Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Antisemitismus an Schulen: Friedenau ist überall
> Wenn jüdische Kinder und Eltern in Schulen drangsaliert werden, muss die
> Gesellschaft reagieren: mit Solidarität. Und mit Härte.
Bild: Immer mehr Fragen stellen sich, die sich nicht mit Kranzniederlegungen be…
Und da sitzen sie alle wieder: die Politiker, die jüdischen Funktionäre,
die zuverlässigen Freunde Israels und hyperaktive „Judenfreunde“. Nach
Jahrzehnten ist das Erinnern für sie eine Routineübung. Und wenn einer wie
ich sich an einem der Termine entschuldigen muss, dann kommt es ihm vor,
als hätte er den Termin nicht verpasst, so vertraut sind mittlerweile die
erinnerungspolitischen Rituale.
Der Termin im Bundestag ist für den 27. Januar im Handykalender als
Wiederholungstermin für die Ewigkeit eingetragen, die Kranzniederlegung im
Gemeindehaus ebenso. Und doch bleibt eine deutsch-jüdische Frage: Was
wollen all diese Menschen? Was suchen sie hier, auf dem Friedhof des
jüdischen Lebens? Wo findet man sie in der jüdischen Gegenwart? Im
Armutsalltag der jüdischen Alten, im Schulalltag jüdischer Kinder?
Es ist eine beträchtliche gesellschaftliche Leistung, mit der eigenen
Geschichte ins Reine zu gelangen. Der Weg dahin war ein Ringen um die Seele
dieser Gesellschaft. Und nun stehen wir am Ende dieses Wegs selbstgefällig
da und müssen unerwarteterweise nicht mehr um, sondern gegen die Schatten
der Vergangenheit kämpfen, die zur Gegenwart auf unseren Schulhöfen zu
werden drohen.
Es geht hier nicht darum, unpassende Vergleiche zu ziehen. Weder steht der
Holocaust vor der Tür noch leben wir in einer Gesellschaft, in der
Antisemitismus unseren Alltag bestimmt. Aber schon jetzt bestimmt er den
Alltag vieler unserer Schüler. Und das ist schon jetzt viel mehr, als viele
von uns je befürchtet haben. Der Alltag unserer Schulen ist die Zukunft
unseres Landes – das ist Warnung genug. Und eine Frage, die jüdische
Menschen an diese Gesellschaft richten. Es stellen sich immer mehr Fragen,
die sich nicht mit Kranzniederlegungen beantworten lassen.
## Koordinatensystem Klassenzimmer
Klassenzimmer sind Ursprungspunkte des Koordinatensystems einer jeden
Gesellschaft; wie drei Achsen treffen dort unsere Vergangenheit, unsere
Gegenwart und unsere Zukunft auf einander. Was die Presse vor Kurzem aus
einem dieser Klassenzimmer berichtete, zeigt, dass die Koordinaten
gründlich aus den Fugen geraten sind: Ein jüdischer Junge wurde [1][an
einer Berliner Schule] monatelang von Mitschülern antisemitisch
angegriffen; die Schule, die sich stolz „Schule ohne Rassismus“ nennt,
schien überfordert, den Eltern wurde nahegelegt, den Jungen abzumelden, was
sie auch taten.
Andere Schuleltern schrieben ihnen einen Brief hinterher, indem der Presse
vorgeworfen wurde, den Fall übertrieben dargestellt zu haben: „Religiös
bedingte Auseinandersetzungen“ könne es ja „zwischen Juden und Arabern“
geben, schließlich gebe es im Nahen Osten den einschlägigen Konflikt, warum
also nicht in Berlin-Friedenau.
Es gibt schlimmere Nachrichten als diesen einen Fall. Und die lauten:
Dieser Fall ist längst Alltag. Friedenau ist überall! Seit Monaten, ja
schon Jahren erreichen uns Berichte über die Zustände an deutschen Schulen:
„Jude“ als Schimpfwort auf den Schulhöfen, Schüler, die sich weigern, üb…
den Holocaust zu lernen, jüdische Lehrerinnen, die von Schülern
antisemitisch terrorisiert werden.
Mag sein, dass einiges davon unbestätigt bleibt, mag sein, dass einiges
pubertäres Gehabe oder Provokationen sind, die sich nicht gegen konkrete
Juden richten. Doch welche Antworten haben wir an eine Mutter, die ihrem
jüdischen Sohn beigebracht hatte, sich in Deutschland nicht, wie seine
Großeltern, seiner Herkunft wegen zu fürchten, und der sie fragt, warum
andere einander „Jude“ schimpfen?
## Antisemitismus ist Gesinnung und Verhalten zugleich
Unsere Antwort kann nicht darin bestehen, dass jüdische Kinder wieder
lernen, ihre Identität zu verstecken. Unsere Antwort kann sich nicht in der
Empfehlung erschöpfen, dass jüdische Eltern ihre Kinder auf andere,
jüdische oder private, Schulen ummelden. Das sind keine Antworten, sondern
Zeichen unseres gemeinschaftlichen Versagens.
Vielerorts wird an nachhaltigen Konzepten gefeilt, um des Problems
Antisemitismus auf den Schulen langfristig Herr zu werden. Doch
„langfristig“ ist viel zu spät! Antisemitismus ist Gesinnung und Verhalten
zugleich. Gesinnung zu ändern, braucht Zeit. Verhaltensänderung muss sofort
passieren.
