. Wir brauchen neue Modelle, die
Gesellschaft nicht mehr vom Integrationsparadigma her denken. Das hat den
angenehmen Effekt, das wir damit gleichzeitig näher an die
gesellschaftliche Realität heranrücken würden. Denn in der Realität gibt es
keine dominante deutsche Leitkultur. Im Gegenteil! Die deutsche Kultur ist
unübersehbar angereichert mit Einflüssen von Migrant*innen und anderer
marginalisierter Gruppen. Was für eine langweilige Veranstaltung wäre denn
die deutsche Kunst, das Theater, die Musik ohne diese Einflüsse. Ich meine,
selbst Helene Fischer ist Russlanddeutsche.
In Ihrem Buch plädieren Sie immer wieder für einen Ort der radikalen
Vielfalt. Wie können wir diese Vielfalt, die für viele von uns existenziell
ist, verteidigen?
Wir müssen Position beziehen. „Desintegriert euch“ ist ein Versuch, all
denen, die keine Lust auf ein Deutschland nach AfD-Ideal haben, zu
kommunizieren: Lasst uns diese Gesellschaft nicht aufgeben. Lasst uns nicht
einfach sagen: ‚Was für ein kartoffeliger Mist läuft hier eigentlich?‘,
sondern dem etwas Eigenes entgegenstellen. Es ist ja nicht alles nur
Absturz. Zeitgleich mit dem Aufstieg der AfD beobachten wir ja
beispielsweise auch den Aufstieg von Migrant*innenkindern, die nun
gesellschaftliche Diskurse mitgestalten, in der Kulturbranche, an der Uni.
Die Auseinandersetzung mit den neovölkischen Deutschen ist noch nicht
verloren. Sie hat kaum richtig begonnen.
In letzter Zeit wird häufig davor gewarnt, das Heute mit den zwanziger
Jahren zu vergleichen. Was denken Sie darüber?
Na ja, es wäre ja absurd zu glauben, man würde dasselbe erleben wie damals.
Aber die Frage, wo sich Vergangenheit und Gegenwart reimen, ist zentral, um
zu verstehen, was hier gerade passiert. Diese Frage nach Kontinuität stellt
man ungern, weil man die letzten Jahre ja immense emotionale Ressourcen
investiert hat, damit man endlich wieder die Deutschlandfahnen rausholen
kann. Was derzeit auf dem Spiel steht, ist demnach für viele gar nicht so
sehr die Demokratie, sondern das Selbstbild Deutschlands. Dass die
hochgeliebte Normalisierung flöten geht, die man sich so mühsam aufgebaut
hat. Dieses Festhalten am normalisierten Selbstbild müssen wir erst mal
überwinden, damit wir überhaupt dazu kommen, die Renaissance völkischen
Denkens in diesem Land anzugehen.
6 Sep 2018
## LINKS
[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-wer-sie-waehlt-waehlt-nazis-a…
[2] /Streit-um-Leitkultur-Begriff/!5403929
[3] /Streit-um-Leitkultur-Begriff/!5403929
[4] /Neues-Sarrazin-Buch/!5532903
[5] /Michael-Kretschmer-in-Chemnitz/!5529525
## AUTOREN
Fatma Aydemir
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