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# taz.de -- Streit um Leitkultur-Begriff: Gegen die deutsche Einheit
> Thomas de Maizière vertritt die Idee einer Leitkultur. Drei junge,
> jüdische Autor*innen verwahren sich dagegen.
Bild: Wer ist wirklich gemeint mit der deutschen Leitkultur?
[1][Adorno] formulierte den Anspruch einer emanzipierten Gesellschaft so:
„… den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst
verschieden sein kann“. Heute, im Geiste eines demokratischen
Selbstverständnisses, wird noch immer und wieder diskutiert, wer „wir“ –
als Einheit – sind. Dabei bleibt nicht implizit, sondern wird ganz deutlich
gesagt, wer „wir“ nicht sind.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat vergangene Woche in der
Bild-Zeitung zehn Thesen zur Leitkultur veröffentlicht. Seinen Worten
widersprechen wir – drei junge Jüdinnen und Juden in Deutschland –
vehement.
Die Betonung nationaler Identität geht mit der Ablehnung des Fremden, des
Nicht-Identischen, der Verschiedenheit einher. Und nichts anderes schwingt
mit oder ist sogar so gemeint, wenn de Maizière schreibt, kaum ein Land sei
so sehr von Kultur geprägt wie Deutschland. Das Andere gegenüber dem
Deutschen abzuwerten, hat in Deutschland eine lange Tradition.
Derartigen Aus- und Abgrenzungen sollte widersprochen werden. Jedes Land
hat seine Kulturen. Eine Kultur undifferenziert unter „deutsch“ zu
subsumieren, heißt, nicht den Unterschied zu sehen, zwischen Wagner und
Schönberg, Heidegger und Benjamin, zwischen Thilo Sarrazin und Dunja
Hayali.
## Ohne Angst verschieden sein
Der Versuch, diese Vielfalt zu vereinheitlichen, bringt uns als
Gesellschaft ebenso wenig weiter, wie zu ignorieren, dass sich die Art und
Weise unseres Miteinanders ohnehin verändert. Dass Kultur sich verändert
und von allen, die hier leben, mitgestaltet werden darf und soll. Das ist
die Idee einer Gesellschaft der Vielen, einer aufgeklärten und
emanzipierten Gesellschaft, die sich als Demokratie versteht; einer
Gesellschaft, in der man „ohne Angst verschieden sein“ können sollte.
Wer „ohne Angst verschieden sein kann“, der darf auch ohne Angst seine
Sprachen sprechen. Der Weg zu einem besseren Zustand wäre, wenn wir
gemeinsam überlegen würden, warum wir Sprachen so unterschiedlich bewerten;
warum wir die eine Mehrsprachigkeit als Gewinn betrachten und die andere
als Defizit; warum wir Mehrsprachigkeit nicht fördern und feiern – egal vom
wem und ob Hebräisch, Russisch, Arabisch, Jiddisch, Spanisch, Türkisch oder
Englisch.
Dieser sogenannte aufgeklärte Patriotismus, der jetzt wieder „erlaubt“ sein
soll, ist kein Wunsch aller Deutschen. Es ist der Wunsch eines bestimmten
Teils der deutschen Gesellschaft. Der Teil, der in Deutschland lebenden
Menschen, die dabei ein ungutes Gefühl haben, für die das keine positive
Entwicklung ist, sind aus dem „Wir“ ausgeschlossen. Es ist ein unmöglicher
Spagat, auf der einen Seite einen aufgeklärten Patriotismus und ein darauf
basierendes Wir-Gefühl zu fordern und sich gleichzeitig als „Erben der
Geschichte“ zu verstehen.
Es ist nicht vorbei und es wird nicht vorbei sein. Wir warnen: Die jüdische
Sorge vor einem Bedeutungsverlust der Shoah und einem erstarkenden
Antisemitismus darf nicht dazu führen, sich affirmativ zu der Forderung
einer deutschen Leitkultur zu positionieren. Wir sind nicht bereit, uns
positiv auf „deutsche“ Tugenden wie Leistung, Disziplin und Ordnung zu
beziehen – diese wurden bereits ausreichend pervertiert. Wir sind nicht
Teil der jüdisch-christlichen Tradition, wir sind nicht deutsche
Leitkultur. Wir verstehen uns auch dann als Teil dieses Landes, wenn wir
diese Form des Bekenntnisses ablehnen.
Die Autor*innen sind Mitherausgeber*innen der Zeitschrift Jalta –
Positionen zur jüdischen Gegenwart
9 May 2017
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## AUTOREN
Lea Wohl von Haselberg
Max Czollek
Hannah Peaceman
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