Gerade im Moment der kulturellen Transformation unserer Gesellschaft ist es
wichtig, mit aller erzieherischen, notfalls rechtlichen Härte zu reagieren,
und zwar sofort, nicht um zu bestrafen, sondern um klare Regeln zu
verdeutlichen. Nur so lassen sich eine Ausbreitung und eine Normalisierung
antisemitischer Verhaltensmuster stoppen.
Wichtig ist auch: Antisemitische Angriffe dürfen weder als Auswüchse der
neuen Vielfalt noch als Folgen politischer Konflikte abgetan werden. Der
Konsens unserer Gesellschaft, wonach Antisemitismus unter keinem Vorzeichen
akzeptabel bleibt, darf nicht aufgeweicht werden.
## Ausbruch aus der Komfortzone
Das wird nicht gehen, ohne dass die Mehrheitsgesellschaft sich mit
jüdischen Kindern und ihren Eltern bedingungslos solidarisiert. Diese
Solidarisierung könnte einigen von uns abverlangen, aus der Komfortzone des
guten Multikultigewissens auszubrechen, um Position zu beziehen. Doch
denen, die einen Konflikt zwischen der eigenen Willkommenskultur und klaren
Ansagen gegen Antisemitismus und andere Formen der Intoleranz sehen, sei
gesagt: Das eine widerspricht dem anderen nicht.
Umgekehrt: Nur wer kurzfristig klare Ansagen für ein gutes Zusammenleben
zwischen verschiedenen Minderheiten und Mehrheiten macht, kann langfristig
eine funktionierende Vielfaltsgesellschaft erwarten. Besorgten Eltern, die
eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus der Schüler als übertriebene
Stimmungsmache betrachten, könnte man sagen: Sehen Sie es als eine Übung im
zivilgesellschaftlichen Widerstand für sich und ihre Kinder.
Angesichts der antisemitischen Übergriffe der Schüler geht es nicht um
Antisemitismus des schulischen Umfelds, sehr wohl aber um unser aller
Unbeholfenheit, Antisemitismus zu erkennen und wirksam zu begegnen. Es geht
um unser vielfaches Versagen, Kinder zu schützen, die Schutz und
Solidarität brauchen, weil sie das sind, was sie sind – Juden.
12 May 2017
## LINKS
[1] /Antisemitismus-an-Berliner-Schule/!5393958
## AUTOREN
Sergey Lagodinsky
## TAGS
Antisemitismus
Schule
Holocaust-Gedenktag
Antisemitismus
Schwerpunkt Rassismus
Antisemitismus
Fifa
Mannheim
Leitkultur
Rechtspopulismus
Benjamin Netanjahu
Antisemitismus
Antisemitismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Regisseur Leo Khasin über Antisemitismus: „Als wäre ‚Jude‘ ein Schimpfw…
Die Leute tänzeln um das Wort „jüdisch“ herum, sagt Regisseur und Autor L…
Khasin. Im Film „Das Unwort“ zeigt er die Hilflosigkeit der Gesellschaft.
Kongress Antisemitismus an Schulen: Allen Grund zum Nachsitzen
Viele Lehrer wissen nicht, wie sie reagieren sollen, wenn jüdische
SchülerInnen diskriminiert werden. Berlin will Präventionsarbeit nun mit
einem festen Etat fördern.
Streit um abgelehnten Dokumentarfilm: Arte und sein Antisemitismusproblem
Eine Dokumentation belegt aktuellen Antisemitismus – und wird dann von der
auftraggebenden Arte-Redaktion nicht freigegeben. Dort rechtfertigt man
sich.
Kolumne Über Ball und die Welt: Antisemitismus, na und?
Palästinensische Fußballvereine wollen jüdische „Siedlerclubs“ aus der F…
werfen lassen. Doch der Verband enthält sich.
Xavier Naidoo und der „Söhne“-Song: Alles nur ein Missverständnis
Der Sänger hat den oberbürgermeisterlichen Demokratietest bestanden. Er
darf weiter antisemitische Verschwörungstheorien trällern.
Streit um Leitkultur-Begriff: Gegen die deutsche Einheit
Thomas de Maizière vertritt die Idee einer Leitkultur. Drei junge, jüdische
Autor*innen verwahren sich dagegen.
Debatte Rechtspopulismus in Europa: Jeder kann etwas dagegen tun
Konfrontation im Netz: Wie ein slowakischer Rentner Rechtsextreme im
Internet an den Pranger stellt und zur Weißglut treibt.
Kolumne German Angst: Die vielen Opfer des Holocausts
Benjamin Netanjahu hat Sigmar Gabriel nicht empfangen. Das kann der
deutsche Außenminister so nicht auf sich sitzen lassen.
Grabschändung in Bremen: Schmierende Antisemiten
Auf dem alten jüdischen Friedhof wurde am israelischen Holocaust-Gedenktag
ein Grab mit einem Hakenkreuz beschmiert. Jetzt ermittelt der Staatsschutz
Expertenbericht für den Bundestag: Alltäglicher Antisemitismus nimmt zu
Der vom Bundestag eingesetzte Expertenkreis hat einen neuen
Antisemitismusbericht vorgestellt. Wichtig ist, dass echte Konsequenzen
gezogen werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.